Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gin Blick in die französische Volksschule

das zu erreichen, sollen die Lesestoffe aus dem Besten unsrer klassischen und
populären Litteratur, soweit sie dem Verständnis der Kinder zugänglich ist,
ausgewählt werden. Der praktischen Richtung tritt also hier eine ideale, und
da sie insbesondre durch Gaben der schönen Litteratur geweckt werden soll, eine
ästhetische entgegen. Da durch das Lesen der bewährten litterarischen Muster¬
stücke zugleich eine gewisse Bekanntschaft mit der nationalen Litteratur -- man
glaubt, daß der nationale Geist in der Volksschule durch die Einführung in
die nationalen Litteraturschätze eine besondre Stärkung erhält -- bewirkt
werden soll, können wir diese Richtung auch eine litterarische nennen. So
das deutsche Volksschullesebuch der Gegenwart.

Es ist ein hoher, idealer Geist, der es durchweht; aber freilich, es fragt
sich, ob dieser Geist den praktischen Bedürfnissen, die durch die Vvlksschul-
bildung befriedigt werden sollen, ausreichend entspricht, und ob unser deutsches
Volksschnllesebuch nicht Grund hat, seinen idealen Flug ein wenig zu mäßigen/')

Ein ganz andres Bild gewähren uns die gegenwärtigen französischen
Lesebücher. Der am meisten in die Augen springende Unterschied besteht darin,
daß sie keine litterarischen Sammlungen oder Blumeulescu sein wollen, wie
unsre deutschen. Sie folgen nicht wie bei uns der Regel, daß nur solche
Stücke aufgenommen werden dürfen, die von "bewährten," womöglich klassischen
Autoren herrühren. Ihre Verfasser glauben nicht, daß der Grundsatz, für die
Jngend sei das Beste eben gerade gut genug, dazu nötige, von allen eignen
Arbeiten abzusehen und den Stoff ausschließlich, wenn auch zum Teil nur
bruchstückweise, der Nationallitteratur zu entlehnen. Die französischen Lese¬
bücher haben deshalb einen mehr einheitlichen Charakter, ihr Inhalt ist mehr
aus einem Gusse, von den Herausgebern selbst verfaßt, und zwar in einem
für das Bedürfnis der Jugend unmittelbar berechneten Tone. Deshalb ver¬
schmähen sie auch die bei uns noch immer beliebte Art der äußern Anord¬
nung des Stoffs. Bei uns reiht man nach dem Vorgänge von Philipp Wacker¬
nagel die einzelnen Lesestücke meist in buntester Abwechslung an einander, ohne
die sachlich zusammengehörenden zusammenzustellen. Es entscheidet der Grund¬
satz Viu'iötg,3 ÄLlsotÄt, -- je bunter, desto besser. Wackernagel berief sich zur
Rechtfertigung dieser Art vou Anordnung oder Unordnung auf das Bild
einer an anmutigen Abwechslungen von Szenen reichen Gartenanlage, wo¬
mit er zugleich zu erkennen gab, daß er es in seinem Lesebuch nicht auf sach¬
liche Belehrung und auf Grund von sachlicher Belehrung auf sprachliche
Übung und Bereicherung absah, sondern vielmehr auf allgemeinere geistige,
insbesondre ästhetische Anregung. Die französischen Bücher dagegen halten



*1 Eine eingehendere Kritik würde mich hier zu weit führen; ich verweise auf meine
soeben im Verlage von Ferdinand Hirt in Leipzig erschienenen "Vorlesungen über den er¬
ziehenden Unterricht," worin ich meine Wünsche in Bezug auf eine praktischere Richtung
unsrer Volksschnlbildnng und so auch unsers Volksschullescbuchs vorgetragen habe.
Gin Blick in die französische Volksschule

