Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

gelehrte deutsche Welt bemächtigte sich seiner Forschungen, es erwuchsen dem
schottischen Professor zahllose Nachfolger, die seine Gedanken weiter entwickelten
und in ein vollständiges "System" der Staatswissenschaft brachten, das fast
seit hundert Jahren alle Hörsäle, alle Regierungsbüreaus, alle denkenden Köpfe
beherrscht. Der Stein der Weisen war gefunden, das Rezept reich zu werden
entdeckt, und dabei war es so einfach und faßlich, daß es jeder Handlnngskommis
begreifen konnte. Denn zur irdischen Glückseligkeit gehörte ja weiter nichts,
als daß man alle bisherigen Schranken der Erwerbsthätigkeit für den Einzelnen
wie für die Nationen beseitigte, dann mußten "aus der freien Bewegung der
wirtschaftlichen Kräfte der Menschheit ungeahnte Reichtümer zufließe" und das
verlorene Eden von selbst wieder entstehen." Was Wunder, daß man in allen
Kulturstaaten daran ging, die bestehende Organisation der Arbeit niederzu¬
reißen, die Völker zu "befreien" und ein allgemeines Wettringen der Völker
und der Einzelnen anzufachen! Begünstigt durch die Entdeckung der Kohle,
des Dampfes und der Elektrizität brach so der Tanz um das goldne Kalb
aus. Die Fabriken schössen wie Pilze aus der Erde, jeder wollte den andern
übertrumpfen. Es wurden Gütermassen erzeugt, in deren Bewunderung und
Anstannnng sich der öffentliche Geist berauschte. Aber der vcrsprochne allge¬
meine Reichtum blieb aus. Statt des verheißnen Glückes verfiel die Masse
des Volkes in Elend und Abhängigkeit so menschenunwürdiger Art, wie sie
die Weltgeschichte bisher kaum gekannt hatte. Nur wenigen Glücklichen gelang
es, das Fett von der Suppe für sich abzuschöpfen und aus der Verarmung
der Massen unerhörte Reichtümer für sich selbst anzuhäufen. Der Krach konnte
nicht ausbleiben, denn die Sandhase Lehre über den Reichtum der Nationen
hatte eben ein großes Loch, das mau in dem allgemeinen Taumel übersehen
hatte. Sie beruhte auf der Voraussetzung eines allgemeinen, unbegrenzten
Weltmarktes, der die maßlos gesteigerte Produktion stets willig aufnehmen
und gewinnbringend bezahlen könne. England hatte diesen Weltmarkt seiner
Zeit in seinen großartigen Kolonien, namentlich in Indien mit feinen zwei¬
hundert Millionen reichen und verbranchssüchtigen Einwohnern. Deutschland
hat ihn nie gehabt und hat nur zeitweise kleine Teile des Weltmarktes für
sich auszubeuten verstanden. Heute hat auch das aufgehört, nachdem Amerika
sich selbst zu einem Industriestaat ersten Ranges entwickelt hat, der die deutsche
Arbeit selbst im Inlande immer mehr zu überflügeln droht. Unsre Handlungs¬
reisender sind heute schon genötigt, mit ihren Waren die entlegensten, kleinsten
wilden Stämme aufzusuchen, um einige Ellen Baumwollzeug los zu werden.
Aber auch das wird unmöglich sein, wenn erst Indien, China, Japan mit
ihren unzähligen Arbeitermassen in die Reihen der Industriestaaten eingetreten
sind, eine Entwicklung, die sich mit Windeseile vor unsern Augen vollzieht.

