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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Direkte und indirekte Mahl

muß es auch den Minderjährigen geben, ja den Blödsinnigen, und selbst für
die Ungebornen müßte er durch Vertreter abstimmen lassen. Eine vernünftige
Begründung des allgemeinen Stimmrechts, wie wir es bei den Reichstags¬
wahlen haben, wäre mir möglich, wenn man behaupten könnte, daß alle die,
die es heranzieht, nach menschlichem Ermessen fähig und willig wären, durch
ihre Abstimmung bei den Wahlen das Gemeinwohl zu fördern. So führt
unsre Untersuchung dazu, daß wir unser Urteil über das "allgemeine" Wahl¬
recht ruhig auf dessen thatsächliche Ergebnisse stützen dürfen, und die sind, wie
gesagt, schlecht genug.

Also weg mit dem allgemeinen Wahlrecht?

Nein! O. Bahr hat im vorigen Jahrgange der Grenzboten ganz richtig
bemerkt, daß das Kämpfe heraufbeschwören würde, für die man nicht wohl
die Verantwortung übernehmen könnte, und daß nnr allenfalls nach glücklicher
Überwindung einer schweren innern Krisis an eine Änderung der Neichstags-
wahl gedacht werden könnte. Das heißt mit andern Worten: nach Nieder¬
werfung eines sozinldemokratischeu Aufstandes. Wir pflichten dem vollständig
bei. Das direkte und allgemeine Reichstagswahlrecht ist eine Leidensquelle
für unser Voll; aber es wird besser sein, daß wir uns mit dieser Leidensquelle
weiter schleppen, als daß wir sie durch eine lebensgefährliche Operation be¬
seitigen.

Wenn wir nun das allgemeine Wahlrecht, wo es besteht, nicht beseitigt
haben wollen, obwohl wir es verurteilen, so ziehen wir doch aus unsrer Ver¬
urteilung unmittelbar den Schluß, daß alles, was den Nachteilen des direkten
Wahlrechts als Gegengewicht dienen kann, aufrecht erhalten werden sollte, so
weit das irgend möglich ist. Ein solches Gegengewicht ist aber die indirekte
Wahl in Baden und in andern Vundesstaaten, und dieses Gegengewicht ist in
Baden von um so größerer Bedeutung, als es das einzige ist.

Daß die indirekte Wahl nur ein schwaches Mittel ist, den Gefahren deS
allgemeinen Stimmrechts zu begegnen, das geben wir gern zu, und namentlich
geben wir es für Baden zu, wo sich die Übung gebildet hat, daß die Wahl¬
männer in der Regel schon auf den Namen eines bestimmten Abgeordneten
gewählt werden, und es dem Wahlmann von den Urwählern bitter übel ge¬
nommen wird, wenn er sich untersteht, seinem guten Rechte gemäß für einen
andern Abgeordneten zu stimmen, als vorausgesetzt worden ist. Gleichwohl
kommen Wahlmänner, die ihr Amt so auffassen, wie es gemeint ist, nämlich
so, daß die Abgeordnetenwahl von den UrWählern vertrauensvoll der durch¬
schnittlich bessern Einsicht der Wahlmänner anheimgestellt sei, noch häufig
genug vor. Wäre dies nicht der Fall, so vermöchte man ja auch gar uicht
zu begreifen, weshalb sich die Gegner der indirekten Wahl so gewaltig ereifern.
Also besser als nichts ist die indirekte Wahl selbst dann noch, wenn sie ge-
handhabt wird wie gegenwärtig in Baden. Wenn ein Mann zum Schutze gegen


Direkte und indirekte Mahl

muß es auch den Minderjährigen geben, ja den Blödsinnigen, und selbst für
die Ungebornen müßte er durch Vertreter abstimmen lassen. Eine vernünftige
Begründung des allgemeinen Stimmrechts, wie wir es bei den Reichstags¬
wahlen haben, wäre mir möglich, wenn man behaupten könnte, daß alle die,
die es heranzieht, nach menschlichem Ermessen fähig und willig wären, durch
ihre Abstimmung bei den Wahlen das Gemeinwohl zu fördern. So führt
unsre Untersuchung dazu, daß wir unser Urteil über das „allgemeine" Wahl¬
recht ruhig auf dessen thatsächliche Ergebnisse stützen dürfen, und die sind, wie
gesagt, schlecht genug.

Also weg mit dem allgemeinen Wahlrecht?

Nein! O. Bahr hat im vorigen Jahrgange der Grenzboten ganz richtig
bemerkt, daß das Kämpfe heraufbeschwören würde, für die man nicht wohl
die Verantwortung übernehmen könnte, und daß nnr allenfalls nach glücklicher
Überwindung einer schweren innern Krisis an eine Änderung der Neichstags-
wahl gedacht werden könnte. Das heißt mit andern Worten: nach Nieder¬
werfung eines sozinldemokratischeu Aufstandes. Wir pflichten dem vollständig
bei. Das direkte und allgemeine Reichstagswahlrecht ist eine Leidensquelle
für unser Voll; aber es wird besser sein, daß wir uns mit dieser Leidensquelle
weiter schleppen, als daß wir sie durch eine lebensgefährliche Operation be¬
seitigen.

Wenn wir nun das allgemeine Wahlrecht, wo es besteht, nicht beseitigt
haben wollen, obwohl wir es verurteilen, so ziehen wir doch aus unsrer Ver¬
urteilung unmittelbar den Schluß, daß alles, was den Nachteilen des direkten
Wahlrechts als Gegengewicht dienen kann, aufrecht erhalten werden sollte, so
weit das irgend möglich ist. Ein solches Gegengewicht ist aber die indirekte
Wahl in Baden und in andern Vundesstaaten, und dieses Gegengewicht ist in
Baden von um so größerer Bedeutung, als es das einzige ist.

Daß die indirekte Wahl nur ein schwaches Mittel ist, den Gefahren deS
allgemeinen Stimmrechts zu begegnen, das geben wir gern zu, und namentlich
geben wir es für Baden zu, wo sich die Übung gebildet hat, daß die Wahl¬
männer in der Regel schon auf den Namen eines bestimmten Abgeordneten
gewählt werden, und es dem Wahlmann von den Urwählern bitter übel ge¬
nommen wird, wenn er sich untersteht, seinem guten Rechte gemäß für einen
andern Abgeordneten zu stimmen, als vorausgesetzt worden ist. Gleichwohl
kommen Wahlmänner, die ihr Amt so auffassen, wie es gemeint ist, nämlich
so, daß die Abgeordnetenwahl von den UrWählern vertrauensvoll der durch¬
schnittlich bessern Einsicht der Wahlmänner anheimgestellt sei, noch häufig
genug vor. Wäre dies nicht der Fall, so vermöchte man ja auch gar uicht
zu begreifen, weshalb sich die Gegner der indirekten Wahl so gewaltig ereifern.
Also besser als nichts ist die indirekte Wahl selbst dann noch, wenn sie ge-
handhabt wird wie gegenwärtig in Baden. Wenn ein Mann zum Schutze gegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/518>, abgerufen am 26.06.2024.