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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Messias des ernsten und höhern Dramas, führt die "stupide" Gleichgültigkeit
des deutschen Publikums nicht auf sein Österreichertnm zurück? Er hat, wie
es scheint, den Mephistospruch: "Und wenn ihr euch nur selbst vertraut, ver¬
trauen euch die andern Seelen," vollständig vergessen, er entbehrt zwar nicht
eines berechtigten Selbstgefühls, aber es ist mir das Selbstgefühl des ehrlich
strebenden, des Mannes, der seine Kraft, so weit sie eben reicht, im Dienst
einer künstlerischen Überzeugung eingesetzt hat, und der des altväterischen Glaubens
lebt, daß es Ziele gebe, hinter denen mau mit allen Ehren zurückbleiben könne.
Er scheint im ganzen ein resignirtes, wenig beglücktes Leben geführt zu haben
und sendet nun am Abend seiner Tage seine Werke hinaus, "noch einmal zu
kämpfen für sich und ihren Dichter. Er selbst, leider nie eine Kampfuatur,
kann nicht mehr hinaus in die Welt, ihn fesseln uun wohl Alter und Krank¬
heit fortan an seine stille Klause, bis die noch stillere, engste ihn auf immer
umschließen wird. Für sein Glück ist es zu spät -- nicht sür seine Geltung."
Es ist etwas in alledem, was von vornherein für den Dichter einnimmt, auch
wenn man keineswegs wie Meister Jacques in Kellers "Züricher Novellen"
der Meinung ist, daß "bescheiden sein halb gemalt, halb gemeißelt, halb ge¬
geigt und halb gesungen sei." Der schlichte Ernst dieses Vorworts weicht
von dem Ton, in dem sich neuerdings die Dramatiker und Romanschriftsteller
vernehmen lassen, ebenso sehr ab, wie sich die Stoffe, an deren Gestaltung
Nissel sein Leben hingegeben hat, von den gegenwärtigen allein üblichen und
wirksamen unterscheiden.

Natürlich entscheidet diese Abweichung nicht über den Wert oder Unwert
der Dichtungen. Die vier in dem Bande mitgeteilten Dramen "Perseus von
Macedonien," "Heinrich der Löwe," "Agnes von Meran" und "Eine Nacht
Corvins," deren Entstehungszeit in die siebziger und sechziger Jahre fällt, ja
bis 1857 zurückreicht, sind erneute Zeugnisse von dem besondern, in seiner
Art einzigen Einflüsse, den das Wiener Hofburgtheater auf eine lauge Reihe
von Dramatikern seit den Tagen Ayrenhvffs und seit denen der Gebrüder
Collin gehabt hat. Keine zweite deutsche Bühne hat so entschieden und er¬
kennbar die Thätigkeit zahlreicher Dramatiker erweckt und in eine bestimmte
Richtung gelenkt, hat einen bestimmten Stil in dein Aufbau einer Handlung
und in der rednerischen Aussprache leidenschaftlicher Seelenvorgänge so be¬
günstigt, wie die Bühne der Wiener Hofburg. Zu einer Zeit, wo es im
übrigen Deutschland mit der Anerkennung des größten deutsch-österreichischen
Dichters, Franz Grillparzers, uoch recht mißlich aussah, hat Grillparzer in
Wien die Wirkungen und die Geltung eines klassischen Meisters gehabt, hat
eine Gruppe oder vielmehr Folge von Schülern gesunden, die ans ihren Zu¬
sammenhang, ans die Gemeinsamkeit ihrer Welt- und Menschendarstellung,
ihres dramatischen Stils und wiederum auf ihre naturgemäßen Verschieden¬
heiten noch nicht betrachtet und gewürdigt worden ist. Zu diese" Schülern,


Messias des ernsten und höhern Dramas, führt die „stupide" Gleichgültigkeit
des deutschen Publikums nicht auf sein Österreichertnm zurück? Er hat, wie
es scheint, den Mephistospruch: „Und wenn ihr euch nur selbst vertraut, ver¬
trauen euch die andern Seelen," vollständig vergessen, er entbehrt zwar nicht
eines berechtigten Selbstgefühls, aber es ist mir das Selbstgefühl des ehrlich
strebenden, des Mannes, der seine Kraft, so weit sie eben reicht, im Dienst
einer künstlerischen Überzeugung eingesetzt hat, und der des altväterischen Glaubens
lebt, daß es Ziele gebe, hinter denen mau mit allen Ehren zurückbleiben könne.
Er scheint im ganzen ein resignirtes, wenig beglücktes Leben geführt zu haben
und sendet nun am Abend seiner Tage seine Werke hinaus, „noch einmal zu
kämpfen für sich und ihren Dichter. Er selbst, leider nie eine Kampfuatur,
kann nicht mehr hinaus in die Welt, ihn fesseln uun wohl Alter und Krank¬
heit fortan an seine stille Klause, bis die noch stillere, engste ihn auf immer
umschließen wird. Für sein Glück ist es zu spät — nicht sür seine Geltung."
Es ist etwas in alledem, was von vornherein für den Dichter einnimmt, auch
wenn man keineswegs wie Meister Jacques in Kellers „Züricher Novellen"
der Meinung ist, daß „bescheiden sein halb gemalt, halb gemeißelt, halb ge¬
geigt und halb gesungen sei." Der schlichte Ernst dieses Vorworts weicht
von dem Ton, in dem sich neuerdings die Dramatiker und Romanschriftsteller
vernehmen lassen, ebenso sehr ab, wie sich die Stoffe, an deren Gestaltung
Nissel sein Leben hingegeben hat, von den gegenwärtigen allein üblichen und
wirksamen unterscheiden.

