Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

Parlamenten und Regierungsbüreaus noch heute herrschende blinde Verehrung
der ..Nährmutter" richten, aus der sie entstanden ist. Dort ist der Sitz des
Übels. Die Priester dieser unheilvollen Göttin finden sich in allen Klassen
und Ständen. Die Sozialdemokratie hat das Verdienst, sie zuerst erkannt
und wissenschaftlich gewürdigt zu haben, als die andern Gesellschaftsklassen
noch in stummer Verehrung der Göttin befangen waren. Heute beginnt es
aber auch in den übrigen Gesellschaftsklassen allmählich zu dämmern. Der
Antisemitismus ist nichts andres, als die notwendige Reaktion des Mittel¬
standes gegen die Verheerungen, die die Anbetung des goldnen Kalbes in
seinen Reihen erzeugt hat, sonst hätte der Antisemitismus keinen Sinn und
keine Bedeutung. Das Agrariertum, die neue Vereinigung aller Landwirte
zu einem Bunde der Aktion ist gleichfalls nur ein Protest, ein Entrüstungs¬
schrei der infolge der einseitigen Bevorzugung des Kapitals jetzt um ihr
Dasein ringenden deutschen laudbautreibeuden Bevölkerung. Gewiß liegt in
diesem Aufschrei ein sozialistischer, ein demagogischer Gedanke. Dies sollte
aber jeden denkenden Staatsmann zu einer ernsten Würdigung veranlassen
und ihn davor warnen, die Bewegung durch Mißachtung und oberflächliche
Beurteilung zu verbittern und zu verschärfen. Denn alle sozialen Revolutionen,
die die Geschichte der Menschheit bisher verzeichnet hat, waren agrarischer
Natur, und nichts konnte die wirtschaftlichen Zustände Deutschlands hoffnungs¬
loser machen, als wenn sich zu der sozialdemokratischen Bewegung noch ernste
agrarische Schwierigkeiten gesellten. Daß die berüchtigte Geduld des deutschen
Bauernstandes nur bis zu einer gewissen Grenze reicht, hat der deutsche Bauern¬
krieg mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt und damit zugleich die Möglichkeit
ähnlicher Bewegungen dargethan. Wir sind sogar der Meinung, daß kein Stand
geistig zum Anschluß an umstürzende Ideen mehr geeignet und vorbereitet
sei, als gerade der deutsche Bauernstand mit seinem Mißtrauen gegen alles
Fremde und dem starken Egoismus, die seine Hauptcharaktereigenschafte" sind.

Also nochmals: wer den Sozialismus bekämpfen, ernstlich bekämpfen will,
der muß vor allen Dingen Front machen gegen die einseitige Bevorzugung
von Kapitalismus und Industrialismus, deren sich unsre bisherige Politik
überall schuldig gemacht hat.

Dieser Irrtum ist entstanden wie die meisten großen Irrtümer in Deutsch¬
land entstehen durch die blinde Unterwerfung unter das, was wir Deutschen
"Wissenschaft" nennen. Selbst Herr Bebel läßt seine Thorheiten unter der Ne-
klameaufschrift "Neueste Resultate der Wissenschaft" kolportiren, da er recht gilt
weiß, daß der bildungssüchtige Deutsche blind auf deu Leim geht, wenn ihm
jemand mit der "Wissenschaft" kommt. Als der Schotte Adam Smith seine
genialen Untersuchungen über die Ursachen des Reichtums der Nationen schrieb,
geriet der gebildete Deutsche sofort in höchste Begeisterung, ohne zu bedenken,
daß das Buch nur Abstraktionen des englischen Wirtschaftslebens enthielt. Die


Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

Parlamenten und Regierungsbüreaus noch heute herrschende blinde Verehrung
der ..Nährmutter" richten, aus der sie entstanden ist. Dort ist der Sitz des
Übels. Die Priester dieser unheilvollen Göttin finden sich in allen Klassen
und Ständen. Die Sozialdemokratie hat das Verdienst, sie zuerst erkannt
und wissenschaftlich gewürdigt zu haben, als die andern Gesellschaftsklassen
noch in stummer Verehrung der Göttin befangen waren. Heute beginnt es
aber auch in den übrigen Gesellschaftsklassen allmählich zu dämmern. Der
Antisemitismus ist nichts andres, als die notwendige Reaktion des Mittel¬
standes gegen die Verheerungen, die die Anbetung des goldnen Kalbes in
seinen Reihen erzeugt hat, sonst hätte der Antisemitismus keinen Sinn und
keine Bedeutung. Das Agrariertum, die neue Vereinigung aller Landwirte
zu einem Bunde der Aktion ist gleichfalls nur ein Protest, ein Entrüstungs¬
schrei der infolge der einseitigen Bevorzugung des Kapitals jetzt um ihr
Dasein ringenden deutschen laudbautreibeuden Bevölkerung. Gewiß liegt in
diesem Aufschrei ein sozialistischer, ein demagogischer Gedanke. Dies sollte
aber jeden denkenden Staatsmann zu einer ernsten Würdigung veranlassen
und ihn davor warnen, die Bewegung durch Mißachtung und oberflächliche
Beurteilung zu verbittern und zu verschärfen. Denn alle sozialen Revolutionen,
die die Geschichte der Menschheit bisher verzeichnet hat, waren agrarischer
Natur, und nichts konnte die wirtschaftlichen Zustände Deutschlands hoffnungs¬
loser machen, als wenn sich zu der sozialdemokratischen Bewegung noch ernste
agrarische Schwierigkeiten gesellten. Daß die berüchtigte Geduld des deutschen
Bauernstandes nur bis zu einer gewissen Grenze reicht, hat der deutsche Bauern¬
krieg mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt und damit zugleich die Möglichkeit
ähnlicher Bewegungen dargethan. Wir sind sogar der Meinung, daß kein Stand
geistig zum Anschluß an umstürzende Ideen mehr geeignet und vorbereitet
sei, als gerade der deutsche Bauernstand mit seinem Mißtrauen gegen alles
Fremde und dem starken Egoismus, die seine Hauptcharaktereigenschafte» sind.

