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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

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ungern und gezwungen das Wort ergriffen haben! Nichts natürlicher als dies!
Denn niemand bekämpft gern seine eignen Kinder. Und die Sozialdemokratie
ist Ihr Kind! Ihre naive Lehre von der Harmonie der wirtschaftlichen Kräfte
hat den Boden geschaffen, auf dem sie allein aufwnchern konnte, Sie haben
ihr den Unterricht in der Agitationskunst zur Bearbeitung der Massen erteilt,
Sie haben bisher jeden wirksamen Vorschlag zu ihrer Bekämpfung zu hinter¬
treiben gesucht, Sie bilden noch heute in Ihrem naiven Glauben an die allein
seligmachende Kraft Ihres Liberalismus, Ihrer Freizügigkeit, Ihrer Gewerbe¬
freiheit die Quelle, aus der dem Sozialismus sein Lebenswasser zufließt. Denn
die Sozialdemokratie ist nichts weiter und nichts andres als das notwendige
Ergebnis der allgemeinen Desorganisation der Arbeit, die Ihr und Ihrer
Freunde trauriges Werk ist. Wer heute noch die Enterbten der Nation, die
modernen Sklaven des Kapitals mit dein Hinweis uns die Harmonie der Inter¬
essen vertrösten kann, dem fehlt das ABC für das Verständnis der sozialen
Frage, der ist entweder -- ein unheilbarer Schwärmer oder -- bitte, sagen
Sie sich das andre selbst! So interessant Ihre "Irrungen der Sozialdemo¬
kratie" oder Ihre "Zukunftsbilder" nach der Seite der Kritik sind, so unfähig
sind Sie für jede reformatorische Thätigkeit zur Lösung der sozialen Frage.
Sie tragen dasselbe Jannsgesicht wie Herr Bebel: in der Kritik scharf, logisch,
unwiderleglich, bewunderungswert, in der positiven Behandlung der Frage --
ein Kind! Und das werden Sie bleiben. Solange Sie dabei beharren, die
völlige Desorganisation der Arbeit ans Ihre Fahne zu schreiben, werden Sie
unfähig sein, das Leiden und die furchtbaren Gefahren zu heilen, die diese
Desorganisation, das rücksichtslose Ringen uns Dasein über die moderne Welt
heraufbeschworen hat. Wer jetzt noch nicht einsehen kann oder eingestehen will,
daß das fortwährende Schwanken der Magnetnadel des wirtschaftlichen Lebens
der heutigen Nationen zwischen Überproduktion und Krach, zwischen Milliarden¬
schwindel und Hungersnot, zwischen ungemessenen Reichtum und namenlosem
Elend die notwendige nud unvermeidliche Folge der modernen Gesellschafts¬
ordnung, richtiger Unordnung, und ihrer kapitalistischen Produktion ist, wer
die heutige Depression nnr dnrch Naturzusälle, schlechte Witterung zu er¬
klären weiß, der mag darauf verzichten, die Sozialdemokratie zu bekämpfen.
Denn heilen kann man die soziale Frage nur, wenn man sie versteht, wenn
man die Quelle verstopft, aus der sie entstanden ist.

Das Endergebnis des fünftägigen Kampfes gegen die ""geheure Gefahr,
die in der Sozialdemokratie heranzieht, war -- wir wiederholen es -- gleich
Null! Herr Stöcker erklärte nnter Zustimmung des Präsidenten und des
Hauses, daß er darauf verzichte, die lahme sozialdemokratische Nvsincmte Lieb¬
knechts weiter zu bekämpfen -- der Rest ist Schweigen.

Entspricht dieser Schluß wirklich der Würde des Reichstags und den
Interessen des Reichs? Wir hätten mehr, wir hätten andres erwartet! Mau


ungern und gezwungen das Wort ergriffen haben! Nichts natürlicher als dies!
Denn niemand bekämpft gern seine eignen Kinder. Und die Sozialdemokratie
ist Ihr Kind! Ihre naive Lehre von der Harmonie der wirtschaftlichen Kräfte
hat den Boden geschaffen, auf dem sie allein aufwnchern konnte, Sie haben
ihr den Unterricht in der Agitationskunst zur Bearbeitung der Massen erteilt,
Sie haben bisher jeden wirksamen Vorschlag zu ihrer Bekämpfung zu hinter¬
treiben gesucht, Sie bilden noch heute in Ihrem naiven Glauben an die allein
seligmachende Kraft Ihres Liberalismus, Ihrer Freizügigkeit, Ihrer Gewerbe¬
freiheit die Quelle, aus der dem Sozialismus sein Lebenswasser zufließt. Denn
die Sozialdemokratie ist nichts weiter und nichts andres als das notwendige
Ergebnis der allgemeinen Desorganisation der Arbeit, die Ihr und Ihrer
Freunde trauriges Werk ist. Wer heute noch die Enterbten der Nation, die
modernen Sklaven des Kapitals mit dein Hinweis uns die Harmonie der Inter¬
essen vertrösten kann, dem fehlt das ABC für das Verständnis der sozialen
Frage, der ist entweder — ein unheilbarer Schwärmer oder — bitte, sagen
Sie sich das andre selbst! So interessant Ihre „Irrungen der Sozialdemo¬
kratie" oder Ihre „Zukunftsbilder" nach der Seite der Kritik sind, so unfähig
sind Sie für jede reformatorische Thätigkeit zur Lösung der sozialen Frage.
Sie tragen dasselbe Jannsgesicht wie Herr Bebel: in der Kritik scharf, logisch,
unwiderleglich, bewunderungswert, in der positiven Behandlung der Frage —
ein Kind! Und das werden Sie bleiben. Solange Sie dabei beharren, die
völlige Desorganisation der Arbeit ans Ihre Fahne zu schreiben, werden Sie
unfähig sein, das Leiden und die furchtbaren Gefahren zu heilen, die diese
Desorganisation, das rücksichtslose Ringen uns Dasein über die moderne Welt
heraufbeschworen hat. Wer jetzt noch nicht einsehen kann oder eingestehen will,
daß das fortwährende Schwanken der Magnetnadel des wirtschaftlichen Lebens
der heutigen Nationen zwischen Überproduktion und Krach, zwischen Milliarden¬
schwindel und Hungersnot, zwischen ungemessenen Reichtum und namenlosem
Elend die notwendige nud unvermeidliche Folge der modernen Gesellschafts¬
ordnung, richtiger Unordnung, und ihrer kapitalistischen Produktion ist, wer
die heutige Depression nnr dnrch Naturzusälle, schlechte Witterung zu er¬
klären weiß, der mag darauf verzichten, die Sozialdemokratie zu bekämpfen.
Denn heilen kann man die soziale Frage nur, wenn man sie versteht, wenn
man die Quelle verstopft, aus der sie entstanden ist.

Das Endergebnis des fünftägigen Kampfes gegen die »»geheure Gefahr,
die in der Sozialdemokratie heranzieht, war — wir wiederholen es — gleich
Null! Herr Stöcker erklärte nnter Zustimmung des Präsidenten und des
Hauses, daß er darauf verzichte, die lahme sozialdemokratische Nvsincmte Lieb¬
knechts weiter zu bekämpfen — der Rest ist Schweigen.

Entspricht dieser Schluß wirklich der Würde des Reichstags und den
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/110>, abgerufen am 03.07.2024.