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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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überliefert wird, welchen Inhalt man dort dem, was wir Volksbildung nennen,
zu geben sucht, welcher Geist diese Bildung beherrscht, welche Ziele damit ver¬
folgt werden. In dem Inhalt, in dem Geist, in den Zielen dieser Volksbil¬
dung spiegelt sich aber die Seele des Volkes mehr oder minder deutlich wieder.
Davon habe ich vor einigen Jahren bei einem Besuche italienischer Volksschulen
in Norditalien und in Rom einen lebendigen Eindruck erhalten.

Es ist aber nicht nötig, die Schulen des Auslandes in Person zu durch¬
wandern, um diese Eindrücke zu gewinnen. Man kann sich die Sache leichter
machen. Um den Charakter einer Schule bis auf einen gewissen Grad kennen
zu lernen, braucht man nur die Lehrbücher, die in ihr gebraucht werden, zu
durchmustern. Keines dieser Lehrbücher aber zeigt ein so treues Bild von
dem Geiste der Schule, dem sie dienen, als das Vvlksschnllesebnch. Will man
die Volksschule eines Landes kennen lernen, so schlage man die in ihr üblichen
Lesebücher auf. Sie sind in hohem Grade bezeichnend für die Bildung, die
die geistig führenden Kreise den Massen Armwerden bestrebt sind, denn sie ent¬
halten nicht bloß zum guten Teil die Lehrstoffe, die in der Volksschule be¬
trieben werden, sie zeigen auch, in welchem Sinne diese Stoffe für die Fassungs¬
kraft der Jugend zubereitet werden, welches Mas; von geistigem Leben, welcher
Umfang von geistigen Interessen der Volksseele durch die Volksschule ein¬
gepflanzt werden soll und mich der Hauptsache nach thatsächlich einge¬
pflanzt wird.

Ich habe mich ein wenig mit den VvlkSschulblichern der verschiednen
Nationen Europas zu beschäftigen angefangen, und obgleich mich dabei zu¬
nächst pädagogische Fachinteressen geleitet haben, so bin ich doch dabei noch
zu einem andern Gesichtspunkte gedrängt worden, den ich den der Völker¬
psychologie nennen möchte. Einige Mitteilungen von diesem Gesichtspunkt aus
werden den Lesern dieser Blätter vielleicht willkommen sein. Ich beschränke
mich dabei des Raumes wegen auf die französische Vvlksschullesebuchlitteratur
der Gegenwart, wie sie sich auf Grund der heutigen Unterrichtsgesetzgebnng in
Frankreich ausgebildet hat.

Es ist ein merkwürdiger Gegensatz, in dem diese französische Lesebuchlitte¬
ratur zu der bei uns üblichen steht. Während die deutscheu Lesebücher seit
vierzig bis fünfzig Jahren einen entschieden idealen, ästhetischen, ja littera¬
rischen Charakter an sich tragen, werden die französischen durchaus von einem
praktischen Geiste beherrscht. Auch bei uns haben sie sich anfänglich geraume
Zeit in dieser Richtung bewegt, aber das ist längst aufgegeben.

Bei der Entstehung unsrer Lesebnchlitteratur stand diese praktische Rich¬
tung unter den Einflüssen des Philanthropismus. Der Vater dieser Litteratur
in Deutschland, und damit der gesamten Leselmchlitteratur der Welt, ist be¬
kanntlich der märkische Edelmann Eberhard von Rochow auf Rekahne bei
Brandenburg. Er ist es gewesen, der in edelstem Bemühen um das geistige


überliefert wird, welchen Inhalt man dort dem, was wir Volksbildung nennen,
zu geben sucht, welcher Geist diese Bildung beherrscht, welche Ziele damit ver¬
folgt werden. In dem Inhalt, in dem Geist, in den Zielen dieser Volksbil¬
dung spiegelt sich aber die Seele des Volkes mehr oder minder deutlich wieder.
Davon habe ich vor einigen Jahren bei einem Besuche italienischer Volksschulen
in Norditalien und in Rom einen lebendigen Eindruck erhalten.

Es ist aber nicht nötig, die Schulen des Auslandes in Person zu durch¬
wandern, um diese Eindrücke zu gewinnen. Man kann sich die Sache leichter
machen. Um den Charakter einer Schule bis auf einen gewissen Grad kennen
zu lernen, braucht man nur die Lehrbücher, die in ihr gebraucht werden, zu
durchmustern. Keines dieser Lehrbücher aber zeigt ein so treues Bild von
dem Geiste der Schule, dem sie dienen, als das Vvlksschnllesebnch. Will man
die Volksschule eines Landes kennen lernen, so schlage man die in ihr üblichen
Lesebücher auf. Sie sind in hohem Grade bezeichnend für die Bildung, die
die geistig führenden Kreise den Massen Armwerden bestrebt sind, denn sie ent¬
halten nicht bloß zum guten Teil die Lehrstoffe, die in der Volksschule be¬
trieben werden, sie zeigen auch, in welchem Sinne diese Stoffe für die Fassungs¬
kraft der Jugend zubereitet werden, welches Mas; von geistigem Leben, welcher
Umfang von geistigen Interessen der Volksseele durch die Volksschule ein¬
gepflanzt werden soll und mich der Hauptsache nach thatsächlich einge¬
pflanzt wird.

Ich habe mich ein wenig mit den VvlkSschulblichern der verschiednen
Nationen Europas zu beschäftigen angefangen, und obgleich mich dabei zu¬
nächst pädagogische Fachinteressen geleitet haben, so bin ich doch dabei noch
zu einem andern Gesichtspunkte gedrängt worden, den ich den der Völker¬
psychologie nennen möchte. Einige Mitteilungen von diesem Gesichtspunkt aus
werden den Lesern dieser Blätter vielleicht willkommen sein. Ich beschränke
mich dabei des Raumes wegen auf die französische Vvlksschullesebuchlitteratur
der Gegenwart, wie sie sich auf Grund der heutigen Unterrichtsgesetzgebnng in
Frankreich ausgebildet hat.

Es ist ein merkwürdiger Gegensatz, in dem diese französische Lesebuchlitte¬
ratur zu der bei uns üblichen steht. Während die deutscheu Lesebücher seit
vierzig bis fünfzig Jahren einen entschieden idealen, ästhetischen, ja littera¬
rischen Charakter an sich tragen, werden die französischen durchaus von einem
praktischen Geiste beherrscht. Auch bei uns haben sie sich anfänglich geraume
Zeit in dieser Richtung bewegt, aber das ist längst aufgegeben.

Bei der Entstehung unsrer Lesebnchlitteratur stand diese praktische Rich¬
tung unter den Einflüssen des Philanthropismus. Der Vater dieser Litteratur
in Deutschland, und damit der gesamten Leselmchlitteratur der Welt, ist be¬
kanntlich der märkische Edelmann Eberhard von Rochow auf Rekahne bei
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/532>, abgerufen am 01.09.2024.