Also nochmals: wer den Sozialismus bekämpfen, ernstlich bekämpfen will,
der muß vor allen Dingen Front machen gegen die einseitige Bevorzugung
von Kapitalismus und Industrialismus, deren sich unsre bisherige Politik
überall schuldig gemacht hat.

Dieser Irrtum ist entstanden wie die meisten großen Irrtümer in Deutsch¬
land entstehen durch die blinde Unterwerfung unter das, was wir Deutschen
„Wissenschaft" nennen. Selbst Herr Bebel läßt seine Thorheiten unter der Ne-
klameaufschrift „Neueste Resultate der Wissenschaft" kolportiren, da er recht gilt
weiß, daß der bildungssüchtige Deutsche blind auf deu Leim geht, wenn ihm
jemand mit der „Wissenschaft" kommt. Als der Schotte Adam Smith seine
genialen Untersuchungen über die Ursachen des Reichtums der Nationen schrieb,
geriet der gebildete Deutsche sofort in höchste Begeisterung, ohne zu bedenken,
daß das Buch nur Abstraktionen des englischen Wirtschaftslebens enthielt. Die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0114" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214570"/>
          <fw type="header" place="top"> Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_427" prev="#ID_426"> Parlamenten und Regierungsbüreaus noch heute herrschende blinde Verehrung<lb/>
der ..Nährmutter" richten, aus der sie entstanden ist. Dort ist der Sitz des<lb/>
Übels. Die Priester dieser unheilvollen Göttin finden sich in allen Klassen<lb/>
und Ständen. Die Sozialdemokratie hat das Verdienst, sie zuerst erkannt<lb/>
und wissenschaftlich gewürdigt zu haben, als die andern Gesellschaftsklassen<lb/>
noch in stummer Verehrung der Göttin befangen waren. Heute beginnt es<lb/>
aber auch in den übrigen Gesellschaftsklassen allmählich zu dämmern. Der<lb/>
Antisemitismus ist nichts andres, als die notwendige Reaktion des Mittel¬<lb/>
standes gegen die Verheerungen, die die Anbetung des goldnen Kalbes in<lb/>
seinen Reihen erzeugt hat, sonst hätte der Antisemitismus keinen Sinn und<lb/>
keine Bedeutung. Das Agrariertum, die neue Vereinigung aller Landwirte<lb/>
zu einem Bunde der Aktion ist gleichfalls nur ein Protest, ein Entrüstungs¬<lb/>
schrei der infolge der einseitigen Bevorzugung des Kapitals jetzt um ihr<lb/>
Dasein ringenden deutschen laudbautreibeuden Bevölkerung. Gewiß liegt in<lb/>
diesem Aufschrei ein sozialistischer, ein demagogischer Gedanke. Dies sollte<lb/>
aber jeden denkenden Staatsmann zu einer ernsten Würdigung veranlassen<lb/>
und ihn davor warnen, die Bewegung durch Mißachtung und oberflächliche<lb/>
Beurteilung zu verbittern und zu verschärfen. Denn alle sozialen Revolutionen,<lb/>
die die Geschichte der Menschheit bisher verzeichnet hat, waren agrarischer<lb/>
Natur, und nichts konnte die wirtschaftlichen Zustände Deutschlands hoffnungs¬<lb/>
loser machen, als wenn sich zu der sozialdemokratischen Bewegung noch ernste<lb/>
agrarische Schwierigkeiten gesellten. Daß die berüchtigte Geduld des deutschen<lb/>
Bauernstandes nur bis zu einer gewissen Grenze reicht, hat der deutsche Bauern¬<lb/>
krieg mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt und damit zugleich die Möglichkeit<lb/>
ähnlicher Bewegungen dargethan. Wir sind sogar der Meinung, daß kein Stand<lb/>
geistig zum Anschluß an umstürzende Ideen mehr geeignet und vorbereitet<lb/>
sei, als gerade der deutsche Bauernstand mit seinem Mißtrauen gegen alles<lb/>
Fremde und dem starken Egoismus, die seine Hauptcharaktereigenschafte» sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_428"> Also nochmals: wer den Sozialismus bekämpfen, ernstlich bekämpfen will,<lb/>
der muß vor allen Dingen Front machen gegen die einseitige Bevorzugung<lb/>
von Kapitalismus und Industrialismus, deren sich unsre bisherige Politik<lb/>
überall schuldig gemacht hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_429" next="#ID_430"> Dieser Irrtum ist entstanden wie die meisten großen Irrtümer in Deutsch¬<lb/>
land entstehen durch die blinde Unterwerfung unter das, was wir Deutschen<lb/>
