Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Direkte und indirekte Wahl

Der Wanderprediger der demokratisch-deutschfreisinnigen Partei in Baden,
Rechtsanwalt und Landtagsabgeordneter Muser, wirft den Gegnern der di¬
rekten Wahl vor, ihre Abneigung gehe im Grunde nicht gegen diese, sondern
gegen das allgemeine Stimmrecht selbst. Der Vorwurf kaun hingenommen
werden. Das allgemeine Stimmrecht wurde geboren in einer Zeit ungewöhnlich
hoher nationaler Begeisterung, und seine ersten Ergebnisse schienen zu guten
Hoffnungen zu berechtige", wiewohl unsre namhaftesten Staatsrechtslehrer (so
Bluntschli, Schulze) stets ihre Bedeuten gegen die Verleihung des Stimm¬
rechts an die politisch blinden geltend machten. Und daß durch das all¬
gemeine Stimmrecht weite Kreise mit politischem Einfluß ausgestattet werden,
die thatsächlich politisch blind sind, das hat auch Fürst Vismarck nie bestritten.
Nie ist es ihm eingefallen, zu behaupten, daß das deutsche Volk bis zum
letzten Proletarier hinunter politisch so reif sei, daß jeder seiner Abstimmung
eine eigne politische Überzeugung zu Gründe legen könnte. Er verkannte nie,
daß stets ein großer Teil der Wähler unter dein Einfluß andrer stimmen
würde, aber er glaubte, daß sich die verschiednen Beeinflussungen gegenseitig
ausgleichen oder daß, wenn dies nicht der Fall wäre, doch der Vorteil auf
Seiten der gebildeten und begüterten Klassen, also wesentlich der staatserhal¬
tenden Parteien sein würde. Er konnte ja nicht voraussehen, welche Macht
die staatsfeindlichen Parteien gewinnen würden.

Welche Schattenseiten an dem direkten und allgemeinen Stimmrecht bei
der Reichstagswahl im Laufe der Zeit hervorgetreten sind, das ist in den
Grenzboten wiederholt dargelegt worden, sodaß es hier nicht noch einmal aus¬
geführt zu werden braucht.

Daß der Einzelne -- trotz der allgemeinen Wehrpflicht und andrer all¬
gemeinen Pflichten ^ kein Recht auf Mitwirkung an der Gesetzgebung (mittels
des Wahlrechts) besitze, das ist ein Satz, den wohl jeder anerkennen wird, der
nicht noch in der irrigen und veralteten Idee des Vertragsstaates befangen ist.

Die heutige Wissenschaft betrachtet den Staat als einen lebenden Orga¬
nismus, dessen Leben so gestaltet werden muß, wie es ihm an sich frommt,
nicht wie es der Mehrzahl der augenblicklich in ihm enthaltnen Einzelwesen
nach ihren Sonderintcresfen gut dünkt. Für feine Privatinteressen hat jeder
einzelne selbst zu sorgen, und er hat ein Recht, sie auch dein Staate gegen¬
über zu vertreten. Aber die Parlamente sind nicht dazu da, ihm hierzu ein
Mittel zu geben. Sie dienen lediglich dein Gemeinwohl, dem Staatswohl,
sie gehen den einzelnen eigentlich gnr nichts an. Deshalb soll nur dem, von
dein man voraussetzen kauu, daß er geneigt sein werde, das Gemeinwohl zu
fördern, und fähig sein werde, zu beurteilen, wodurch es gefördert werden
kann, eine Mitwirkung im politischen Leben gewährt sein. Wer das nicht
gelten lassen will und alle heranziehen will, die am Gemeinwohl beteiligt
sind, der muß vor allem auch den Frauen das Stimmrecht geben; aber er


Direkte und indirekte Wahl

Der Wanderprediger der demokratisch-deutschfreisinnigen Partei in Baden,
Rechtsanwalt und Landtagsabgeordneter Muser, wirft den Gegnern der di¬
rekten Wahl vor, ihre Abneigung gehe im Grunde nicht gegen diese, sondern
gegen das allgemeine Stimmrecht selbst. Der Vorwurf kaun hingenommen
werden. Das allgemeine Stimmrecht wurde geboren in einer Zeit ungewöhnlich
hoher nationaler Begeisterung, und seine ersten Ergebnisse schienen zu guten
Hoffnungen zu berechtige», wiewohl unsre namhaftesten Staatsrechtslehrer (so
Bluntschli, Schulze) stets ihre Bedeuten gegen die Verleihung des Stimm¬
rechts an die politisch blinden geltend machten. Und daß durch das all¬
gemeine Stimmrecht weite Kreise mit politischem Einfluß ausgestattet werden,
die thatsächlich politisch blind sind, das hat auch Fürst Vismarck nie bestritten.
Nie ist es ihm eingefallen, zu behaupten, daß das deutsche Volk bis zum
letzten Proletarier hinunter politisch so reif sei, daß jeder seiner Abstimmung
eine eigne politische Überzeugung zu Gründe legen könnte. Er verkannte nie,
daß stets ein großer Teil der Wähler unter dein Einfluß andrer stimmen
würde, aber er glaubte, daß sich die verschiednen Beeinflussungen gegenseitig
ausgleichen oder daß, wenn dies nicht der Fall wäre, doch der Vorteil auf
Seiten der gebildeten und begüterten Klassen, also wesentlich der staatserhal¬
tenden Parteien sein würde. Er konnte ja nicht voraussehen, welche Macht
die staatsfeindlichen Parteien gewinnen würden.

