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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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der Bequemlichkeiten und Genüsse, die die einen vor den andern voraus hatten,
äußerst gering war. Die Lage des heutigen Armen ist weit schlimmer als die
des mittelalterlichen, seine Wohnung ist oft schlechter, als die schmutzige Hütte
eiues leibeignen Knechtes war, oder er irrt obdachlos und ohne die Aussicht,
am Abend im Kloster ein freundliches Obdach zu finden, auf der Landstraße
oder zwischeu städtischen Palästen umher und muß dabei einen Luxus, eine
Bequemlichkeit und einen Lebensgenuß der Reichen sehen, die das äußere Glück
aller frühern Geschlechter überbieten und von dem eines spätern kaum werden
überboten werden. Wird doch zu Gunsten des Reichen die Natur so voll¬
kommen gebändigt und ausgenutzt, daß für ihn der Winter, der grimmigste
Feind der Armen, die genußreichste aller Jahreszeiten ist, die Saison x"^ e^/-"^.
Große Volksnöte endlich, wie Seuchen und Teuerungen, erschienen im allge¬
meinen so deutlich als Wirkungen der Natur oder, wie mau es damals auf¬
faßte, als Strafen Gottes, daß die Einrichtungen von Staat und Gesellschaft
nicht dafür verantwortlich gemacht wurden, nur allenfalls gegen die Juden
schöpfte das Volk Verdacht; auch gingen mit ihnen selbst ihre Leiden rasch
vorüber, während nicht selten gute Wirkungen, wie Steigerung des Arbeits¬
lohns, zurückblieben. Daher gerieten die Massen niemals dauernd in eine ge¬
fährliche Stimmung wie heute, wo die schwächer!, Seelen unter den Armen
schlapp und stumpf werden und ohne Gegenwehr in den Sumpf versinken, die
kräftigern ohne Ausnahme von grimmigem Haß gegen die bestehende Ordnung
und gegen die Reichen erfüllt sind; sondern wie bei Kindern, die zwar weinen,
wenn sie schlüge bekommen, aber gleich darauf wieder lachen, war auch bei
ihnen mit dem Ende der Plage sofort die fröhliche, lebenslustige und that¬
kräftige Stimmung wieder da.

Die Frage nun, ob das moderne Elend mit dem modernen Reichtum
uicht allein im Kontrast, sondern auch im ursächlichen Zusammenhange steht,
ob unsre Armen eben darum so arm sind, weil unsre Reichen so reich sind,
ist eigentlich in jenen Aufsätzen schon mittelbar beantwortet worden, sie muß
aber doch noch besonders beleuchtet werden, weil auch in diesem Punkte die
Versäumnis klarer Unterscheidung den Streit darüber unfruchtbar und endlos
gemacht hat. An sich ist der Satz, daß der Reichtum der einen die Armut
der andern sei, falsch. Denn da die Produktivität der Arbeit durch Arbeits¬
teilung erhöht wird, Differenzirung der sozialen Lage und der Vermögen aber
eine unabwendbare Folge der Arbeitsteilung ist, so läßt es sich recht gut
denken und kommt in Wirklichkeit oft genug vor, daß solche Differenzirung
alle ohne Ausnahme bis zum ärmsten hinab bereichert. Obwohl der nieder-
schlesische Bauernknecht nicht den zehnten Teil so reich ist wie sein Bauer und
nicht den hundertsten Teil so reich wie der gnädige Herr im Dorfe, so ist er
doch viel reicher und lebt nicht allein menschlicher, sondern auch sinnlich an¬
genehmer, als der Häuptling einer Jndianerhvrde, deren Mitglieder sämtlich


iveder Aommlmisinus noch Aapit^lisinus

der Bequemlichkeiten und Genüsse, die die einen vor den andern voraus hatten,
äußerst gering war. Die Lage des heutigen Armen ist weit schlimmer als die
des mittelalterlichen, seine Wohnung ist oft schlechter, als die schmutzige Hütte
eiues leibeignen Knechtes war, oder er irrt obdachlos und ohne die Aussicht,
am Abend im Kloster ein freundliches Obdach zu finden, auf der Landstraße
oder zwischeu städtischen Palästen umher und muß dabei einen Luxus, eine
Bequemlichkeit und einen Lebensgenuß der Reichen sehen, die das äußere Glück
aller frühern Geschlechter überbieten und von dem eines spätern kaum werden
überboten werden. Wird doch zu Gunsten des Reichen die Natur so voll¬
kommen gebändigt und ausgenutzt, daß für ihn der Winter, der grimmigste
Feind der Armen, die genußreichste aller Jahreszeiten ist, die Saison x«^ e^/-»^.
Große Volksnöte endlich, wie Seuchen und Teuerungen, erschienen im allge¬
meinen so deutlich als Wirkungen der Natur oder, wie mau es damals auf¬
faßte, als Strafen Gottes, daß die Einrichtungen von Staat und Gesellschaft
nicht dafür verantwortlich gemacht wurden, nur allenfalls gegen die Juden
schöpfte das Volk Verdacht; auch gingen mit ihnen selbst ihre Leiden rasch
vorüber, während nicht selten gute Wirkungen, wie Steigerung des Arbeits¬
lohns, zurückblieben. Daher gerieten die Massen niemals dauernd in eine ge¬
fährliche Stimmung wie heute, wo die schwächer!, Seelen unter den Armen
schlapp und stumpf werden und ohne Gegenwehr in den Sumpf versinken, die
kräftigern ohne Ausnahme von grimmigem Haß gegen die bestehende Ordnung
und gegen die Reichen erfüllt sind; sondern wie bei Kindern, die zwar weinen,
wenn sie schlüge bekommen, aber gleich darauf wieder lachen, war auch bei
ihnen mit dem Ende der Plage sofort die fröhliche, lebenslustige und that¬
kräftige Stimmung wieder da.