das zu erreichen, sollen die Lesestoffe aus dem Besten unsrer klassischen und
populären Litteratur, soweit sie dem Verständnis der Kinder zugänglich ist,
ausgewählt werden. Der praktischen Richtung tritt also hier eine ideale, und
da sie insbesondre durch Gaben der schönen Litteratur geweckt werden soll, eine
ästhetische entgegen. Da durch das Lesen der bewährten litterarischen Muster¬
stücke zugleich eine gewisse Bekanntschaft mit der nationalen Litteratur — man
glaubt, daß der nationale Geist in der Volksschule durch die Einführung in
die nationalen Litteraturschätze eine besondre Stärkung erhält — bewirkt
werden soll, können wir diese Richtung auch eine litterarische nennen. So
das deutsche Volksschullesebuch der Gegenwart.

Es ist ein hoher, idealer Geist, der es durchweht; aber freilich, es fragt
sich, ob dieser Geist den praktischen Bedürfnissen, die durch die Vvlksschul-
bildung befriedigt werden sollen, ausreichend entspricht, und ob unser deutsches
Volksschnllesebuch nicht Grund hat, seinen idealen Flug ein wenig zu mäßigen/')

Ein ganz andres Bild gewähren uns die gegenwärtigen französischen
Lesebücher. Der am meisten in die Augen springende Unterschied besteht darin,
daß sie keine litterarischen Sammlungen oder Blumeulescu sein wollen, wie
unsre deutschen. Sie folgen nicht wie bei uns der Regel, daß nur solche
Stücke aufgenommen werden dürfen, die von „bewährten," womöglich klassischen
Autoren herrühren. Ihre Verfasser glauben nicht, daß der Grundsatz, für die
Jngend sei das Beste eben gerade gut genug, dazu nötige, von allen eignen
Arbeiten abzusehen und den Stoff ausschließlich, wenn auch zum Teil nur
bruchstückweise, der Nationallitteratur zu entlehnen. Die französischen Lese¬
bücher haben deshalb einen mehr einheitlichen Charakter, ihr Inhalt ist mehr
aus einem Gusse, von den Herausgebern selbst verfaßt, und zwar in einem
für das Bedürfnis der Jugend unmittelbar berechneten Tone. Deshalb ver¬
schmähen sie auch die bei uns noch immer beliebte Art der äußern Anord¬
nung des Stoffs. Bei uns reiht man nach dem Vorgänge von Philipp Wacker¬
nagel die einzelnen Lesestücke meist in buntester Abwechslung an einander, ohne
die sachlich zusammengehörenden zusammenzustellen. Es entscheidet der Grund¬
satz Viu'iötg,3 ÄLlsotÄt, — je bunter, desto besser. Wackernagel berief sich zur
Rechtfertigung dieser Art vou Anordnung oder Unordnung auf das Bild
einer an anmutigen Abwechslungen von Szenen reichen Gartenanlage, wo¬
mit er zugleich zu erkennen gab, daß er es in seinem Lesebuch nicht auf sach¬
liche Belehrung und auf Grund von sachlicher Belehrung auf sprachliche
Übung und Bereicherung absah, sondern vielmehr auf allgemeinere geistige,
insbesondre ästhetische Anregung. Die französischen Bücher dagegen halten



