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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Meder Kommunismus noch Kapitalismus

aller Bernfsstände um Einkommenerhöhung und ist schuld an dem wirtschaft¬
lichen Untergange vieler Beamten, Geschäftsleute und Handwerker; er befördert
die kommunistischen Ideen durch Zerstörung der Volkstrachten und äußere
Uniformirnug der Stände und der Völker. Hierdurch ist er zugleich der Tod
der Ästhetik; macht er doch aus den Frauen und Mädchen unsers Volks jene
mitleidswürdigen Fratzen, die mau Damen nennt. Ein "Kostüm" mag der
Pariser Mondaine oder Demimvndaine, der es ursprünglich ans den Leib ge¬
schnitten war, sehr "chic" gesessen haben, aber die ehrwürdige Matrone ans
dem Volke, die von schwerer Arbeit einen schwerfälligen Gang, eine unge¬
schickte Haltung und einen krummen Rücken bekommen hat, das ehrliche deutsche
Gänschen, die verkümmerte Zwergin, der man am Gesicht abliest, wie un¬
glücklich sie sich fühlt, die arme bucklige oder lahme Nähterin verunstaltet und
verunehrt es. Dazu hat die Modenarrheit im Bündnis mit der europäischen
Textilindustrie eine Menge schöner orientalischer Stoffe, wie die zarten in¬
dischen Musseline und die türkische" Umschlagetücher verdrängt, mit letztern
zugleich eine Körperhülle, die schon in Schnitt und Faltenwurf sehr viel
schöner war als glatt anliegende Überröcke oder der Mangel jedes Überwurfs.
Der Kulturwert der modernen Textilindustrie beschränkt sich darauf, daß wir
ihr die Kvstümkarrikaturen der Fliegenden Blätter verdanken. Aber so unter¬
haltend die anch sein mögen, mit einigen Millionen verhungerter Handweber,
geräderter und zu Tode geprügelter Fabrikkinder sind sie zu teuer erkauft.
Der andre Zweig dieser Klasse umfaßt Industrien, deren Produkte auch nicht
einmal an sich notwendig sind. Als Beispiele dafür könne" wir die Fabri¬
kation der Cellulose und der Anilinfarben nennen. Die Arbeit in diesen Fa¬
briken ist sehr ungesund und wird noch dazu schlecht bezahlt; ohne bettelarme
elende Arbeiter, die sich zu jeder Bedingung verstehen müssen, könnten dem¬
nach diese Fabriken nicht bestehen. Und zu was sollten ihre Produkte nötig
sein? Der einzige Nutzen des billigen und schlechten Holzstoffpapiers besteht
darin, daß Zeitungen, deren Inhalt an Schlechtigkeit mit dem Papier wett¬
eifert, dnrch ihre fabelhafte Billigkeit eine ungeheure Verbreitung erlangen
und bessere Blätter verdrängen; an schönen und guten Farben aber ist auch
ohne die Anilinindnstric kein Mangel. Der einzige Daseinszweck beider Stoffe
ist die Bereicherung einiger Unternehmer, nud das ist kein Kulturzweck.

Endlich weist man auf die ungeheure Verschiedenheit der geistigen Be¬
gabung hin, der die Verschiedenheit der Vermögenslagen entsprechen müsse.
Die Verwirrung der Vorstellungen von diesem Zusammenhange zwischen Geistes¬
kraft und Reichtum, zwischen Geistesschwache und Armut ist so groß, daß man
nicht recht weiß, an welchem Zipfel man den Knäuel beim Aufknüpfen anfassen
soll. Nehmen wir den ersten besten. Der höchsten geistigen Kraft, der Schöpfer¬
kraft des Erfinders, des Entdeckers, des Künstlers, des Weltweisen sällt nie¬
mals der größte Vermögensanteil zu; weder Kolumbus, uoch Kopernikus, noch


Meder Kommunismus noch Kapitalismus

aller Bernfsstände um Einkommenerhöhung und ist schuld an dem wirtschaft¬
lichen Untergange vieler Beamten, Geschäftsleute und Handwerker; er befördert
die kommunistischen Ideen durch Zerstörung der Volkstrachten und äußere
Uniformirnug der Stände und der Völker. Hierdurch ist er zugleich der Tod
der Ästhetik; macht er doch aus den Frauen und Mädchen unsers Volks jene
mitleidswürdigen Fratzen, die mau Damen nennt. Ein „Kostüm" mag der
Pariser Mondaine oder Demimvndaine, der es ursprünglich ans den Leib ge¬
schnitten war, sehr „chic" gesessen haben, aber die ehrwürdige Matrone ans
dem Volke, die von schwerer Arbeit einen schwerfälligen Gang, eine unge¬
schickte Haltung und einen krummen Rücken bekommen hat, das ehrliche deutsche
Gänschen, die verkümmerte Zwergin, der man am Gesicht abliest, wie un¬
glücklich sie sich fühlt, die arme bucklige oder lahme Nähterin verunstaltet und
verunehrt es. Dazu hat die Modenarrheit im Bündnis mit der europäischen
Textilindustrie eine Menge schöner orientalischer Stoffe, wie die zarten in¬
dischen Musseline und die türkische» Umschlagetücher verdrängt, mit letztern
zugleich eine Körperhülle, die schon in Schnitt und Faltenwurf sehr viel
schöner war als glatt anliegende Überröcke oder der Mangel jedes Überwurfs.
Der Kulturwert der modernen Textilindustrie beschränkt sich darauf, daß wir
ihr die Kvstümkarrikaturen der Fliegenden Blätter verdanken. Aber so unter¬
haltend die anch sein mögen, mit einigen Millionen verhungerter Handweber,
geräderter und zu Tode geprügelter Fabrikkinder sind sie zu teuer erkauft.
Der andre Zweig dieser Klasse umfaßt Industrien, deren Produkte auch nicht
einmal an sich notwendig sind. Als Beispiele dafür könne» wir die Fabri¬
kation der Cellulose und der Anilinfarben nennen. Die Arbeit in diesen Fa¬
briken ist sehr ungesund und wird noch dazu schlecht bezahlt; ohne bettelarme
elende Arbeiter, die sich zu jeder Bedingung verstehen müssen, könnten dem¬
nach diese Fabriken nicht bestehen. Und zu was sollten ihre Produkte nötig
sein? Der einzige Nutzen des billigen und schlechten Holzstoffpapiers besteht
darin, daß Zeitungen, deren Inhalt an Schlechtigkeit mit dem Papier wett¬
eifert, dnrch ihre fabelhafte Billigkeit eine ungeheure Verbreitung erlangen
und bessere Blätter verdrängen; an schönen und guten Farben aber ist auch
ohne die Anilinindnstric kein Mangel. Der einzige Daseinszweck beider Stoffe
ist die Bereicherung einiger Unternehmer, nud das ist kein Kulturzweck.

