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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Moder Kommunismus noch Kapitalismus

gleich arm sind. Aber die Anhäufung großer Privatreichtümer ist uuter ge¬
wöhnlichen Umständen ohne einen Stand von Notleidenden nicht möglich, und
sollen sie entstehen, so muß vorher ein Teil des Volks elend gemacht werden.
Der Beweis dieser Behauptung bildet eigentlich den Kern des "Kapitals" von
Marx. Der scharfsinnige Grübler hat nun den Gegnern des Sozialismus den
großen Gefallen erwiesen, dem Elende der Philosophie, das er an Proudhon
verspottet/') selbst zu verfallen. Vielleicht darf er mit seinem Meister Hegel
sagen: Nur einer hat mich verstanden, und dieser eine hat mich mißverstanden.
Die beiden Hauptwahrheiten, die er entwickelt, sind eigentlich Gemeinplätze.
Die eine sagt, daß der Arbeiter nicht den vollen Wert seiner Arbeitsleistung
empfängt, sondern dem Brodherrn einen Teil abtreten muß. Das ist selbst¬
verständlich. Kein Mensch würde ein solcher Narr sein, ein Rittergut zu be¬
wirtschaften, wenn er den Leuten, die die Arbeit leisten, dem Inspektor, den
Knechten, Mägden und Tagelöhnern, den gesamten Ertrag überlassen müßte;
für einen Rittergutsbesitzer, der selbst nichts leistet, auch nicht in der Leitung
und Beaufsichtigung, und solche giebts ja, würde uicht einmal ein Bissen Brot
abfallen. Die praktisch wichtige Frage ist also nicht, ob der Arbeiter einen
Abzug erleide, sondern ob dieser Abzug ungebührlich groß sei. Die zweite
Wahrheit ist bei Lichte besehen keine andre, als die von Angebot und Nach¬
frage, oder genauer, daß das Gesetz von Angebot und Nachfrage auch für die
beiden Waren: Arbeit und Boden gilt. Da außer diesen beiden Gesetzen noch
andre Umstände in unbestimmbarer Menge und in beständigem Wechsel einer¬
seits auf den Arbeitslohn, andrerseits auf den Preis des fertigen Produkts
und den Profit des Fabrikanten einwirken, so ist der von Marx unternommne
Versuch, das Verhältnis dieser drei Größen in einer allgemein giltigen mathe¬
matischen Formel auszudrücken, von vornherein aussichtslos und gewinnt
auch dadurch nicht an Aussicht auf Erfolg, daß die Sache an einem andern
Zipfel angegriffen wird. Marx stellt nämlich in den Mittelpunkt seiner Unter¬
suchung die Begriffe des Werth und des Mehrwerth, d. h. des Wertteils, den
der Arbeiter dem Fabrikat zum Vorteil des Fabrikanten zusetzt, indem er z. B.
nicht bloß die sechs Stunden, in denen er seinen Lohn verdient, sondern zwölf
oder mehr Stunden arbeitet. Wir bestreiten durchaus nicht, daß Marx durch
seine theoretischen Untersuchungen die ökonomische Wissenschaft gefördert und



Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons "Philosophie des Elends"
von Karl Marx. Deutsch von E. Bernstein und K. Kautsky. Mit Vorwort und Noten von
Friedrich Engels. Zweite Auflage. Stuttgart, I. H. W. Dietz, 1392. -- Die erste Auslage
ist 1347 erschienen. Das Buch enthält nicht, was der Titel vermuten läßt, sondern nur die
Kritik einiger Sätze des genannten Werkes von Proudhon. Angehängt sind eine Kritik des
von John Bray, Proudhon und Rodbertus empfohlnen Arbeitsgeldes, das Marx sür utopisch
erklärt, und eine im Jahre 1349 zu Brüssel gehaltne Rede über den Freihandel, worin die
englische Antikornzollliga erbärmlich schlecht wegkommt.
Moder Kommunismus noch Kapitalismus