Was dann? Dann werden allen Deutschen die Augen darüber aufgehen,
daß unsre gerühmte Nationalökonomie mir eine interuntivunle Wissenschaft


Greu^toten et IttW 14
Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

gelehrte deutsche Welt bemächtigte sich seiner Forschungen, es erwuchsen dem
schottischen Professor zahllose Nachfolger, die seine Gedanken weiter entwickelten
und in ein vollständiges „System" der Staatswissenschaft brachten, das fast
seit hundert Jahren alle Hörsäle, alle Regierungsbüreaus, alle denkenden Köpfe
beherrscht. Der Stein der Weisen war gefunden, das Rezept reich zu werden
entdeckt, und dabei war es so einfach und faßlich, daß es jeder Handlnngskommis
begreifen konnte. Denn zur irdischen Glückseligkeit gehörte ja weiter nichts,
als daß man alle bisherigen Schranken der Erwerbsthätigkeit für den Einzelnen
wie für die Nationen beseitigte, dann mußten „aus der freien Bewegung der
wirtschaftlichen Kräfte der Menschheit ungeahnte Reichtümer zufließe» und das
verlorene Eden von selbst wieder entstehen." Was Wunder, daß man in allen
Kulturstaaten daran ging, die bestehende Organisation der Arbeit niederzu¬
reißen, die Völker zu „befreien" und ein allgemeines Wettringen der Völker
und der Einzelnen anzufachen! Begünstigt durch die Entdeckung der Kohle,
des Dampfes und der Elektrizität brach so der Tanz um das goldne Kalb
aus. Die Fabriken schössen wie Pilze aus der Erde, jeder wollte den andern
übertrumpfen. Es wurden Gütermassen erzeugt, in deren Bewunderung und
Anstannnng sich der öffentliche Geist berauschte. Aber der vcrsprochne allge¬
meine Reichtum blieb aus. Statt des verheißnen Glückes verfiel die Masse
des Volkes in Elend und Abhängigkeit so menschenunwürdiger Art, wie sie
die Weltgeschichte bisher kaum gekannt hatte. Nur wenigen Glücklichen gelang
es, das Fett von der Suppe für sich abzuschöpfen und aus der Verarmung
der Massen unerhörte Reichtümer für sich selbst anzuhäufen. Der Krach konnte
nicht ausbleiben, denn die Sandhase Lehre über den Reichtum der Nationen
hatte eben ein großes Loch, das mau in dem allgemeinen Taumel übersehen
hatte. Sie beruhte auf der Voraussetzung eines allgemeinen, unbegrenzten
Weltmarktes, der die maßlos gesteigerte Produktion stets willig aufnehmen
und gewinnbringend bezahlen könne. England hatte diesen Weltmarkt seiner
Zeit in seinen großartigen Kolonien, namentlich in Indien mit feinen zwei¬
hundert Millionen reichen und verbranchssüchtigen Einwohnern. Deutschland
hat ihn nie gehabt und hat nur zeitweise kleine Teile des Weltmarktes für
sich auszubeuten verstanden. Heute hat auch das aufgehört, nachdem Amerika
sich selbst zu einem Industriestaat ersten Ranges entwickelt hat, der die deutsche
Arbeit selbst im Inlande immer mehr zu überflügeln droht. Unsre Handlungs¬
reisender sind heute schon genötigt, mit ihren Waren die entlegensten, kleinsten
wilden Stämme aufzusuchen, um einige Ellen Baumwollzeug los zu werden.
Aber auch das wird unmöglich sein, wenn erst Indien, China, Japan mit
ihren unzähligen Arbeitermassen in die Reihen der Industriestaaten eingetreten
sind, eine Entwicklung, die sich mit Windeseile vor unsern Augen vollzieht.