&#x201E;Wissenschaft" nennen. Selbst Herr Bebel läßt seine Thorheiten unter der Ne-<lb/>
klameaufschrift &#x201E;Neueste Resultate der Wissenschaft" kolportiren, da er recht gilt<lb/>
weiß, daß der bildungssüchtige Deutsche blind auf deu Leim geht, wenn ihm<lb/>
jemand mit der &#x201E;Wissenschaft" kommt. Als der Schotte Adam Smith seine<lb/>
genialen Untersuchungen über die Ursachen des Reichtums der Nationen schrieb,<lb/>
geriet der gebildete Deutsche sofort in höchste Begeisterung, ohne zu bedenken,<lb/>
daß das Buch nur Abstraktionen des englischen Wirtschaftslebens enthielt. Die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0114] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage Parlamenten und Regierungsbüreaus noch heute herrschende blinde Verehrung der ..Nährmutter" richten, aus der sie entstanden ist. Dort ist der Sitz des Übels. Die Priester dieser unheilvollen Göttin finden sich in allen Klassen und Ständen. Die Sozialdemokratie hat das Verdienst, sie zuerst erkannt und wissenschaftlich gewürdigt zu haben, als die andern Gesellschaftsklassen noch in stummer Verehrung der Göttin befangen waren. Heute beginnt es aber auch in den übrigen Gesellschaftsklassen allmählich zu dämmern. Der Antisemitismus ist nichts andres, als die notwendige Reaktion des Mittel¬ standes gegen die Verheerungen, die die Anbetung des goldnen Kalbes in seinen Reihen erzeugt hat, sonst hätte der Antisemitismus keinen Sinn und keine Bedeutung. Das Agrariertum, die neue Vereinigung aller Landwirte zu einem Bunde der Aktion ist gleichfalls nur ein Protest, ein Entrüstungs¬ schrei der infolge der einseitigen Bevorzugung des Kapitals jetzt um ihr Dasein ringenden deutschen laudbautreibeuden Bevölkerung. Gewiß liegt in diesem Aufschrei ein sozialistischer, ein demagogischer Gedanke. Dies sollte aber jeden denkenden Staatsmann zu einer ernsten Würdigung veranlassen und ihn davor warnen, die Bewegung durch Mißachtung und oberflächliche Beurteilung zu verbittern und zu verschärfen. Denn alle sozialen Revolutionen, die die Geschichte der Menschheit bisher verzeichnet hat, waren agrarischer Natur, und nichts konnte die wirtschaftlichen Zustände Deutschlands hoffnungs¬ loser machen, als wenn sich zu der sozialdemokratischen Bewegung noch ernste agrarische Schwierigkeiten gesellten. Daß die berüchtigte Geduld des deutschen Bauernstandes nur bis zu einer gewissen Grenze reicht, hat der deutsche Bauern¬ krieg mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt und damit zugleich die Möglichkeit ähnlicher Bewegungen dargethan. Wir sind sogar der Meinung, daß kein Stand geistig zum Anschluß an umstürzende Ideen mehr geeignet und vorbereitet sei, als gerade der deutsche Bauernstand mit seinem Mißtrauen gegen alles Fremde und dem starken Egoismus, die seine Hauptcharaktereigenschafte» sind. Also nochmals: wer den Sozialismus bekämpfen, ernstlich bekämpfen will, der muß vor allen Dingen Front machen gegen die einseitige Bevorzugung von Kapitalismus und Industrialismus, deren sich unsre bisherige Politik überall schuldig gemacht hat. Dieser Irrtum ist entstanden wie die meisten großen Irrtümer in Deutsch¬ land entstehen durch die blinde Unterwerfung unter das, was wir Deutschen „Wissenschaft" nennen. Selbst Herr Bebel läßt seine Thorheiten unter der Ne- klameaufschrift „Neueste Resultate der Wissenschaft" kolportiren, da er recht gilt weiß, daß der bildungssüchtige Deutsche blind auf deu Leim geht, wenn ihm jemand mit der „Wissenschaft" kommt. Als der Schotte Adam Smith seine genialen Untersuchungen über die Ursachen des Reichtums der Nationen schrieb, geriet der gebildete Deutsche sofort in höchste Begeisterung, ohne zu bedenken, daß das Buch nur Abstraktionen des englischen Wirtschaftslebens enthielt. Die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/114
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/114>, abgerufen am 23.07.2024.