gleich arm sind. Aber die Anhäufung großer Privatreichtümer ist uuter ge¬
wöhnlichen Umständen ohne einen Stand von Notleidenden nicht möglich, und
sollen sie entstehen, so muß vorher ein Teil des Volks elend gemacht werden.
Der Beweis dieser Behauptung bildet eigentlich den Kern des „Kapitals" von
Marx. Der scharfsinnige Grübler hat nun den Gegnern des Sozialismus den
großen Gefallen erwiesen, dem Elende der Philosophie, das er an Proudhon
verspottet/') selbst zu verfallen. Vielleicht darf er mit seinem Meister Hegel
sagen: Nur einer hat mich verstanden, und dieser eine hat mich mißverstanden.
Die beiden Hauptwahrheiten, die er entwickelt, sind eigentlich Gemeinplätze.
Die eine sagt, daß der Arbeiter nicht den vollen Wert seiner Arbeitsleistung
empfängt, sondern dem Brodherrn einen Teil abtreten muß. Das ist selbst¬
verständlich. Kein Mensch würde ein solcher Narr sein, ein Rittergut zu be¬
wirtschaften, wenn er den Leuten, die die Arbeit leisten, dem Inspektor, den
Knechten, Mägden und Tagelöhnern, den gesamten Ertrag überlassen müßte;
für einen Rittergutsbesitzer, der selbst nichts leistet, auch nicht in der Leitung
und Beaufsichtigung, und solche giebts ja, würde uicht einmal ein Bissen Brot
abfallen. Die praktisch wichtige Frage ist also nicht, ob der Arbeiter einen
Abzug erleide, sondern ob dieser Abzug ungebührlich groß sei. Die zweite
Wahrheit ist bei Lichte besehen keine andre, als die von Angebot und Nach¬
frage, oder genauer, daß das Gesetz von Angebot und Nachfrage auch für die
beiden Waren: Arbeit und Boden gilt. Da außer diesen beiden Gesetzen noch
andre Umstände in unbestimmbarer Menge und in beständigem Wechsel einer¬
seits auf den Arbeitslohn, andrerseits auf den Preis des fertigen Produkts
und den Profit des Fabrikanten einwirken, so ist der von Marx unternommne
Versuch, das Verhältnis dieser drei Größen in einer allgemein giltigen mathe¬
matischen Formel auszudrücken, von vornherein aussichtslos und gewinnt
auch dadurch nicht an Aussicht auf Erfolg, daß die Sache an einem andern
Zipfel angegriffen wird. Marx stellt nämlich in den Mittelpunkt seiner Unter¬
suchung die Begriffe des Werth und des Mehrwerth, d. h. des Wertteils, den
der Arbeiter dem Fabrikat zum Vorteil des Fabrikanten zusetzt, indem er z. B.
nicht bloß die sechs Stunden, in denen er seinen Lohn verdient, sondern zwölf
oder mehr Stunden arbeitet. Wir bestreiten durchaus nicht, daß Marx durch
seine theoretischen Untersuchungen die ökonomische Wissenschaft gefördert und



Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons „Philosophie des Elends"
von Karl Marx. Deutsch von E. Bernstein und K. Kautsky. Mit Vorwort und Noten von
Friedrich Engels. Zweite Auflage. Stuttgart, I. H. W. Dietz, 1392. — Die erste Auslage
ist 1347 erschienen. Das Buch enthält nicht, was der Titel vermuten läßt, sondern nur die
Kritik einiger Sätze des genannten Werkes von Proudhon. Angehängt sind eine Kritik des
von John Bray, Proudhon und Rodbertus empfohlnen Arbeitsgeldes, das Marx sür utopisch
erklärt, und eine im Jahre 1349 zu Brüssel gehaltne Rede über den Freihandel, worin die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/570>, abgerufen am 26.06.2024.