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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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Rückblicke "ut Ausblicke auf die soziale Frage

war, beiß wir unser eignes Glück zerstört haben, um fremde Nationen zu be¬
reichern und mit den zweifelhaften Vorzügen des modernen Wirtschaftslebens
zu beglücken. Vor diesem Ende mit Schrecken sind wir unmittelbar angelangt.
Wenn wir den äußersten Folgen dieser Lage entgehen wollen, so bleibt nur
ein Mittel übrig: wir müssen anfangen, das zu treiben, was wir niemals
hätten unterlassen sollen, eine wahrhaft deutsche, nationale Wirtschaftspolitik.
So selbstverständlich das ist, so wenig ist es bisher verstanden worden.

Die nächste und höchste Ausgabe einer nationalen Politik sehen wir darin,
das eigne Land nicht bloß politisch, sondern vor allen Dingen wirtschaftlich
unabhängig von seinen Nachbarn zu machen, unabhängig vor allem in der
Erzeugung aller für die eigne Existenz unentbehrlichen Gegenstände. Wie
hat Deutschland diese Aufgabe bisher gelöst? Unsre Einfuhrstatistik giebt
hierauf eine schreckenerregende Autwort. Wir sind augenblicklich uicht im¬
stande, auch nur drei Vierteile der Bevölkerung mit Fleisch und Brot zu ver¬
sorgen, obwohl ganze Königreiche in Deutschland brach liegen und bei rich¬
tiger Kultur vielleicht die doppelte Bevölkerung ernähren könnten! Schon
dieser unser normale Zustand erschwert, wie das Jahr 1891 gezeigt hat, wenn
schlechte Ernte und industrielle Absatzstockungen zusammentreffen, die Ernährung
des Volkes und ruft bedenkliche innere Krisen hervor. Wie würde sich diese
Lage erst gestalten, wenn der offiziös angekündigte Krieg auf zwei Fronten
wirklich ausbräche, der uns zwei Millionen landwirtschaftlicher Arbeiter für die
Einbringung unsrer Ernte entziehen, die Einfuhr ausländischer Getreide- und
Fleischvorräte sofort unterbinden und den Absatz unsrer Hauptindustrien ohne
weiteres lahmlegen würde. Krieg im Osten -- Krieg im Westen! Und im
Innern Arbeitslosigkeit und Hunger, das ist ein Zukunftsbild, das auch den
Mutigsten mit Sorge erfüllen kann. Wir unterlassen es, das Bild weiter
auszumalen; mögen die die Verantwortung übernehmen, die unsre Wirtschafts¬
politik so trefflich geleitet und Deutschland in diese Lage gebracht haben. Wir
verlangen aber für die Zukunft eine wirklich deutschnationale Wirtschaftspolitik,
die uns uicht allem militärisch, sondern vor allen Dingen wirtschaftlich vom
Auslande unabhängig macht.

Dazu bedarf es an erster Stelle einer Umbildung unsrer bisher rein
politischen Volksvertretung im Reichstage zu einer Interessenvertretung.

(Schluß folgt)




Rückblicke »ut Ausblicke auf die soziale Frage

war, beiß wir unser eignes Glück zerstört haben, um fremde Nationen zu be¬
reichern und mit den zweifelhaften Vorzügen des modernen Wirtschaftslebens
zu beglücken. Vor diesem Ende mit Schrecken sind wir unmittelbar angelangt.
Wenn wir den äußersten Folgen dieser Lage entgehen wollen, so bleibt nur
ein Mittel übrig: wir müssen anfangen, das zu treiben, was wir niemals
hätten unterlassen sollen, eine wahrhaft deutsche, nationale Wirtschaftspolitik.
So selbstverständlich das ist, so wenig ist es bisher verstanden worden.

