Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

fanden nicht täuschen! Möglicherweise werden Ihre Reden der spätern Wahl¬
agitation Ihrer Partei einige wertvolle Argumente und Schlagworte liefern --
überzeugen werden Sie auch dort nur Ihre Freunde, die Sie nicht zu ge¬
winnen brauchen.

Der Mangel an positiven Gedanken, an fruchtbaren praktischen Ideen für
die Bekämpfung der Sozialdemokratin der aus allen Reden leuchtete, war zu
offenkundig, als daß ihn die Sozialdemokratie übersehen und nicht neues Waffer
für ihre Mühle daraus herleiten sollte. Was an solchen Gedanken von den
einzelnen Rednern gegeben wurde, war längst bekannt und meistens schon
verbraucht.

Dies gilt vor allem von dem Rat des Freiherrn von Stumm, zur ge¬
waltsamen Bekämpfung der Sozialdemokratie zurückzukehren. Wenn er darunter
nichts besseres und wirksameres versteht als die polizeiliche Bekämpfung durch
Beschränkung des Vereinsrechts und der Presse, so hätte er seinen Rat für
sich behalten sollen.

Ebenso luftig erscheint uns der Rat der Herren Belchen und Hintze, die
Sozialdemokratie durch Wetterführung der sozialen Gesetzgebung unschädlich zu
machen. Der Rat ist weder neu, noch hat er die Erfahrung für sich. Denn
alle wirklichen Kenner des Volkslebens dürften darin einig sein, daß unsre bis¬
herige soziale Wohlfahrtsgesetzgebung die Entwicklung der Sozialdemokratie
mehr gefördert als beeinträchtigt hat. Das dürfte auch von der neuern preu¬
ßischen Steuergesetzgebung des Herrn Miquel gelten, die zwar nicht eine eigent¬
liche Sozialgesetzgebung fein soll, aber in der Einführung einer progressive"
Einkommensteuer sowie in der in Form einer Vermögenssteuer geplanten Ver-
inögensenteignung auf ganz sozialistischen Grundsätzen ruht. Wer den: Staate
rät, auf diesem Wege weiter fortzufahren, um die Begehrlichkeit und Unzu¬
friedenheit der Massen zu bekämpfen, der versteht nichts von der tierischen
Natur des Menschen, für die es mir ein Gesetz giebt: l'axxötit, vivre, on
MiMMÄNk.

Wer ferner mit Herrn Stöcker die Heilung des Sozialismus vom Christen¬
tum erwartet, der verzichtet eben thatsächlich auf eine Heilung. Denn wenn
das Christentum diese Aufgabe erfüllen könnte, so Hütten wir überhaupt keine
Sozialdemokratie. Herr Stöcker hätte gewiß Recht, wenn alle Menschen wahre
Christen wären, oder wenn wir einen Trichter hätten, um denen, die es nicht
sind, das Christentum einzutrichtern.

Herr Richter endlich ist der Ansicht, daß es überhaupt besondrer Heil¬
mittel zur Bekämpfung der sozialen Leiden nicht bedürfe, sondern daß das die
Harmonie der wirtschaftlichen Kräfte aufs beste besorgen würde, wenn man sie
nur unbeschränkt schalten und walten lasse. Wer heute noch auf diesem durch¬
löcherten Standpunkte steht, ist freilich unfähig zur Bekämpfung der Sozial¬
demokratie. Ja, Herr Richter, wir glaube" es Ihnen muss Wort, daß Sie uur


Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage

fanden nicht täuschen! Möglicherweise werden Ihre Reden der spätern Wahl¬
agitation Ihrer Partei einige wertvolle Argumente und Schlagworte liefern —
überzeugen werden Sie auch dort nur Ihre Freunde, die Sie nicht zu ge¬
winnen brauchen.

Der Mangel an positiven Gedanken, an fruchtbaren praktischen Ideen für
die Bekämpfung der Sozialdemokratin der aus allen Reden leuchtete, war zu
offenkundig, als daß ihn die Sozialdemokratie übersehen und nicht neues Waffer
für ihre Mühle daraus herleiten sollte. Was an solchen Gedanken von den
einzelnen Rednern gegeben wurde, war längst bekannt und meistens schon
verbraucht.

Dies gilt vor allem von dem Rat des Freiherrn von Stumm, zur ge¬
waltsamen Bekämpfung der Sozialdemokratie zurückzukehren. Wenn er darunter
nichts besseres und wirksameres versteht als die polizeiliche Bekämpfung durch
Beschränkung des Vereinsrechts und der Presse, so hätte er seinen Rat für
sich behalten sollen.

