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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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vergegenwärtige sich nur die Lage. In einer Großstadt ist ein sozialistisches
"Großfeuer" nnsgebrochen. Die Herren Brandstifter sind aus der Brandstätte
anwesend und erfreuen sich an dem entfesselten Element, das ein Haus nach
dem andern ergreift. Vier Spritzen mit ihren Löschmannschaften sind zur
Stelle. Zwischen ihren Führern und den Herren Brandstiftern entspinnt
sich ein Wortgefecht darüber, ob es vernünftig und berechtigt sei, Häuser
niederzubrennen und eine ganze Stadt obdachlos zu mache", ehe man Mittel
und Wege habe, sie glänzender wieder auszubauen, bloß weil in der Stadt
eine Anzahl schlechter Wohnungen vorhanden waren. Fünf Tage währt der
Wortkampf, Hiebe fallen hier und dort, einzelne von den Banditen werden
als tot fortgetragen! Immer neue Redner treten an die Stelle. Das Feuer
wütet unterdessen ungehindert weiter, himmelhoch steigt die Lohe, bis nach
fünftägigen Ringen der Führer einer Spritze erklärt, die Brandstifter könnten
jetzt nicht mehr bestreiten, daß ihr Vorhaben vernunftwidrig und ruchlos sei,
deshalb könnten die Spritzen nun abfahren. Darob allgemeine Zustimmung,
und unter der roten Glut der brennenden Stadt fahren die Spritzenleute nach
Hanse, mit dem Bewußtsein, fünf Tage lang tapfer deklamirt zu haben. Ist
dieser Schluß der parlamentarischen Vertretung einer großen Nation würdig?
Ist der Reichstag ein Saal für Deklamationen über wichtige Zeitfragen? Ist
er uicht vielmehr das wichtigste Organ des Volkes zur Beratung praktischer
Maßregeln auf dem Gebiete der Gesetzgebung und Verwaltung zum Schutz
und zur Förderung der Interessen des Vaterlandes? Ist der Reichstag
dieser seiner Aufgabe wirklich nachgekommen? Hat der Ausgang der Ver¬
handlung auch nur ahnen lassen, daß sich die Mitglieder der ungeheuern Ver¬
antwortung bewußt waren, die sie dem Vaterland überall und nirgends mehr
als der sozialdemokratischen Brandstiftung gegenüber schulden?

Nachdem durch die Debatte das Hohle. Frivole und Verbrecherische der
Svzicildemokratie für jeden, der noch über einen Funken eigner Vernunft und
selbständiger Urteilskraft verfügt, unwiderleglich erwiesen und gleichzeitig all¬
seitig anerkannt war, daß der drohenden Gefahr mit den gewöhnlichen Mitteln
der Abwehr nicht begegnet werden könne, gab es nur einen möglichen Schluß
für die Debatte: Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission
zur Beratung von Vorschlägen zur wirksamen Bekämpfung der Sozialdemokratie!
Das wäre eine würdige Antwort auf Liebknechts Drohungen und Bebels
Faseleien gewesen, wie sie das deutsche Volk von seiner obersten Vertretung
erwarten konnte. Würde im nvrdameriknnischen Repräsentantenhaus oder im
englischen Parlament der Ausgang anders gewesen sein? Kann und darf
sich ein Parlament in der wichtigsten aller Fragen auf theoretische Ausein¬
andersetzungen und Deklamationen beschränken, ohne daß in diesem Verzicht
ans praktische Abhilfe zugleich eine Art Abdankung enthalten wäre? Auf wen
soll denn das deutsche Volk hilfesuchend seine Augen richten, wenn sein Par-


vergegenwärtige sich nur die Lage. In einer Großstadt ist ein sozialistisches
„Großfeuer" nnsgebrochen. Die Herren Brandstifter sind aus der Brandstätte
anwesend und erfreuen sich an dem entfesselten Element, das ein Haus nach
dem andern ergreift. Vier Spritzen mit ihren Löschmannschaften sind zur
Stelle. Zwischen ihren Führern und den Herren Brandstiftern entspinnt
sich ein Wortgefecht darüber, ob es vernünftig und berechtigt sei, Häuser
niederzubrennen und eine ganze Stadt obdachlos zu mache«, ehe man Mittel
und Wege habe, sie glänzender wieder auszubauen, bloß weil in der Stadt
eine Anzahl schlechter Wohnungen vorhanden waren. Fünf Tage währt der
Wortkampf, Hiebe fallen hier und dort, einzelne von den Banditen werden
als tot fortgetragen! Immer neue Redner treten an die Stelle. Das Feuer
wütet unterdessen ungehindert weiter, himmelhoch steigt die Lohe, bis nach
fünftägigen Ringen der Führer einer Spritze erklärt, die Brandstifter könnten
jetzt nicht mehr bestreiten, daß ihr Vorhaben vernunftwidrig und ruchlos sei,
deshalb könnten die Spritzen nun abfahren. Darob allgemeine Zustimmung,
und unter der roten Glut der brennenden Stadt fahren die Spritzenleute nach
Hanse, mit dem Bewußtsein, fünf Tage lang tapfer deklamirt zu haben. Ist
dieser Schluß der parlamentarischen Vertretung einer großen Nation würdig?
Ist der Reichstag ein Saal für Deklamationen über wichtige Zeitfragen? Ist
er uicht vielmehr das wichtigste Organ des Volkes zur Beratung praktischer
Maßregeln auf dem Gebiete der Gesetzgebung und Verwaltung zum Schutz
und zur Förderung der Interessen des Vaterlandes? Ist der Reichstag
dieser seiner Aufgabe wirklich nachgekommen? Hat der Ausgang der Ver¬
handlung auch nur ahnen lassen, daß sich die Mitglieder der ungeheuern Ver¬
antwortung bewußt waren, die sie dem Vaterland überall und nirgends mehr
als der sozialdemokratischen Brandstiftung gegenüber schulden?

Nachdem durch die Debatte das Hohle. Frivole und Verbrecherische der
Svzicildemokratie für jeden, der noch über einen Funken eigner Vernunft und
selbständiger Urteilskraft verfügt, unwiderleglich erwiesen und gleichzeitig all¬
seitig anerkannt war, daß der drohenden Gefahr mit den gewöhnlichen Mitteln
der Abwehr nicht begegnet werden könne, gab es nur einen möglichen Schluß
für die Debatte: Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission
zur Beratung von Vorschlägen zur wirksamen Bekämpfung der Sozialdemokratie!
Das wäre eine würdige Antwort auf Liebknechts Drohungen und Bebels
Faseleien gewesen, wie sie das deutsche Volk von seiner obersten Vertretung
erwarten konnte. Würde im nvrdameriknnischen Repräsentantenhaus oder im
englischen Parlament der Ausgang anders gewesen sein? Kann und darf
sich ein Parlament in der wichtigsten aller Fragen auf theoretische Ausein¬
andersetzungen und Deklamationen beschränken, ohne daß in diesem Verzicht
ans praktische Abhilfe zugleich eine Art Abdankung enthalten wäre? Auf wen
soll denn das deutsche Volk hilfesuchend seine Augen richten, wenn sein Par-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/111>, abgerufen am 23.07.2024.