Die nächste und höchste Ausgabe einer nationalen Politik sehen wir darin,
das eigne Land nicht bloß politisch, sondern vor allen Dingen wirtschaftlich
unabhängig von seinen Nachbarn zu machen, unabhängig vor allem in der
Erzeugung aller für die eigne Existenz unentbehrlichen Gegenstände. Wie
hat Deutschland diese Aufgabe bisher gelöst? Unsre Einfuhrstatistik giebt
hierauf eine schreckenerregende Autwort. Wir sind augenblicklich uicht im¬
stande, auch nur drei Vierteile der Bevölkerung mit Fleisch und Brot zu ver¬
sorgen, obwohl ganze Königreiche in Deutschland brach liegen und bei rich¬
tiger Kultur vielleicht die doppelte Bevölkerung ernähren könnten! Schon
dieser unser normale Zustand erschwert, wie das Jahr 1891 gezeigt hat, wenn
schlechte Ernte und industrielle Absatzstockungen zusammentreffen, die Ernährung
des Volkes und ruft bedenkliche innere Krisen hervor. Wie würde sich diese
Lage erst gestalten, wenn der offiziös angekündigte Krieg auf zwei Fronten
wirklich ausbräche, der uns zwei Millionen landwirtschaftlicher Arbeiter für die
Einbringung unsrer Ernte entziehen, die Einfuhr ausländischer Getreide- und
Fleischvorräte sofort unterbinden und den Absatz unsrer Hauptindustrien ohne
weiteres lahmlegen würde. Krieg im Osten — Krieg im Westen! Und im
Innern Arbeitslosigkeit und Hunger, das ist ein Zukunftsbild, das auch den
Mutigsten mit Sorge erfüllen kann. Wir unterlassen es, das Bild weiter
auszumalen; mögen die die Verantwortung übernehmen, die unsre Wirtschafts¬
politik so trefflich geleitet und Deutschland in diese Lage gebracht haben. Wir
verlangen aber für die Zukunft eine wirklich deutschnationale Wirtschaftspolitik,
die uns uicht allem militärisch, sondern vor allen Dingen wirtschaftlich vom
Auslande unabhängig macht.

Dazu bedarf es an erster Stelle einer Umbildung unsrer bisher rein
politischen Volksvertretung im Reichstage zu einer Interessenvertretung.

(Schluß folgt)




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[0116] Rückblicke »ut Ausblicke auf die soziale Frage war, beiß wir unser eignes Glück zerstört haben, um fremde Nationen zu be¬ reichern und mit den zweifelhaften Vorzügen des modernen Wirtschaftslebens zu beglücken. Vor diesem Ende mit Schrecken sind wir unmittelbar angelangt. Wenn wir den äußersten Folgen dieser Lage entgehen wollen, so bleibt nur ein Mittel übrig: wir müssen anfangen, das zu treiben, was wir niemals hätten unterlassen sollen, eine wahrhaft deutsche, nationale Wirtschaftspolitik. So selbstverständlich das ist, so wenig ist es bisher verstanden worden. Die nächste und höchste Ausgabe einer nationalen Politik sehen wir darin, das eigne Land nicht bloß politisch, sondern vor allen Dingen wirtschaftlich unabhängig von seinen Nachbarn zu machen, unabhängig vor allem in der Erzeugung aller für die eigne Existenz unentbehrlichen Gegenstände. Wie hat Deutschland diese Aufgabe bisher gelöst? Unsre Einfuhrstatistik giebt hierauf eine schreckenerregende Autwort. Wir sind augenblicklich uicht im¬ stande, auch nur drei Vierteile der Bevölkerung mit Fleisch und Brot zu ver¬ sorgen, obwohl ganze Königreiche in Deutschland brach liegen und bei rich¬ tiger Kultur vielleicht die doppelte Bevölkerung ernähren könnten! Schon dieser unser normale Zustand erschwert, wie das Jahr 1891 gezeigt hat, wenn schlechte Ernte und industrielle Absatzstockungen zusammentreffen, die Ernährung des Volkes und ruft bedenkliche innere Krisen hervor. Wie würde sich diese Lage erst gestalten, wenn der offiziös angekündigte Krieg auf zwei Fronten wirklich ausbräche, der uns zwei Millionen landwirtschaftlicher Arbeiter für die Einbringung unsrer Ernte entziehen, die Einfuhr ausländischer Getreide- und Fleischvorräte sofort unterbinden und den Absatz unsrer Hauptindustrien ohne weiteres lahmlegen würde. Krieg im Osten — Krieg im Westen! Und im Innern Arbeitslosigkeit und Hunger, das ist ein Zukunftsbild, das auch den Mutigsten mit Sorge erfüllen kann. Wir unterlassen es, das Bild weiter auszumalen; mögen die die Verantwortung übernehmen, die unsre Wirtschafts¬ politik so trefflich geleitet und Deutschland in diese Lage gebracht haben. Wir verlangen aber für die Zukunft eine wirklich deutschnationale Wirtschaftspolitik, die uns uicht allem militärisch, sondern vor allen Dingen wirtschaftlich vom Auslande unabhängig macht. Dazu bedarf es an erster Stelle einer Umbildung unsrer bisher rein politischen Volksvertretung im Reichstage zu einer Interessenvertretung. (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/116>, abgerufen am 01.07.2024.