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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Ein Blick in die französische Volksschule

und leibliche Wohl seiner in Unwissenheit und Aberglauben versunkner Guts¬
unterthanen in dem bösen Hunger- und Krankheitsjnhre 1772 das erste Lese¬
buch geschrieben hat, gewiß ohne zu ahnen, wieviel Tausende und Abertausende
von ähnlichen Schriften für die Bildung des gemeinen Mannes in allen Kultur¬
völkern der Erde seinem ersten bescheidnen Versuche nachfolgen würden. Sein
Grundgedanke bei der Abfassung seines "Bauernfreundes," wie er sein erstes
Volksschullesebnch nannte, war ein ganz praktischer. Er wollte den Kindern
der Dorfschule einen Lesestoff bieten, der ans ihre unmittelbaren Lebensverhält-
nisse einginge, der ihnen insbesondre die sittlichen Pflichten, die ihnen im täg¬
lichen Leben obliegen, die Tugenden, die sie zu üben, die Laster, die sie zu
meiden haben, vorhalten und zugleich gewisse gemeinnützige Kenntnisse zur
Weckung des Nachdenkens, zur Bekämpfung des Aberglaubens verbreiten sollte.
Damit sollte die Kluft "zwischeu Fibel und Bibel" -- einen andern Lesestoff
kannte die damalige Volksschule nicht -- ausgefüllt werden. Diese praktische
Richtung blieb, wie gesagt, bei seinen zahlreichen Nachfolgern längere Zeit
hindurch in Deutschland maßgebend, wurde aber endlich verlassen, da mau
faud, daß die ewigen "moralischen" Geschichten nicht bloß langweilig für die
Jugend wurden, sondern auch, daß die Art von Moral, die sie enthielten,
doch gnr zu oberflächlich und äußerlich und deshalb für eine tiefer gehende
Erziehung ungeeignet war.

So kam eine andre Richtung auf, von der man Wohl sagen kann, daß
sie in ihren Vorzügen und ihren Einseitigkeiten dem deutschen Charakter mehr
entsprach. Diese hat bis zur Stunde die Herrschaft behauptet. Sie geht davon
aus, daß sittliche und geistige Erziehung, d. h. Emporhebung zu einem höhern
sittlichen und geistigen Lebensgehalte nur dann möglich ist, wenn Geist und
Gemüt, wenn insbesondre das gesamte Empfindungsleben der Schüler bereichert,
vertieft, veredelt wird, wenn die sittlichen Güter, Familie, Vaterland', re¬
ligiöse und allgemein "umschliche Gemeinschaft ihnen ihrem Werte nach zum
Bewußtsein gebracht werden, wenn man sie nicht durch die allernächst liegende!?
Nützlichkeitsgründe zum sittlich tadellosen Betragen anhält, sondern ihnen viel¬
mehr das Gute und Edle in Erscheinungen, die das Gemüt ergreifen, vor
Augen stellt, und wenn sie lernen, zu dem Guten und den Guten mit Ehr¬
furcht aufzublicken. Durch geschichtliche Lebensbilder soll in den Kindern die
Verehrung sür die großen vaterländischen Heldengestalten geweckt werden, edles
Empfinden für Gott, Natur und Menschenleben soll ihnen nahe gebracht werden.
Selbst die sogenannten realistischen Stoffe, insbesondre die naturkundlichen
und geographischen, sollen nicht als Hilfsmittel zur Aneignung der erforder¬
lichen materialen Kenntnisse geboten werden, sondern der Vertiefung dienen,
die Phantasie, das Nachdenken anregen, kurz der allgemeinen Geistesbildung --
wir würden im Sinne einer neuern pädagogischen Schule sagen können: der
Weckung einer gewissen Vielseitigkeit geistiger Interessen zu gute kommen. Um


Ein Blick in die französische Volksschule

und leibliche Wohl seiner in Unwissenheit und Aberglauben versunkner Guts¬
unterthanen in dem bösen Hunger- und Krankheitsjnhre 1772 das erste Lese¬
buch geschrieben hat, gewiß ohne zu ahnen, wieviel Tausende und Abertausende
von ähnlichen Schriften für die Bildung des gemeinen Mannes in allen Kultur¬
völkern der Erde seinem ersten bescheidnen Versuche nachfolgen würden. Sein
Grundgedanke bei der Abfassung seines „Bauernfreundes," wie er sein erstes
Volksschullesebnch nannte, war ein ganz praktischer. Er wollte den Kindern
der Dorfschule einen Lesestoff bieten, der ans ihre unmittelbaren Lebensverhält-
nisse einginge, der ihnen insbesondre die sittlichen Pflichten, die ihnen im täg¬
lichen Leben obliegen, die Tugenden, die sie zu üben, die Laster, die sie zu
meiden haben, vorhalten und zugleich gewisse gemeinnützige Kenntnisse zur
Weckung des Nachdenkens, zur Bekämpfung des Aberglaubens verbreiten sollte.
Damit sollte die Kluft „zwischeu Fibel und Bibel" — einen andern Lesestoff
kannte die damalige Volksschule nicht — ausgefüllt werden. Diese praktische
Richtung blieb, wie gesagt, bei seinen zahlreichen Nachfolgern längere Zeit
hindurch in Deutschland maßgebend, wurde aber endlich verlassen, da mau
faud, daß die ewigen „moralischen" Geschichten nicht bloß langweilig für die
Jugend wurden, sondern auch, daß die Art von Moral, die sie enthielten,
doch gnr zu oberflächlich und äußerlich und deshalb für eine tiefer gehende
Erziehung ungeeignet war.