Natürlich entscheidet diese Abweichung nicht über den Wert oder Unwert
der Dichtungen. Die vier in dem Bande mitgeteilten Dramen „Perseus von
Macedonien," „Heinrich der Löwe," „Agnes von Meran" und „Eine Nacht
Corvins," deren Entstehungszeit in die siebziger und sechziger Jahre fällt, ja
bis 1857 zurückreicht, sind erneute Zeugnisse von dem besondern, in seiner
Art einzigen Einflüsse, den das Wiener Hofburgtheater auf eine lauge Reihe
von Dramatikern seit den Tagen Ayrenhvffs und seit denen der Gebrüder
Collin gehabt hat. Keine zweite deutsche Bühne hat so entschieden und er¬
kennbar die Thätigkeit zahlreicher Dramatiker erweckt und in eine bestimmte
Richtung gelenkt, hat einen bestimmten Stil in dein Aufbau einer Handlung
und in der rednerischen Aussprache leidenschaftlicher Seelenvorgänge so be¬
günstigt, wie die Bühne der Wiener Hofburg. Zu einer Zeit, wo es im
übrigen Deutschland mit der Anerkennung des größten deutsch-österreichischen
Dichters, Franz Grillparzers, uoch recht mißlich aussah, hat Grillparzer in
Wien die Wirkungen und die Geltung eines klassischen Meisters gehabt, hat
eine Gruppe oder vielmehr Folge von Schülern gesunden, die ans ihren Zu¬
sammenhang, ans die Gemeinsamkeit ihrer Welt- und Menschendarstellung,
ihres dramatischen Stils und wiederum auf ihre naturgemäßen Verschieden¬
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[0592] Messias des ernsten und höhern Dramas, führt die „stupide" Gleichgültigkeit des deutschen Publikums nicht auf sein Österreichertnm zurück? Er hat, wie es scheint, den Mephistospruch: „Und wenn ihr euch nur selbst vertraut, ver¬ trauen euch die andern Seelen," vollständig vergessen, er entbehrt zwar nicht eines berechtigten Selbstgefühls, aber es ist mir das Selbstgefühl des ehrlich strebenden, des Mannes, der seine Kraft, so weit sie eben reicht, im Dienst einer künstlerischen Überzeugung eingesetzt hat, und der des altväterischen Glaubens lebt, daß es Ziele gebe, hinter denen mau mit allen Ehren zurückbleiben könne. Er scheint im ganzen ein resignirtes, wenig beglücktes Leben geführt zu haben und sendet nun am Abend seiner Tage seine Werke hinaus, „noch einmal zu kämpfen für sich und ihren Dichter. Er selbst, leider nie eine Kampfuatur, kann nicht mehr hinaus in die Welt, ihn fesseln uun wohl Alter und Krank¬ heit fortan an seine stille Klause, bis die noch stillere, engste ihn auf immer umschließen wird. Für sein Glück ist es zu spät — nicht sür seine Geltung." Es ist etwas in alledem, was von vornherein für den Dichter einnimmt, auch wenn man keineswegs wie Meister Jacques in Kellers „Züricher Novellen" der Meinung ist, daß „bescheiden sein halb gemalt, halb gemeißelt, halb ge¬ geigt und halb gesungen sei." Der schlichte Ernst dieses Vorworts weicht von dem Ton, in dem sich neuerdings die Dramatiker und Romanschriftsteller vernehmen lassen, ebenso sehr ab, wie sich die Stoffe, an deren Gestaltung Nissel sein Leben hingegeben hat, von den gegenwärtigen allein üblichen und wirksamen unterscheiden. Natürlich entscheidet diese Abweichung nicht über den Wert oder Unwert der Dichtungen. Die vier in dem Bande mitgeteilten Dramen „Perseus von Macedonien," „Heinrich der Löwe," „Agnes von Meran" und „Eine Nacht Corvins," deren Entstehungszeit in die siebziger und sechziger Jahre fällt, ja bis 1857 zurückreicht, sind erneute Zeugnisse von dem besondern, in seiner Art einzigen Einflüsse, den das Wiener Hofburgtheater auf eine lauge Reihe von Dramatikern seit den Tagen Ayrenhvffs und seit denen der Gebrüder Collin gehabt hat. Keine zweite deutsche Bühne hat so entschieden und er¬ kennbar die Thätigkeit zahlreicher Dramatiker erweckt und in eine bestimmte Richtung gelenkt, hat einen bestimmten Stil in dein Aufbau einer Handlung und in der rednerischen Aussprache leidenschaftlicher Seelenvorgänge so be¬ günstigt, wie die Bühne der Wiener Hofburg. Zu einer Zeit, wo es im übrigen Deutschland mit der Anerkennung des größten deutsch-österreichischen Dichters, Franz Grillparzers, uoch recht mißlich aussah, hat Grillparzer in Wien die Wirkungen und die Geltung eines klassischen Meisters gehabt, hat eine Gruppe oder vielmehr Folge von Schülern gesunden, die ans ihren Zu¬ sammenhang, ans die Gemeinsamkeit ihrer Welt- und Menschendarstellung, ihres dramatischen Stils und wiederum auf ihre naturgemäßen Verschieden¬ heiten noch nicht betrachtet und gewürdigt worden ist. Zu diese» Schülern,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/592>, abgerufen am 26.06.2024.