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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Direkte und indirekte Mahl

als Kompromiß zwischen den verschiednen Parteien, von denen jede dabei
andre Ziele im Auge hatte.

Den Sozialdemokratin erschien die Beseitigung der indirekten Wahl als
ein Schritt zur Zerbröckelung der heutigen Staatsordnung und somit als ein
Schritt auf dem Wege zu ihrem Zukunftsstaat. Den Demokratisch-Dentsch-
freisiunigen erschien sie als notwendige Folgerung aus der von ihnen ver-
fochtnen Volkssouveränität und als ein Mittel, dem parlamentarischen System
und gleichzeitig der Abschaffung der ersten Kammer naher zu kommen. Den
Zentrumsmännern schwebte lediglich die Hoffnung vor, durch das direkte
Wahlrecht mehr Sitze in der Kammer zu bekommen und dadurch künftig ihre
Sonderbestrebungen kräftiger fördern zu können. Gemeinsam war diesen
Parteien allerdings das, daß sie das direkte Wahlrecht unbedingt verlangten,
d. h. ohne gleichzeitige Bestimmungen, die seine Nachteile mildern könnten.
Hierin unterschieden sie sich von der nationalliberalen Mehrheit, die das di¬
rekte Wahlrecht zwar verlangte, weil es nnn einmal eine alte liberale For¬
derung ist, die aber aus den Neichstagswahlen nachgerade ihre Lehre gezogen
hat und deshalb meinte, daß bei Durchführung der direkten Wahl doch gewisse
Vorkehrungen getroffen werden müßten, um unliebsamen Folgen dieser Än¬
derung vorzubeugen.

Es ist erklärlich, daß bei dieser verschiednen Auffassung des Gewünschten
der Kammcrbeschlnß an sich schon nicht die Bedeutung beanspruchen konnte,
die er gehabt Hütte, wenn ihn alle beteiligten Parteien auch in gleicher Weise
verstanden hätten. Da nun auch Staatsminister Dr. Turban im Laufe der
Debatte deutlich zu erkennen gegeben hatte, wie wenig die Regierung geneigt
sei, auf die Forderung der unmittelbaren Wahl einzugehen, und endlich auch
die erste Kammer, der Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde, sich -- wie
zu erwarten -- entschieden ablehnend nnssprach, so durfte mau die ganze
Sache als begraben betrachten. Aber sie wurde wieder aufgeweckt durch einige
in den letzten Wochen erschienene Broschüren,*) und es ist sicher zu erwarten,
daß sich die Kreise, von denen im vorigen Jahre die Bewegung ausging, diese
Auferweckung zu nütze machen und ihr Ziel weiter verfolgen werden.

Betrachten wir uns also einmal die Sache.



*) Karl Ernst Baer (ehemaliges Mitglied des Reichstags und des badischen Landtags),
Geschichte und Kritik der Berfassungsrevisionsfrage, sowie der gegenwärtigen Parteiverhältuisse
im Lande Baden. Lvrrach, 1892. Giebt die Nachteile des allgemeine" und direkten Wahlrechts
zu, will aber die indirekte Wahl beseitige", weil sie gegen diese Nachteile keinen Schutz biete,
dagegen höchst ""populär sei. Julius Katz, Die politische Lage in Baden. Karlsruhe, 1893. Widerlegt in glücklicher
Weise die Behauptungen Vaers, läßt sich aber schließlich doch zu der Erklärung herbei, daß
unter Voraussetzung gewisser Gegenmaßregeln die indirekte Wahl beseitigt werden dürfe. Oskar Muser (Landtagsabgeordneter), Die politische Lage. (Gedruckte Reden.) Offenburg,
Selbstverlag. Tritt vom dentschfreisinnigen Standpunkte unbedingt für die direkte Wahl ein.
Direkte und indirekte Mahl

als Kompromiß zwischen den verschiednen Parteien, von denen jede dabei
andre Ziele im Auge hatte.

Den Sozialdemokratin erschien die Beseitigung der indirekten Wahl als
ein Schritt zur Zerbröckelung der heutigen Staatsordnung und somit als ein
Schritt auf dem Wege zu ihrem Zukunftsstaat. Den Demokratisch-Dentsch-
freisiunigen erschien sie als notwendige Folgerung aus der von ihnen ver-
fochtnen Volkssouveränität und als ein Mittel, dem parlamentarischen System
und gleichzeitig der Abschaffung der ersten Kammer naher zu kommen. Den
Zentrumsmännern schwebte lediglich die Hoffnung vor, durch das direkte
Wahlrecht mehr Sitze in der Kammer zu bekommen und dadurch künftig ihre
Sonderbestrebungen kräftiger fördern zu können. Gemeinsam war diesen
Parteien allerdings das, daß sie das direkte Wahlrecht unbedingt verlangten,
d. h. ohne gleichzeitige Bestimmungen, die seine Nachteile mildern könnten.
Hierin unterschieden sie sich von der nationalliberalen Mehrheit, die das di¬
rekte Wahlrecht zwar verlangte, weil es nnn einmal eine alte liberale For¬
derung ist, die aber aus den Neichstagswahlen nachgerade ihre Lehre gezogen
hat und deshalb meinte, daß bei Durchführung der direkten Wahl doch gewisse
Vorkehrungen getroffen werden müßten, um unliebsamen Folgen dieser Än¬
derung vorzubeugen.

Es ist erklärlich, daß bei dieser verschiednen Auffassung des Gewünschten
der Kammcrbeschlnß an sich schon nicht die Bedeutung beanspruchen konnte,
die er gehabt Hütte, wenn ihn alle beteiligten Parteien auch in gleicher Weise
verstanden hätten. Da nun auch Staatsminister Dr. Turban im Laufe der
Debatte deutlich zu erkennen gegeben hatte, wie wenig die Regierung geneigt
sei, auf die Forderung der unmittelbaren Wahl einzugehen, und endlich auch
die erste Kammer, der Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde, sich — wie
zu erwarten — entschieden ablehnend nnssprach, so durfte mau die ganze
Sache als begraben betrachten. Aber sie wurde wieder aufgeweckt durch einige
in den letzten Wochen erschienene Broschüren,*) und es ist sicher zu erwarten,
daß sich die Kreise, von denen im vorigen Jahre die Bewegung ausging, diese
Auferweckung zu nütze machen und ihr Ziel weiter verfolgen werden.

Betrachten wir uns also einmal die Sache.



*) Karl Ernst Baer (ehemaliges Mitglied des Reichstags und des badischen Landtags),
Geschichte und Kritik der Berfassungsrevisionsfrage, sowie der gegenwärtigen Parteiverhältuisse
im Lande Baden. Lvrrach, 1892. Giebt die Nachteile des allgemeine» und direkten Wahlrechts
zu, will aber die indirekte Wahl beseitige», weil sie gegen diese Nachteile keinen Schutz biete,
dagegen höchst »»populär sei. Julius Katz, Die politische Lage in Baden. Karlsruhe, 1893. Widerlegt in glücklicher
Weise die Behauptungen Vaers, läßt sich aber schließlich doch zu der Erklärung herbei, daß
unter Voraussetzung gewisser Gegenmaßregeln die indirekte Wahl beseitigt werden dürfe. Oskar Muser (Landtagsabgeordneter), Die politische Lage. (Gedruckte Reden.) Offenburg,
Selbstverlag. Tritt vom dentschfreisinnigen Standpunkte unbedingt für die direkte Wahl ein.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/516>, abgerufen am 26.06.2024.