*1 Eine eingehendere Kritik würde mich hier zu weit führen; ich verweise auf meine
soeben im Verlage von Ferdinand Hirt in Leipzig erschienenen „Vorlesungen über den er¬
ziehenden Unterricht," worin ich meine Wünsche in Bezug auf eine praktischere Richtung
unsrer Volksschnlbildnng und so auch unsers Volksschullescbuchs vorgetragen habe.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0534" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214326"/>
          <fw type="header" place="top"> Gin Blick in die französische Volksschule</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1856" prev="#ID_1855"> das zu erreichen, sollen die Lesestoffe aus dem Besten unsrer klassischen und<lb/>
populären Litteratur, soweit sie dem Verständnis der Kinder zugänglich ist,<lb/>
ausgewählt werden. Der praktischen Richtung tritt also hier eine ideale, und<lb/>
da sie insbesondre durch Gaben der schönen Litteratur geweckt werden soll, eine<lb/>
ästhetische entgegen. Da durch das Lesen der bewährten litterarischen Muster¬<lb/>
stücke zugleich eine gewisse Bekanntschaft mit der nationalen Litteratur &#x2014; man<lb/>
glaubt, daß der nationale Geist in der Volksschule durch die Einführung in<lb/>
die nationalen Litteraturschätze eine besondre Stärkung erhält &#x2014; bewirkt<lb/>
werden soll, können wir diese Richtung auch eine litterarische nennen. So<lb/>
das deutsche Volksschullesebuch der Gegenwart.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1857"> Es ist ein hoher, idealer Geist, der es durchweht; aber freilich, es fragt<lb/>
sich, ob dieser Geist den praktischen Bedürfnissen, die durch die Vvlksschul-<lb/>
bildung befriedigt werden sollen, ausreichend entspricht, und ob unser deutsches<lb/>
Volksschnllesebuch nicht Grund hat, seinen idealen Flug ein wenig zu mäßigen/')</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1858" next="#ID_1859"> Ein ganz andres Bild gewähren uns die gegenwärtigen französischen<lb/>
Lesebücher. Der am meisten in die Augen springende Unterschied besteht darin,<lb/>
daß sie keine litterarischen Sammlungen oder Blumeulescu sein wollen, wie<lb/>
unsre deutschen. Sie folgen nicht wie bei uns der Regel, daß nur solche<lb/>
Stücke aufgenommen werden dürfen, die von &#x201E;bewährten," womöglich klassischen<lb/>
Autoren herrühren. Ihre Verfasser glauben nicht, daß der Grundsatz, für die<lb/>
Jngend sei das Beste eben gerade gut genug, dazu nötige, von allen eignen<lb/>
Arbeiten abzusehen und den Stoff ausschließlich, wenn auch zum Teil nur<lb/>
bruchstückweise, der Nationallitteratur zu entlehnen. Die französischen Lese¬<lb/>
bücher haben deshalb einen mehr einheitlichen Charakter, ihr Inhalt ist mehr<lb/>
aus einem Gusse, von den Herausgebern selbst verfaßt, und zwar in einem<lb/>
für das Bedürfnis der Jugend unmittelbar berechneten Tone. Deshalb ver¬<lb/>
schmähen sie auch die bei uns noch immer beliebte Art der äußern Anord¬<lb/>
nung des Stoffs. Bei uns reiht man nach dem Vorgänge von Philipp Wacker¬<lb/>
nagel die einzelnen Lesestücke meist in buntester Abwechslung an einander, ohne<lb/>
die sachlich zusammengehörenden zusammenzustellen. Es entscheidet der Grund¬<lb/>
satz Viu'iötg,3 ÄLlsotÄt, &#x2014; je bunter, desto besser. Wackernagel berief sich zur<lb/>
Rechtfertigung dieser Art vou Anordnung oder Unordnung auf das Bild<lb/>
einer an anmutigen Abwechslungen von Szenen reichen Gartenanlage, wo¬<lb/>
mit er zugleich zu erkennen gab, daß er es in seinem Lesebuch nicht auf sach¬<lb/>
liche Belehrung und auf Grund von sachlicher Belehrung auf sprachliche<lb/>
Übung und Bereicherung absah, sondern vielmehr auf allgemeinere geistige,<lb/>
insbesondre ästhetische Anregung.  Die französischen Bücher dagegen halten</p><lb/>