Die Frage nun, ob das moderne Elend mit dem modernen Reichtum
uicht allein im Kontrast, sondern auch im ursächlichen Zusammenhange steht,
ob unsre Armen eben darum so arm sind, weil unsre Reichen so reich sind,
ist eigentlich in jenen Aufsätzen schon mittelbar beantwortet worden, sie muß
aber doch noch besonders beleuchtet werden, weil auch in diesem Punkte die
Versäumnis klarer Unterscheidung den Streit darüber unfruchtbar und endlos
gemacht hat. An sich ist der Satz, daß der Reichtum der einen die Armut
der andern sei, falsch. Denn da die Produktivität der Arbeit durch Arbeits¬
teilung erhöht wird, Differenzirung der sozialen Lage und der Vermögen aber
eine unabwendbare Folge der Arbeitsteilung ist, so läßt es sich recht gut
denken und kommt in Wirklichkeit oft genug vor, daß solche Differenzirung
alle ohne Ausnahme bis zum ärmsten hinab bereichert. Obwohl der nieder-
schlesische Bauernknecht nicht den zehnten Teil so reich ist wie sein Bauer und
nicht den hundertsten Teil so reich wie der gnädige Herr im Dorfe, so ist er
doch viel reicher und lebt nicht allein menschlicher, sondern auch sinnlich an¬
genehmer, als der Häuptling einer Jndianerhvrde, deren Mitglieder sämtlich


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[0569] iveder Aommlmisinus noch Aapit^lisinus der Bequemlichkeiten und Genüsse, die die einen vor den andern voraus hatten, äußerst gering war. Die Lage des heutigen Armen ist weit schlimmer als die des mittelalterlichen, seine Wohnung ist oft schlechter, als die schmutzige Hütte eiues leibeignen Knechtes war, oder er irrt obdachlos und ohne die Aussicht, am Abend im Kloster ein freundliches Obdach zu finden, auf der Landstraße oder zwischeu städtischen Palästen umher und muß dabei einen Luxus, eine Bequemlichkeit und einen Lebensgenuß der Reichen sehen, die das äußere Glück aller frühern Geschlechter überbieten und von dem eines spätern kaum werden überboten werden. Wird doch zu Gunsten des Reichen die Natur so voll¬ kommen gebändigt und ausgenutzt, daß für ihn der Winter, der grimmigste Feind der Armen, die genußreichste aller Jahreszeiten ist, die Saison x«^ e^/-»^. Große Volksnöte endlich, wie Seuchen und Teuerungen, erschienen im allge¬ meinen so deutlich als Wirkungen der Natur oder, wie mau es damals auf¬ faßte, als Strafen Gottes, daß die Einrichtungen von Staat und Gesellschaft nicht dafür verantwortlich gemacht wurden, nur allenfalls gegen die Juden schöpfte das Volk Verdacht; auch gingen mit ihnen selbst ihre Leiden rasch vorüber, während nicht selten gute Wirkungen, wie Steigerung des Arbeits¬ lohns, zurückblieben. Daher gerieten die Massen niemals dauernd in eine ge¬ fährliche Stimmung wie heute, wo die schwächer!, Seelen unter den Armen schlapp und stumpf werden und ohne Gegenwehr in den Sumpf versinken, die kräftigern ohne Ausnahme von grimmigem Haß gegen die bestehende Ordnung und gegen die Reichen erfüllt sind; sondern wie bei Kindern, die zwar weinen, wenn sie schlüge bekommen, aber gleich darauf wieder lachen, war auch bei ihnen mit dem Ende der Plage sofort die fröhliche, lebenslustige und that¬ kräftige Stimmung wieder da. Die Frage nun, ob das moderne Elend mit dem modernen Reichtum uicht allein im Kontrast, sondern auch im ursächlichen Zusammenhange steht, ob unsre Armen eben darum so arm sind, weil unsre Reichen so reich sind, ist eigentlich in jenen Aufsätzen schon mittelbar beantwortet worden, sie muß aber doch noch besonders beleuchtet werden, weil auch in diesem Punkte die Versäumnis klarer Unterscheidung den Streit darüber unfruchtbar und endlos gemacht hat. An sich ist der Satz, daß der Reichtum der einen die Armut der andern sei, falsch. Denn da die Produktivität der Arbeit durch Arbeits¬ teilung erhöht wird, Differenzirung der sozialen Lage und der Vermögen aber eine unabwendbare Folge der Arbeitsteilung ist, so läßt es sich recht gut denken und kommt in Wirklichkeit oft genug vor, daß solche Differenzirung alle ohne Ausnahme bis zum ärmsten hinab bereichert. Obwohl der nieder- schlesische Bauernknecht nicht den zehnten Teil so reich ist wie sein Bauer und nicht den hundertsten Teil so reich wie der gnädige Herr im Dorfe, so ist er doch viel reicher und lebt nicht allein menschlicher, sondern auch sinnlich an¬ genehmer, als der Häuptling einer Jndianerhvrde, deren Mitglieder sämtlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/569>, abgerufen am 26.06.2024.