So kam eine andre Richtung auf, von der man Wohl sagen kann, daß
sie in ihren Vorzügen und ihren Einseitigkeiten dem deutschen Charakter mehr
entsprach. Diese hat bis zur Stunde die Herrschaft behauptet. Sie geht davon
aus, daß sittliche und geistige Erziehung, d. h. Emporhebung zu einem höhern
sittlichen und geistigen Lebensgehalte nur dann möglich ist, wenn Geist und
Gemüt, wenn insbesondre das gesamte Empfindungsleben der Schüler bereichert,
vertieft, veredelt wird, wenn die sittlichen Güter, Familie, Vaterland', re¬
ligiöse und allgemein »umschliche Gemeinschaft ihnen ihrem Werte nach zum
Bewußtsein gebracht werden, wenn man sie nicht durch die allernächst liegende!?
Nützlichkeitsgründe zum sittlich tadellosen Betragen anhält, sondern ihnen viel¬
mehr das Gute und Edle in Erscheinungen, die das Gemüt ergreifen, vor
Augen stellt, und wenn sie lernen, zu dem Guten und den Guten mit Ehr¬
furcht aufzublicken. Durch geschichtliche Lebensbilder soll in den Kindern die
Verehrung sür die großen vaterländischen Heldengestalten geweckt werden, edles
Empfinden für Gott, Natur und Menschenleben soll ihnen nahe gebracht werden.
Selbst die sogenannten realistischen Stoffe, insbesondre die naturkundlichen
und geographischen, sollen nicht als Hilfsmittel zur Aneignung der erforder¬
lichen materialen Kenntnisse geboten werden, sondern der Vertiefung dienen,
die Phantasie, das Nachdenken anregen, kurz der allgemeinen Geistesbildung —
wir würden im Sinne einer neuern pädagogischen Schule sagen können: der
Weckung einer gewissen Vielseitigkeit geistiger Interessen zu gute kommen. Um


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[0533] Ein Blick in die französische Volksschule und leibliche Wohl seiner in Unwissenheit und Aberglauben versunkner Guts¬ unterthanen in dem bösen Hunger- und Krankheitsjnhre 1772 das erste Lese¬ buch geschrieben hat, gewiß ohne zu ahnen, wieviel Tausende und Abertausende von ähnlichen Schriften für die Bildung des gemeinen Mannes in allen Kultur¬ völkern der Erde seinem ersten bescheidnen Versuche nachfolgen würden. Sein Grundgedanke bei der Abfassung seines „Bauernfreundes," wie er sein erstes Volksschullesebnch nannte, war ein ganz praktischer. Er wollte den Kindern der Dorfschule einen Lesestoff bieten, der ans ihre unmittelbaren Lebensverhält- nisse einginge, der ihnen insbesondre die sittlichen Pflichten, die ihnen im täg¬ lichen Leben obliegen, die Tugenden, die sie zu üben, die Laster, die sie zu meiden haben, vorhalten und zugleich gewisse gemeinnützige Kenntnisse zur Weckung des Nachdenkens, zur Bekämpfung des Aberglaubens verbreiten sollte. Damit sollte die Kluft „zwischeu Fibel und Bibel" — einen andern Lesestoff kannte die damalige Volksschule nicht — ausgefüllt werden. Diese praktische Richtung blieb, wie gesagt, bei seinen zahlreichen Nachfolgern längere Zeit hindurch in Deutschland maßgebend, wurde aber endlich verlassen, da mau faud, daß die ewigen „moralischen" Geschichten nicht bloß langweilig für die Jugend wurden, sondern auch, daß die Art von Moral, die sie enthielten, doch gnr zu oberflächlich und äußerlich und deshalb für eine tiefer gehende Erziehung ungeeignet war. So kam eine andre Richtung auf, von der man Wohl sagen kann, daß sie in ihren Vorzügen und ihren Einseitigkeiten dem deutschen Charakter mehr entsprach. Diese hat bis zur Stunde die Herrschaft behauptet. Sie geht davon aus, daß sittliche und geistige Erziehung, d. h. Emporhebung zu einem höhern sittlichen und geistigen Lebensgehalte nur dann möglich ist, wenn Geist und Gemüt, wenn insbesondre das gesamte Empfindungsleben der Schüler bereichert, vertieft, veredelt wird, wenn die sittlichen Güter, Familie, Vaterland', re¬ ligiöse und allgemein »umschliche Gemeinschaft ihnen ihrem Werte nach zum Bewußtsein gebracht werden, wenn man sie nicht durch die allernächst liegende!? Nützlichkeitsgründe zum sittlich tadellosen Betragen anhält, sondern ihnen viel¬ mehr das Gute und Edle in Erscheinungen, die das Gemüt ergreifen, vor Augen stellt, und wenn sie lernen, zu dem Guten und den Guten mit Ehr¬ furcht aufzublicken. Durch geschichtliche Lebensbilder soll in den Kindern die Verehrung sür die großen vaterländischen Heldengestalten geweckt werden, edles Empfinden für Gott, Natur und Menschenleben soll ihnen nahe gebracht werden. Selbst die sogenannten realistischen Stoffe, insbesondre die naturkundlichen und geographischen, sollen nicht als Hilfsmittel zur Aneignung der erforder¬ lichen materialen Kenntnisse geboten werden, sondern der Vertiefung dienen, die Phantasie, das Nachdenken anregen, kurz der allgemeinen Geistesbildung — wir würden im Sinne einer neuern pädagogischen Schule sagen können: der Weckung einer gewissen Vielseitigkeit geistiger Interessen zu gute kommen. Um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/533>, abgerufen am 26.06.2024.