          <note xml:id="FID_41" place="foot"> *1 Eine eingehendere Kritik würde mich hier zu weit führen; ich verweise auf meine<lb/>
soeben im Verlage von Ferdinand Hirt in Leipzig erschienenen &#x201E;Vorlesungen über den er¬<lb/>
ziehenden Unterricht," worin ich meine Wünsche in Bezug auf eine praktischere Richtung<lb/>
unsrer Volksschnlbildnng und so auch unsers Volksschullescbuchs vorgetragen habe.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0534] Gin Blick in die französische Volksschule das zu erreichen, sollen die Lesestoffe aus dem Besten unsrer klassischen und populären Litteratur, soweit sie dem Verständnis der Kinder zugänglich ist, ausgewählt werden. Der praktischen Richtung tritt also hier eine ideale, und da sie insbesondre durch Gaben der schönen Litteratur geweckt werden soll, eine ästhetische entgegen. Da durch das Lesen der bewährten litterarischen Muster¬ stücke zugleich eine gewisse Bekanntschaft mit der nationalen Litteratur — man glaubt, daß der nationale Geist in der Volksschule durch die Einführung in die nationalen Litteraturschätze eine besondre Stärkung erhält — bewirkt werden soll, können wir diese Richtung auch eine litterarische nennen. So das deutsche Volksschullesebuch der Gegenwart. Es ist ein hoher, idealer Geist, der es durchweht; aber freilich, es fragt sich, ob dieser Geist den praktischen Bedürfnissen, die durch die Vvlksschul- bildung befriedigt werden sollen, ausreichend entspricht, und ob unser deutsches Volksschnllesebuch nicht Grund hat, seinen idealen Flug ein wenig zu mäßigen/') Ein ganz andres Bild gewähren uns die gegenwärtigen französischen Lesebücher. Der am meisten in die Augen springende Unterschied besteht darin, daß sie keine litterarischen Sammlungen oder Blumeulescu sein wollen, wie unsre deutschen. Sie folgen nicht wie bei uns der Regel, daß nur solche Stücke aufgenommen werden dürfen, die von „bewährten," womöglich klassischen Autoren herrühren. Ihre Verfasser glauben nicht, daß der Grundsatz, für die Jngend sei das Beste eben gerade gut genug, dazu nötige, von allen eignen Arbeiten abzusehen und den Stoff ausschließlich, wenn auch zum Teil nur bruchstückweise, der Nationallitteratur zu entlehnen. Die französischen Lese¬ bücher haben deshalb einen mehr einheitlichen Charakter, ihr Inhalt ist mehr aus einem Gusse, von den Herausgebern selbst verfaßt, und zwar in einem für das Bedürfnis der Jugend unmittelbar berechneten Tone. Deshalb ver¬ schmähen sie auch die bei uns noch immer beliebte Art der äußern Anord¬ nung des Stoffs. Bei uns reiht man nach dem Vorgänge von Philipp Wacker¬ nagel die einzelnen Lesestücke meist in buntester Abwechslung an einander, ohne die sachlich zusammengehörenden zusammenzustellen. Es entscheidet der Grund¬ satz Viu'iötg,3 ÄLlsotÄt, — je bunter, desto besser. Wackernagel berief sich zur Rechtfertigung dieser Art vou Anordnung oder Unordnung auf das Bild einer an anmutigen Abwechslungen von Szenen reichen Gartenanlage, wo¬ mit er zugleich zu erkennen gab, daß er es in seinem Lesebuch nicht auf sach¬ liche Belehrung und auf Grund von sachlicher Belehrung auf sprachliche Übung und Bereicherung absah, sondern vielmehr auf allgemeinere geistige, insbesondre ästhetische Anregung. Die französischen Bücher dagegen halten *1 Eine eingehendere Kritik würde mich hier zu weit führen; ich verweise auf meine soeben im Verlage von Ferdinand Hirt in Leipzig erschienenen „Vorlesungen über den er¬ ziehenden Unterricht," worin ich meine Wünsche in Bezug auf eine praktischere Richtung unsrer Volksschnlbildnng und so auch unsers Volksschullescbuchs vorgetragen habe.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/534
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/534>, abgerufen am 26.06.2024.