Ebenso luftig erscheint uns der Rat der Herren Belchen und Hintze, die
Sozialdemokratie durch Wetterführung der sozialen Gesetzgebung unschädlich zu
machen. Der Rat ist weder neu, noch hat er die Erfahrung für sich. Denn
alle wirklichen Kenner des Volkslebens dürften darin einig sein, daß unsre bis¬
herige soziale Wohlfahrtsgesetzgebung die Entwicklung der Sozialdemokratie
mehr gefördert als beeinträchtigt hat. Das dürfte auch von der neuern preu¬
ßischen Steuergesetzgebung des Herrn Miquel gelten, die zwar nicht eine eigent¬
liche Sozialgesetzgebung fein soll, aber in der Einführung einer progressive»
Einkommensteuer sowie in der in Form einer Vermögenssteuer geplanten Ver-
inögensenteignung auf ganz sozialistischen Grundsätzen ruht. Wer den: Staate
rät, auf diesem Wege weiter fortzufahren, um die Begehrlichkeit und Unzu¬
friedenheit der Massen zu bekämpfen, der versteht nichts von der tierischen
Natur des Menschen, für die es mir ein Gesetz giebt: l'axxötit, vivre, on
MiMMÄNk.

Wer ferner mit Herrn Stöcker die Heilung des Sozialismus vom Christen¬
tum erwartet, der verzichtet eben thatsächlich auf eine Heilung. Denn wenn
das Christentum diese Aufgabe erfüllen könnte, so Hütten wir überhaupt keine
Sozialdemokratie. Herr Stöcker hätte gewiß Recht, wenn alle Menschen wahre
Christen wären, oder wenn wir einen Trichter hätten, um denen, die es nicht
sind, das Christentum einzutrichtern.

Herr Richter endlich ist der Ansicht, daß es überhaupt besondrer Heil¬
mittel zur Bekämpfung der sozialen Leiden nicht bedürfe, sondern daß das die
Harmonie der wirtschaftlichen Kräfte aufs beste besorgen würde, wenn man sie
nur unbeschränkt schalten und walten lasse. Wer heute noch auf diesem durch¬
löcherten Standpunkte steht, ist freilich unfähig zur Bekämpfung der Sozial¬
demokratie. Ja, Herr Richter, wir glaube» es Ihnen muss Wort, daß Sie uur