Welche Schattenseiten an dem direkten und allgemeinen Stimmrecht bei
der Reichstagswahl im Laufe der Zeit hervorgetreten sind, das ist in den
Grenzboten wiederholt dargelegt worden, sodaß es hier nicht noch einmal aus¬
geführt zu werden braucht.

Daß der Einzelne — trotz der allgemeinen Wehrpflicht und andrer all¬
gemeinen Pflichten ^ kein Recht auf Mitwirkung an der Gesetzgebung (mittels
des Wahlrechts) besitze, das ist ein Satz, den wohl jeder anerkennen wird, der
nicht noch in der irrigen und veralteten Idee des Vertragsstaates befangen ist.

Die heutige Wissenschaft betrachtet den Staat als einen lebenden Orga¬
nismus, dessen Leben so gestaltet werden muß, wie es ihm an sich frommt,
nicht wie es der Mehrzahl der augenblicklich in ihm enthaltnen Einzelwesen
nach ihren Sonderintcresfen gut dünkt. Für feine Privatinteressen hat jeder
einzelne selbst zu sorgen, und er hat ein Recht, sie auch dein Staate gegen¬
über zu vertreten. Aber die Parlamente sind nicht dazu da, ihm hierzu ein
Mittel zu geben. Sie dienen lediglich dein Gemeinwohl, dem Staatswohl,
sie gehen den einzelnen eigentlich gnr nichts an. Deshalb soll nur dem, von
dein man voraussetzen kauu, daß er geneigt sein werde, das Gemeinwohl zu
fördern, und fähig sein werde, zu beurteilen, wodurch es gefördert werden
kann, eine Mitwirkung im politischen Leben gewährt sein. Wer das nicht
gelten lassen will und alle heranziehen will, die am Gemeinwohl beteiligt
sind, der muß vor allem auch den Frauen das Stimmrecht geben; aber er