Endlich weist man auf die ungeheure Verschiedenheit der geistigen Be¬
gabung hin, der die Verschiedenheit der Vermögenslagen entsprechen müsse.
Die Verwirrung der Vorstellungen von diesem Zusammenhange zwischen Geistes¬
kraft und Reichtum, zwischen Geistesschwache und Armut ist so groß, daß man
nicht recht weiß, an welchem Zipfel man den Knäuel beim Aufknüpfen anfassen
soll. Nehmen wir den ersten besten. Der höchsten geistigen Kraft, der Schöpfer¬
kraft des Erfinders, des Entdeckers, des Künstlers, des Weltweisen sällt nie¬
mals der größte Vermögensanteil zu; weder Kolumbus, uoch Kopernikus, noch


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[0625] Meder Kommunismus noch Kapitalismus aller Bernfsstände um Einkommenerhöhung und ist schuld an dem wirtschaft¬ lichen Untergange vieler Beamten, Geschäftsleute und Handwerker; er befördert die kommunistischen Ideen durch Zerstörung der Volkstrachten und äußere Uniformirnug der Stände und der Völker. Hierdurch ist er zugleich der Tod der Ästhetik; macht er doch aus den Frauen und Mädchen unsers Volks jene mitleidswürdigen Fratzen, die mau Damen nennt. Ein „Kostüm" mag der Pariser Mondaine oder Demimvndaine, der es ursprünglich ans den Leib ge¬ schnitten war, sehr „chic" gesessen haben, aber die ehrwürdige Matrone ans dem Volke, die von schwerer Arbeit einen schwerfälligen Gang, eine unge¬ schickte Haltung und einen krummen Rücken bekommen hat, das ehrliche deutsche Gänschen, die verkümmerte Zwergin, der man am Gesicht abliest, wie un¬ glücklich sie sich fühlt, die arme bucklige oder lahme Nähterin verunstaltet und verunehrt es. Dazu hat die Modenarrheit im Bündnis mit der europäischen Textilindustrie eine Menge schöner orientalischer Stoffe, wie die zarten in¬ dischen Musseline und die türkische» Umschlagetücher verdrängt, mit letztern zugleich eine Körperhülle, die schon in Schnitt und Faltenwurf sehr viel schöner war als glatt anliegende Überröcke oder der Mangel jedes Überwurfs. Der Kulturwert der modernen Textilindustrie beschränkt sich darauf, daß wir ihr die Kvstümkarrikaturen der Fliegenden Blätter verdanken. Aber so unter¬ haltend die anch sein mögen, mit einigen Millionen verhungerter Handweber, geräderter und zu Tode geprügelter Fabrikkinder sind sie zu teuer erkauft. Der andre Zweig dieser Klasse umfaßt Industrien, deren Produkte auch nicht einmal an sich notwendig sind. Als Beispiele dafür könne» wir die Fabri¬ kation der Cellulose und der Anilinfarben nennen. Die Arbeit in diesen Fa¬ briken ist sehr ungesund und wird noch dazu schlecht bezahlt; ohne bettelarme elende Arbeiter, die sich zu jeder Bedingung verstehen müssen, könnten dem¬ nach diese Fabriken nicht bestehen. Und zu was sollten ihre Produkte nötig sein? Der einzige Nutzen des billigen und schlechten Holzstoffpapiers besteht darin, daß Zeitungen, deren Inhalt an Schlechtigkeit mit dem Papier wett¬ eifert, dnrch ihre fabelhafte Billigkeit eine ungeheure Verbreitung erlangen und bessere Blätter verdrängen; an schönen und guten Farben aber ist auch ohne die Anilinindnstric kein Mangel. Der einzige Daseinszweck beider Stoffe ist die Bereicherung einiger Unternehmer, nud das ist kein Kulturzweck. Endlich weist man auf die ungeheure Verschiedenheit der geistigen Be¬ gabung hin, der die Verschiedenheit der Vermögenslagen entsprechen müsse. Die Verwirrung der Vorstellungen von diesem Zusammenhange zwischen Geistes¬ kraft und Reichtum, zwischen Geistesschwache und Armut ist so groß, daß man nicht recht weiß, an welchem Zipfel man den Knäuel beim Aufknüpfen anfassen soll. Nehmen wir den ersten besten. Der höchsten geistigen Kraft, der Schöpfer¬ kraft des Erfinders, des Entdeckers, des Künstlers, des Weltweisen sällt nie¬ mals der größte Vermögensanteil zu; weder Kolumbus, uoch Kopernikus, noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/625>, abgerufen am 26.06.2024.