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0109" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214565"/>
          <fw type="header" place="top"> Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_409" prev="#ID_408"> fanden nicht täuschen! Möglicherweise werden Ihre Reden der spätern Wahl¬<lb/>
agitation Ihrer Partei einige wertvolle Argumente und Schlagworte liefern &#x2014;<lb/>
überzeugen werden Sie auch dort nur Ihre Freunde, die Sie nicht zu ge¬<lb/>
winnen brauchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_410"> Der Mangel an positiven Gedanken, an fruchtbaren praktischen Ideen für<lb/>
die Bekämpfung der Sozialdemokratin der aus allen Reden leuchtete, war zu<lb/>
offenkundig, als daß ihn die Sozialdemokratie übersehen und nicht neues Waffer<lb/>
für ihre Mühle daraus herleiten sollte. Was an solchen Gedanken von den<lb/>
einzelnen Rednern gegeben wurde, war längst bekannt und meistens schon<lb/>
verbraucht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_411"> Dies gilt vor allem von dem Rat des Freiherrn von Stumm, zur ge¬<lb/>
waltsamen Bekämpfung der Sozialdemokratie zurückzukehren. Wenn er darunter<lb/>
nichts besseres und wirksameres versteht als die polizeiliche Bekämpfung durch<lb/>
Beschränkung des Vereinsrechts und der Presse, so hätte er seinen Rat für<lb/>
sich behalten sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_412"> Ebenso luftig erscheint uns der Rat der Herren Belchen und Hintze, die<lb/>
Sozialdemokratie durch Wetterführung der sozialen Gesetzgebung unschädlich zu<lb/>
machen. Der Rat ist weder neu, noch hat er die Erfahrung für sich. Denn<lb/>
alle wirklichen Kenner des Volkslebens dürften darin einig sein, daß unsre bis¬<lb/>
herige soziale Wohlfahrtsgesetzgebung die Entwicklung der Sozialdemokratie<lb/>
mehr gefördert als beeinträchtigt hat. Das dürfte auch von der neuern preu¬<lb/>
ßischen Steuergesetzgebung des Herrn Miquel gelten, die zwar nicht eine eigent¬<lb/>
liche Sozialgesetzgebung fein soll, aber in der Einführung einer progressive»<lb/>
Einkommensteuer sowie in der in Form einer Vermögenssteuer geplanten Ver-<lb/>
inögensenteignung auf ganz sozialistischen Grundsätzen ruht. Wer den: Staate<lb/>
rät, auf diesem Wege weiter fortzufahren, um die Begehrlichkeit und Unzu¬<lb/>
friedenheit der Massen zu bekämpfen, der versteht nichts von der tierischen<lb/>
Natur des Menschen, für die es mir ein Gesetz giebt: l'axxötit, vivre, on<lb/>
MiMMÄNk.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_413"> Wer ferner mit Herrn Stöcker die Heilung des Sozialismus vom Christen¬<lb/>
tum erwartet, der verzichtet eben thatsächlich auf eine Heilung. Denn wenn<lb/>
das Christentum diese Aufgabe erfüllen könnte, so Hütten wir überhaupt keine<lb/>
Sozialdemokratie. Herr Stöcker hätte gewiß Recht, wenn alle Menschen wahre<lb/>
Christen wären, oder wenn wir einen Trichter hätten, um denen, die es nicht<lb/>
sind, das Christentum einzutrichtern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_414" next="#ID_415"> Herr Richter endlich ist der Ansicht, daß es überhaupt besondrer Heil¬<lb/>
mittel zur Bekämpfung der sozialen Leiden nicht bedürfe, sondern daß das die<lb/>
Harmonie der wirtschaftlichen Kräfte aufs beste besorgen würde, wenn man sie<lb/>
nur unbeschränkt schalten und walten lasse. Wer heute noch auf diesem durch¬<lb/>
löcherten Standpunkte steht, ist freilich unfähig zur Bekämpfung der Sozial¬<lb/>
demokratie. Ja, Herr Richter, wir glaube» es Ihnen muss Wort, daß Sie uur</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0109] Rückblicke und Ausblicke auf die soziale Frage fanden nicht täuschen! Möglicherweise werden Ihre Reden der spätern Wahl¬ agitation Ihrer Partei einige wertvolle Argumente und Schlagworte liefern — überzeugen werden Sie auch dort nur Ihre Freunde, die Sie nicht zu ge¬ winnen brauchen. Der Mangel an positiven Gedanken, an fruchtbaren praktischen Ideen für die Bekämpfung der Sozialdemokratin der aus allen Reden leuchtete, war zu offenkundig, als daß ihn die Sozialdemokratie übersehen und nicht neues Waffer für ihre Mühle daraus herleiten sollte. Was an solchen Gedanken von den einzelnen Rednern gegeben wurde, war längst bekannt und meistens schon verbraucht. Dies gilt vor allem von dem Rat des Freiherrn von Stumm, zur ge¬ waltsamen Bekämpfung der Sozialdemokratie zurückzukehren. Wenn er darunter nichts besseres und wirksameres versteht als die polizeiliche Bekämpfung durch Beschränkung des Vereinsrechts und der Presse, so hätte er seinen Rat für sich behalten sollen. Ebenso luftig erscheint uns der Rat der Herren Belchen und Hintze, die Sozialdemokratie durch Wetterführung der sozialen Gesetzgebung unschädlich zu machen. Der Rat ist weder neu, noch hat er die Erfahrung für sich. Denn alle wirklichen Kenner des Volkslebens dürften darin einig sein, daß unsre bis¬ herige soziale Wohlfahrtsgesetzgebung die Entwicklung der Sozialdemokratie mehr gefördert als beeinträchtigt hat. Das dürfte auch von der neuern preu¬ ßischen Steuergesetzgebung des Herrn Miquel gelten, die zwar nicht eine eigent¬ liche Sozialgesetzgebung fein soll, aber in der Einführung einer progressive» Einkommensteuer sowie in der in Form einer Vermögenssteuer geplanten Ver- inögensenteignung auf ganz sozialistischen Grundsätzen ruht. Wer den: Staate rät, auf diesem Wege weiter fortzufahren, um die Begehrlichkeit und Unzu¬ friedenheit der Massen zu bekämpfen, der versteht nichts von der tierischen Natur des Menschen, für die es mir ein Gesetz giebt: l'axxötit, vivre, on MiMMÄNk. Wer ferner mit Herrn Stöcker die Heilung des Sozialismus vom Christen¬ tum erwartet, der verzichtet eben thatsächlich auf eine Heilung. Denn wenn das Christentum diese Aufgabe erfüllen könnte, so Hütten wir überhaupt keine Sozialdemokratie. Herr Stöcker hätte gewiß Recht, wenn alle Menschen wahre Christen wären, oder wenn wir einen Trichter hätten, um denen, die es nicht sind, das Christentum einzutrichtern. Herr Richter endlich ist der Ansicht, daß es überhaupt besondrer Heil¬ mittel zur Bekämpfung der sozialen Leiden nicht bedürfe, sondern daß das die Harmonie der wirtschaftlichen Kräfte aufs beste besorgen würde, wenn man sie nur unbeschränkt schalten und walten lasse. Wer heute noch auf diesem durch¬ löcherten Standpunkte steht, ist freilich unfähig zur Bekämpfung der Sozial¬ demokratie. Ja, Herr Richter, wir glaube» es Ihnen muss Wort, daß Sie uur

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/109
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_214455/109>, abgerufen am 03.07.2024.