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214309"/>
          <fw type="header" place="top"> Direkte und indirekte Wahl</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1799"> Der Wanderprediger der demokratisch-deutschfreisinnigen Partei in Baden,<lb/>
Rechtsanwalt und Landtagsabgeordneter Muser, wirft den Gegnern der di¬<lb/>
rekten Wahl vor, ihre Abneigung gehe im Grunde nicht gegen diese, sondern<lb/>
gegen das allgemeine Stimmrecht selbst. Der Vorwurf kaun hingenommen<lb/>
werden. Das allgemeine Stimmrecht wurde geboren in einer Zeit ungewöhnlich<lb/>
hoher nationaler Begeisterung, und seine ersten Ergebnisse schienen zu guten<lb/>
Hoffnungen zu berechtige», wiewohl unsre namhaftesten Staatsrechtslehrer (so<lb/>
Bluntschli, Schulze) stets ihre Bedeuten gegen die Verleihung des Stimm¬<lb/>
rechts an die politisch blinden geltend machten. Und daß durch das all¬<lb/>
gemeine Stimmrecht weite Kreise mit politischem Einfluß ausgestattet werden,<lb/>
die thatsächlich politisch blind sind, das hat auch Fürst Vismarck nie bestritten.<lb/>
Nie ist es ihm eingefallen, zu behaupten, daß das deutsche Volk bis zum<lb/>
letzten Proletarier hinunter politisch so reif sei, daß jeder seiner Abstimmung<lb/>
eine eigne politische Überzeugung zu Gründe legen könnte. Er verkannte nie,<lb/>
daß stets ein großer Teil der Wähler unter dein Einfluß andrer stimmen<lb/>
würde, aber er glaubte, daß sich die verschiednen Beeinflussungen gegenseitig<lb/>
ausgleichen oder daß, wenn dies nicht der Fall wäre, doch der Vorteil auf<lb/>
Seiten der gebildeten und begüterten Klassen, also wesentlich der staatserhal¬<lb/>
tenden Parteien sein würde. Er konnte ja nicht voraussehen, welche Macht<lb/>
die staatsfeindlichen Parteien gewinnen würden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1800"> Welche Schattenseiten an dem direkten und allgemeinen Stimmrecht bei<lb/>
der Reichstagswahl im Laufe der Zeit hervorgetreten sind, das ist in den<lb/>
Grenzboten wiederholt dargelegt worden, sodaß es hier nicht noch einmal aus¬<lb/>
geführt zu werden braucht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1801"> Daß der Einzelne &#x2014; trotz der allgemeinen Wehrpflicht und andrer all¬<lb/>
gemeinen Pflichten ^ kein Recht auf Mitwirkung an der Gesetzgebung (mittels<lb/>
des Wahlrechts) besitze, das ist ein Satz, den wohl jeder anerkennen wird, der<lb/>
nicht noch in der irrigen und veralteten Idee des Vertragsstaates befangen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1802" next="#ID_1803"> Die heutige Wissenschaft betrachtet den Staat als einen lebenden Orga¬<lb/>
nismus, dessen Leben so gestaltet werden muß, wie es ihm an sich frommt,<lb/>
nicht wie es der Mehrzahl der augenblicklich in ihm enthaltnen Einzelwesen<lb/>
nach ihren Sonderintcresfen gut dünkt. Für feine Privatinteressen hat jeder<lb/>
einzelne selbst zu sorgen, und er hat ein Recht, sie auch dein Staate gegen¬<lb/>
über zu vertreten. Aber die Parlamente sind nicht dazu da, ihm hierzu ein<lb/>
Mittel zu geben. Sie dienen lediglich dein Gemeinwohl, dem Staatswohl,<lb/>
sie gehen den einzelnen eigentlich gnr nichts an. Deshalb soll nur dem, von<lb/>
dein man voraussetzen kauu, daß er geneigt sein werde, das Gemeinwohl zu<lb/>
fördern, und fähig sein werde, zu beurteilen, wodurch es gefördert werden<lb/>
kann, eine Mitwirkung im politischen Leben gewährt sein. Wer das nicht<lb/>
gelten lassen will und alle heranziehen will, die am Gemeinwohl beteiligt<lb/>
sind, der muß vor allem auch den Frauen das Stimmrecht geben; aber er</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0517] Direkte und indirekte Wahl Der Wanderprediger der demokratisch-deutschfreisinnigen Partei in Baden, Rechtsanwalt und Landtagsabgeordneter Muser, wirft den Gegnern der di¬ rekten Wahl vor, ihre Abneigung gehe im Grunde nicht gegen diese, sondern gegen das allgemeine Stimmrecht selbst. Der Vorwurf kaun hingenommen werden. Das allgemeine Stimmrecht wurde geboren in einer Zeit ungewöhnlich hoher nationaler Begeisterung, und seine ersten Ergebnisse schienen zu guten Hoffnungen zu berechtige», wiewohl unsre namhaftesten Staatsrechtslehrer (so Bluntschli, Schulze) stets ihre Bedeuten gegen die Verleihung des Stimm¬ rechts an die politisch blinden geltend machten. Und daß durch das all¬ gemeine Stimmrecht weite Kreise mit politischem Einfluß ausgestattet werden, die thatsächlich politisch blind sind, das hat auch Fürst Vismarck nie bestritten. Nie ist es ihm eingefallen, zu behaupten, daß das deutsche Volk bis zum letzten Proletarier hinunter politisch so reif sei, daß jeder seiner Abstimmung eine eigne politische Überzeugung zu Gründe legen könnte. Er verkannte nie, daß stets ein großer Teil der Wähler unter dein Einfluß andrer stimmen würde, aber er glaubte, daß sich die verschiednen Beeinflussungen gegenseitig ausgleichen oder daß, wenn dies nicht der Fall wäre, doch der Vorteil auf Seiten der gebildeten und begüterten Klassen, also wesentlich der staatserhal¬ tenden Parteien sein würde. Er konnte ja nicht voraussehen, welche Macht die staatsfeindlichen Parteien gewinnen würden. Welche Schattenseiten an dem direkten und allgemeinen Stimmrecht bei der Reichstagswahl im Laufe der Zeit hervorgetreten sind, das ist in den Grenzboten wiederholt dargelegt worden, sodaß es hier nicht noch einmal aus¬ geführt zu werden braucht. Daß der Einzelne — trotz der allgemeinen Wehrpflicht und andrer all¬ gemeinen Pflichten ^ kein Recht auf Mitwirkung an der Gesetzgebung (mittels des Wahlrechts) besitze, das ist ein Satz, den wohl jeder anerkennen wird, der nicht noch in der irrigen und veralteten Idee des Vertragsstaates befangen ist. Die heutige Wissenschaft betrachtet den Staat als einen lebenden Orga¬ nismus, dessen Leben so gestaltet werden muß, wie es ihm an sich frommt, nicht wie es der Mehrzahl der augenblicklich in ihm enthaltnen Einzelwesen nach ihren Sonderintcresfen gut dünkt. Für feine Privatinteressen hat jeder einzelne selbst zu sorgen, und er hat ein Recht, sie auch dein Staate gegen¬ über zu vertreten. Aber die Parlamente sind nicht dazu da, ihm hierzu ein Mittel zu geben. Sie dienen lediglich dein Gemeinwohl, dem Staatswohl, sie gehen den einzelnen eigentlich gnr nichts an. Deshalb soll nur dem, von dein man voraussetzen kauu, daß er geneigt sein werde, das Gemeinwohl zu fördern, und fähig sein werde, zu beurteilen, wodurch es gefördert werden kann, eine Mitwirkung im politischen Leben gewährt sein. Wer das nicht gelten lassen will und alle heranziehen will, die am Gemeinwohl beteiligt sind, der muß vor allem auch den Frauen das Stimmrecht geben; aber er

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/517
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/517>, abgerufen am 26.06.2024.