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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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lauert dieser Aufgabe nicht gerecht zu werden vermag? Kami sich denn das
deutsche Volk nie und nimmer selbst helfen! Muß selbst bei Existenzfragen die
Initiative der Regierung des Kaisers überlassen bleiben? Muß wirklich
jeder Fortschritt, jede Abwehr selbst da, wo die Parteien äußerlich einig
sind, von der Regierung im heißen Kampfe dem Parlament abgerungen
werden?

Herr Richter erklärte die Gefahr des Militärstaats für drohender als die
sozialistische Gefahr. Mag sein, daß er Recht hat. Aber wenn Herr Richter
ehrliche Selbstprüfung üben wollte, müßte er sich eingestehen, daß niemand
mehr als er dem kommenden Imperator die Wege gebahnt hat. Der offen-
kundige Bankerott des Konstitutionalismus, den Herr Richter durch seinen
grundsätzlichen Widerspruch, durch Bekämpfung fast aller größern Akte der
Gesetzgebung seit mehr als zwanzig Jahren wesentlich beschleunigt hat, durch
sein klägliches Versagen der Militärvorlage gegenüber hat er es selbst dahin
gebracht, daß die Augen des Volkes sich mehr und mehr von dem Parlament
ab auf den Kaiser richten.

Und wenn nun die Reichsregierung nach diesem neuen Fiasko der
parlamentarischen Initiative der Sozialdemokratie gegenüber in die Bresche
spränge und zu einer wirksamen Bekümpfnng der Sozialdemokratie die Mit¬
wirkung des Parlaments erbäte, was würde Herr Richter thun? Er würde
noch glänzendere Reden dafür halten, daß die Sozialdemokratie in ihrer Wühl¬
arbeit nicht gestört werde, man müsse alles von der wachsenden Intelligenz
des Volkes erwarten u. s. w.! Wohl ist es möglich, daß wir in ein neues
Jmperatorenzeitalter eingetreten sind; aber Herr Richter ist der letzte, der das
Recht hat, darüber zu klagen, und das deutsche Volk wird die Diktatur eiues
Hvhenzollernkaisers hundertmal der Proletarierdiktatur des Herrn Bebel vor¬
ziehe". Wenn die von Herrn Richter und seinen Hintermännern eingeleitete
und noch heute verteidigte Desorganisation der Gesellschaft und der Pro¬
duktion erst ihre letzten Folgerungen gezogen hat, dann liegt die Rettung
einzig im Säbel. Eine Nation, ein Parlament, das nicht mehr zu handeln
versteht, das sich nur noch mit Worten zu verteidigen weiß, giebt sich selbst
auf; alle Deklamationen seiner Parlamentarier wirken nur noch lächerlich, wem,
ihnen der Mut zum praktischen Handeln keinen Nachdruck mehr verleiht. Wenn
Herr Richter den kommenden Säbel vermeiden will, so giebt es nur ein Mittel,
und das besteht einfach darin, daß das Parlament, in dem ja Herr Richter
mit Recht die Stellung eines Oberpriesters inne hat, durch kräftige parlamen¬
tarische Initiative, durch fruchtbringendes Schaffen den heranziehenden Im¬
perator überflüssig macht. Noch ist es dazu vielleicht Zeit; wie lange noch,
wird selbst der weiseste Augur nicht vorhersagen können.

Aber giebt es denn wirklich Mittel zur wirksamen Bekämpfung der Sozial-
demokratie auf friedlichen! Wege? Wir glauben diese Frage allerdings mit'


lauert dieser Aufgabe nicht gerecht zu werden vermag? Kami sich denn das
deutsche Volk nie und nimmer selbst helfen! Muß selbst bei Existenzfragen die
Initiative der Regierung des Kaisers überlassen bleiben? Muß wirklich
jeder Fortschritt, jede Abwehr selbst da, wo die Parteien äußerlich einig
sind, von der Regierung im heißen Kampfe dem Parlament abgerungen
werden?

Herr Richter erklärte die Gefahr des Militärstaats für drohender als die
sozialistische Gefahr. Mag sein, daß er Recht hat. Aber wenn Herr Richter
ehrliche Selbstprüfung üben wollte, müßte er sich eingestehen, daß niemand
mehr als er dem kommenden Imperator die Wege gebahnt hat. Der offen-
kundige Bankerott des Konstitutionalismus, den Herr Richter durch seinen
grundsätzlichen Widerspruch, durch Bekämpfung fast aller größern Akte der
Gesetzgebung seit mehr als zwanzig Jahren wesentlich beschleunigt hat, durch
sein klägliches Versagen der Militärvorlage gegenüber hat er es selbst dahin
gebracht, daß die Augen des Volkes sich mehr und mehr von dem Parlament
ab auf den Kaiser richten.

Und wenn nun die Reichsregierung nach diesem neuen Fiasko der
parlamentarischen Initiative der Sozialdemokratie gegenüber in die Bresche
spränge und zu einer wirksamen Bekümpfnng der Sozialdemokratie die Mit¬
wirkung des Parlaments erbäte, was würde Herr Richter thun? Er würde
noch glänzendere Reden dafür halten, daß die Sozialdemokratie in ihrer Wühl¬
arbeit nicht gestört werde, man müsse alles von der wachsenden Intelligenz
des Volkes erwarten u. s. w.! Wohl ist es möglich, daß wir in ein neues
Jmperatorenzeitalter eingetreten sind; aber Herr Richter ist der letzte, der das
Recht hat, darüber zu klagen, und das deutsche Volk wird die Diktatur eiues
Hvhenzollernkaisers hundertmal der Proletarierdiktatur des Herrn Bebel vor¬
ziehe». Wenn die von Herrn Richter und seinen Hintermännern eingeleitete
und noch heute verteidigte Desorganisation der Gesellschaft und der Pro¬
duktion erst ihre letzten Folgerungen gezogen hat, dann liegt die Rettung
einzig im Säbel. Eine Nation, ein Parlament, das nicht mehr zu handeln
versteht, das sich nur noch mit Worten zu verteidigen weiß, giebt sich selbst
auf; alle Deklamationen seiner Parlamentarier wirken nur noch lächerlich, wem,
ihnen der Mut zum praktischen Handeln keinen Nachdruck mehr verleiht. Wenn
Herr Richter den kommenden Säbel vermeiden will, so giebt es nur ein Mittel,
und das besteht einfach darin, daß das Parlament, in dem ja Herr Richter
mit Recht die Stellung eines Oberpriesters inne hat, durch kräftige parlamen¬
tarische Initiative, durch fruchtbringendes Schaffen den heranziehenden Im¬
perator überflüssig macht. Noch ist es dazu vielleicht Zeit; wie lange noch,
wird selbst der weiseste Augur nicht vorhersagen können.

Aber giebt es denn wirklich Mittel zur wirksamen Bekämpfung der Sozial-
demokratie auf friedlichen! Wege? Wir glauben diese Frage allerdings mit'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/112>, abgerufen am 23.07.2024.