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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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zwingen, wacht jedesmal auf, so oft es die Würdigung einer Erscheinung gilt,
die im Sinne des Tages erfolglos, sonach auch unberühmt ist. Sie kann im
einzelnen Falle widerlegt und zerstreut werden, aber sie kehrt unfehlbar wieder,
da sie eben mit zu der Atmosphäre der Gegenwart gehört.

Aus wie grundverschiednen Ursachen der Masfenbeifall tüchtigen Be¬
strebungen und einem an sich ganz fruchtreichen Dichter- oder Künstlerleben
fehlen kann, ergiebt sich wieder einmal gegenüber der Erscheinung zweier Dichter,
von denen der eine, Franz Nissel, am Abend seiner Tage zum erstenmale
eine bescheidne ausgewählte Sammlung seiner in drei Jahrzehnten entstandnen
und aufgeführten Dramatischen Werke veranstaltet, der andre, der im
Jahre 1891 verstorbne Ludwig Eichrodt, kurz vor seinem Tode seine Ge¬
sammelten Dichtungen veröffentlicht hat.*) Weder Nissels noch Eichrvdts
Name gehört zu denen, die unsre Feuilletonisten "klangvoll" nennen. Auch
Leute, die sich etwas besser um die neuere deutsche Litteratur kümmern, als
die Wackern, bei denen Blumenthal Herrn Paul Lindau und Sudermaun
Herrn Oskar Blumenthal abgelöst hat, kennen weder den einen noch den an¬
dern Dichter, den zweiten vielleicht in der Maske des "Biedermaier," die er
jahrelang in den Fliegenden Blättern getragen hat, den ersten sicher nicht oder
nur dann, wenn sie zufällig einmal der Aufführung eines seiner Dramen bei¬
gewohnt haben.

Denn Franz Nissel ist ein Dichter, der es mit der Anschauung, daß der
dramatische Dichter nur die Bühne und keinesfalls die Litteratur im Auge
haben soll, sehr ernst genommen hat, und der heute, wo er mit vier seiner
Dramen vor das Publikum der Litteratur tritt, sich selbst eingestehen muß:
"Schon wiederholt hab ich es schmerzlich empfunden, welchen Nachteil es mir
gebracht hat, daß ich es versäumt habe, meine Dramen in Buchform erscheinen
zu lassen. Es würde sie das gleich nach ihrer Vollendung, einige, wie die
Schauspiele "Ein Wohlthäter" und "Heinrich der Löwe," das Trauerspiel
"Perseus von Macedonien" nach ihren mehr oder weniger erfolgreichen Auf¬
führungen gewiß allgemeiner bekannt gemacht haben, ja es hätte ihnen, auch
nachdem sie von den Nepertoiren verschwunden waren, noch eine bescheidne
Existenz fortfristen und manchen neuen Freund gewinnen können."

Man reibt sich unwillkürlich die Augen, ob mau auch recht gelesen hat.
Was? Ein Dichter, der mit einem Trauerspiel ("Agnes von Meran") den
vielumworbnen und vielbestrittueu Schillerpreis König Wilhelms des Ersten
errungen, der ein Vvlksstück "Die Zauberin vom Stein" am Wiener Burg-
theater zu zwanzig und mehr Ausführungen gebracht hat. spricht vou sich selbst
in so bescheidnen, zurückhaltendem Tone, erklärt sich nicht für den verkannten



*) Ausgewählte dramatische Werke von Franz Nissel. Stuttgart, I. G. Cottasche
Buchhandlung. Gesammelte Dichtungen von Ludwig Eichrodt. 2 Baude. Stute--
gard, Adolf Bonz und Comp.

zwingen, wacht jedesmal auf, so oft es die Würdigung einer Erscheinung gilt,
die im Sinne des Tages erfolglos, sonach auch unberühmt ist. Sie kann im
einzelnen Falle widerlegt und zerstreut werden, aber sie kehrt unfehlbar wieder,
da sie eben mit zu der Atmosphäre der Gegenwart gehört.

Aus wie grundverschiednen Ursachen der Masfenbeifall tüchtigen Be¬
strebungen und einem an sich ganz fruchtreichen Dichter- oder Künstlerleben
fehlen kann, ergiebt sich wieder einmal gegenüber der Erscheinung zweier Dichter,
von denen der eine, Franz Nissel, am Abend seiner Tage zum erstenmale
eine bescheidne ausgewählte Sammlung seiner in drei Jahrzehnten entstandnen
und aufgeführten Dramatischen Werke veranstaltet, der andre, der im
Jahre 1891 verstorbne Ludwig Eichrodt, kurz vor seinem Tode seine Ge¬
sammelten Dichtungen veröffentlicht hat.*) Weder Nissels noch Eichrvdts
Name gehört zu denen, die unsre Feuilletonisten „klangvoll" nennen. Auch
Leute, die sich etwas besser um die neuere deutsche Litteratur kümmern, als
die Wackern, bei denen Blumenthal Herrn Paul Lindau und Sudermaun
Herrn Oskar Blumenthal abgelöst hat, kennen weder den einen noch den an¬
dern Dichter, den zweiten vielleicht in der Maske des „Biedermaier," die er
jahrelang in den Fliegenden Blättern getragen hat, den ersten sicher nicht oder
nur dann, wenn sie zufällig einmal der Aufführung eines seiner Dramen bei¬
gewohnt haben.

Denn Franz Nissel ist ein Dichter, der es mit der Anschauung, daß der
dramatische Dichter nur die Bühne und keinesfalls die Litteratur im Auge
haben soll, sehr ernst genommen hat, und der heute, wo er mit vier seiner
Dramen vor das Publikum der Litteratur tritt, sich selbst eingestehen muß:
„Schon wiederholt hab ich es schmerzlich empfunden, welchen Nachteil es mir
gebracht hat, daß ich es versäumt habe, meine Dramen in Buchform erscheinen
zu lassen. Es würde sie das gleich nach ihrer Vollendung, einige, wie die
Schauspiele »Ein Wohlthäter« und »Heinrich der Löwe,« das Trauerspiel
»Perseus von Macedonien« nach ihren mehr oder weniger erfolgreichen Auf¬
führungen gewiß allgemeiner bekannt gemacht haben, ja es hätte ihnen, auch
nachdem sie von den Nepertoiren verschwunden waren, noch eine bescheidne
Existenz fortfristen und manchen neuen Freund gewinnen können."

Man reibt sich unwillkürlich die Augen, ob mau auch recht gelesen hat.
Was? Ein Dichter, der mit einem Trauerspiel („Agnes von Meran") den
vielumworbnen und vielbestrittueu Schillerpreis König Wilhelms des Ersten
errungen, der ein Vvlksstück „Die Zauberin vom Stein" am Wiener Burg-
theater zu zwanzig und mehr Ausführungen gebracht hat. spricht vou sich selbst
in so bescheidnen, zurückhaltendem Tone, erklärt sich nicht für den verkannten



*) Ausgewählte dramatische Werke von Franz Nissel. Stuttgart, I. G. Cottasche
Buchhandlung. Gesammelte Dichtungen von Ludwig Eichrodt. 2 Baude. Stute--
gard, Adolf Bonz und Comp.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/591>, abgerufen am 26.06.2024.