Was dann? Dann werden allen Deutschen die Augen darüber aufgehen,
daß unsre gerühmte Nationalökonomie mir eine interuntivunle Wissenschaft


Greu^toten et IttW 14
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214571"/>
          <fw type="header" place="top"> Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_430" prev="#ID_429"> gelehrte deutsche Welt bemächtigte sich seiner Forschungen, es erwuchsen dem<lb/>
schottischen Professor zahllose Nachfolger, die seine Gedanken weiter entwickelten<lb/>
und in ein vollständiges &#x201E;System" der Staatswissenschaft brachten, das fast<lb/>
seit hundert Jahren alle Hörsäle, alle Regierungsbüreaus, alle denkenden Köpfe<lb/>
beherrscht. Der Stein der Weisen war gefunden, das Rezept reich zu werden<lb/>
entdeckt, und dabei war es so einfach und faßlich, daß es jeder Handlnngskommis<lb/>
begreifen konnte.  Denn zur irdischen Glückseligkeit gehörte ja weiter nichts,<lb/>
als daß man alle bisherigen Schranken der Erwerbsthätigkeit für den Einzelnen<lb/>
wie für die Nationen beseitigte, dann mußten &#x201E;aus der freien Bewegung der<lb/>
wirtschaftlichen Kräfte der Menschheit ungeahnte Reichtümer zufließe» und das<lb/>
verlorene Eden von selbst wieder entstehen." Was Wunder, daß man in allen<lb/>
Kulturstaaten daran ging, die bestehende Organisation der Arbeit niederzu¬<lb/>
reißen, die Völker zu &#x201E;befreien" und ein allgemeines Wettringen der Völker<lb/>
und der Einzelnen anzufachen! Begünstigt durch die Entdeckung der Kohle,<lb/>
des Dampfes und der Elektrizität brach so der Tanz um das goldne Kalb<lb/>
aus. Die Fabriken schössen wie Pilze aus der Erde, jeder wollte den andern<lb/>
übertrumpfen.  Es wurden Gütermassen erzeugt, in deren Bewunderung und<lb/>
Anstannnng sich der öffentliche Geist berauschte.  Aber der vcrsprochne allge¬<lb/>
meine Reichtum blieb aus.  Statt des verheißnen Glückes verfiel die Masse<lb/>
des Volkes in Elend und Abhängigkeit so menschenunwürdiger Art, wie sie<lb/>
die Weltgeschichte bisher kaum gekannt hatte. Nur wenigen Glücklichen gelang<lb/>
es, das Fett von der Suppe für sich abzuschöpfen und aus der Verarmung<lb/>
der Massen unerhörte Reichtümer für sich selbst anzuhäufen. Der Krach konnte<lb/>
nicht ausbleiben, denn die Sandhase Lehre über den Reichtum der Nationen<lb/>
hatte eben ein großes Loch, das mau in dem allgemeinen Taumel übersehen<lb/>
hatte.  Sie beruhte auf der Voraussetzung eines allgemeinen, unbegrenzten<lb/>
Weltmarktes, der die maßlos gesteigerte Produktion stets willig aufnehmen<lb/>
und gewinnbringend bezahlen könne.  England hatte diesen Weltmarkt seiner<lb/>
Zeit in seinen großartigen Kolonien, namentlich in Indien mit feinen zwei¬<lb/>
hundert Millionen reichen und verbranchssüchtigen Einwohnern. Deutschland<lb/>
hat ihn nie gehabt und hat nur zeitweise kleine Teile des Weltmarktes für<lb/>
sich auszubeuten verstanden. Heute hat auch das aufgehört, nachdem Amerika<lb/>
sich selbst zu einem Industriestaat ersten Ranges entwickelt hat, der die deutsche<lb/>
Arbeit selbst im Inlande immer mehr zu überflügeln droht. Unsre Handlungs¬<lb/>
reisender sind heute schon genötigt, mit ihren Waren die entlegensten, kleinsten<lb/>
wilden Stämme aufzusuchen, um einige Ellen Baumwollzeug los zu werden.<lb/>
Aber auch das wird unmöglich sein, wenn erst Indien, China, Japan mit<lb/>
ihren unzähligen Arbeitermassen in die Reihen der Industriestaaten eingetreten<lb/>
sind, eine Entwicklung, die sich mit Windeseile vor unsern Augen vollzieht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_431" next="#ID_432"> Was dann? Dann werden allen Deutschen die Augen darüber aufgehen,<lb/>
daß unsre gerühmte Nationalökonomie mir eine interuntivunle Wissenschaft</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Greu^toten et IttW 14</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0115] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage gelehrte deutsche Welt bemächtigte sich seiner Forschungen, es erwuchsen dem schottischen Professor zahllose Nachfolger, die seine Gedanken weiter entwickelten und in ein vollständiges „System" der Staatswissenschaft brachten, das fast seit hundert Jahren alle Hörsäle, alle Regierungsbüreaus, alle denkenden Köpfe beherrscht. Der Stein der Weisen war gefunden, das Rezept reich zu werden entdeckt, und dabei war es so einfach und faßlich, daß es jeder Handlnngskommis begreifen konnte. Denn zur irdischen Glückseligkeit gehörte ja weiter nichts, als daß man alle bisherigen Schranken der Erwerbsthätigkeit für den Einzelnen wie für die Nationen beseitigte, dann mußten „aus der freien Bewegung der wirtschaftlichen Kräfte der Menschheit ungeahnte Reichtümer zufließe» und das verlorene Eden von selbst wieder entstehen." Was Wunder, daß man in allen Kulturstaaten daran ging, die bestehende Organisation der Arbeit niederzu¬ reißen, die Völker zu „befreien" und ein allgemeines Wettringen der Völker und der Einzelnen anzufachen! Begünstigt durch die Entdeckung der Kohle, des Dampfes und der Elektrizität brach so der Tanz um das goldne Kalb aus. Die Fabriken schössen wie Pilze aus der Erde, jeder wollte den andern übertrumpfen. Es wurden Gütermassen erzeugt, in deren Bewunderung und Anstannnng sich der öffentliche Geist berauschte. Aber der vcrsprochne allge¬ meine Reichtum blieb aus. Statt des verheißnen Glückes verfiel die Masse des Volkes in Elend und Abhängigkeit so menschenunwürdiger Art, wie sie die Weltgeschichte bisher kaum gekannt hatte. Nur wenigen Glücklichen gelang es, das Fett von der Suppe für sich abzuschöpfen und aus der Verarmung der Massen unerhörte Reichtümer für sich selbst anzuhäufen. Der Krach konnte nicht ausbleiben, denn die Sandhase Lehre über den Reichtum der Nationen hatte eben ein großes Loch, das mau in dem allgemeinen Taumel übersehen hatte. Sie beruhte auf der Voraussetzung eines allgemeinen, unbegrenzten Weltmarktes, der die maßlos gesteigerte Produktion stets willig aufnehmen und gewinnbringend bezahlen könne. England hatte diesen Weltmarkt seiner Zeit in seinen großartigen Kolonien, namentlich in Indien mit feinen zwei¬ hundert Millionen reichen und verbranchssüchtigen Einwohnern. Deutschland hat ihn nie gehabt und hat nur zeitweise kleine Teile des Weltmarktes für sich auszubeuten verstanden. Heute hat auch das aufgehört, nachdem Amerika sich selbst zu einem Industriestaat ersten Ranges entwickelt hat, der die deutsche Arbeit selbst im Inlande immer mehr zu überflügeln droht. Unsre Handlungs¬ reisender sind heute schon genötigt, mit ihren Waren die entlegensten, kleinsten wilden Stämme aufzusuchen, um einige Ellen Baumwollzeug los zu werden. Aber auch das wird unmöglich sein, wenn erst Indien, China, Japan mit ihren unzähligen Arbeitermassen in die Reihen der Industriestaaten eingetreten sind, eine Entwicklung, die sich mit Windeseile vor unsern Augen vollzieht. Was dann? Dann werden allen Deutschen die Augen darüber aufgehen, daß unsre gerühmte Nationalökonomie mir eine interuntivunle Wissenschaft Greu^toten et IttW 14

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/115
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/115>, abgerufen am 03.07.2024.