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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Man sieht, der neue deutsche Bund hat so viele Keime zu Zwistigkeite"
in sich, daß seine Begründer bald, wenn der erste allgemeine Rausch verflogen
sein wird, mit Ausgleichen, Kielen, Zusammenkleben und Flicken genug zu
thun haben werden.

Zum Schluß mochten wir noch auf einen Punkt etwas näher eingehn:
auf die jetzt so stürmisch verlangten "Landwirtschaftskammern." Wie ist denn
die Landwirtschaft bisher im preußischen Staatskörper außerhalb der Parla¬
mente vertreten gewesen? Im Kreise sitzen in den Kreistagen und den Kreis¬
ausschüssen neben einem oder zwei Vertretern der kleinen Städte fast uur
Landwirte, und in der Prvvinzialverwaltnug haben sie die Mehrheit. Die
einzelnen auf ganz freier Grundlage gebildeten landwirtschaftlichen Fachvereine,
von denen es in manchen Kreisen mehrere giebt, sind seit vielen Jahren, z. B.
in Schlesien seit 1843, zu provinziellen oder Regierungsbezirks-Zentralvcreiueu
verbunden. Alljährlich einmal oder häufiger treten die frei aus den Vereinen
gewählten Abgeordneten aller Kreise zu einem Zentralkvlleginm zusammen, um
über technische und volkswirtschaftliche Fragen zu verhandeln, über die Ver¬
wendung der für landwirtschaftliche Zwecke vom Staat überwiesenen Gelder
zu beschließen und Mitglieder für die beratenden Staatskörperschaften, das
Landesökonomiekollegium, den deutschen LaudwirtschaftSrat, den Bezirks- und
Reichseiscnbahnrat u. a. in. zu wählen. Diese Zeutralkollegieu mit ihrem Vor¬
stand und ihrem Generalsekretär haben einen hnlboffizielleu Charakter und
bilden die Verbindung zwischen dem "Ministerium für Landwirtschaft, Domänen
und Forsten" und den landwirtschaftlichen Krcisvercinen. Statt der Zentral¬
vereine werden nun provinzielle Landwirtschastskammern gefordert mit dem
Recht, einen mäßigen Steuersatz von allen Groß- und Kleingrundbesitzern ihres
Bezirks zu erheben. Man erwartet von ihnen einen ganz bedeutenden Einfluß
auf die Negierung, denn "ihre Ansichten und Gutachten müssen, wie die der
Handelskammern, gehört werden." Gehört worden sind die Wünsche der
Handelskammern von der Regierung auch, aber durchaus nicht immer erhört --
Vismarck hat ihnen als Handelsminister sogar ziemlich kräftig den Kopf zu¬
rechtgesetzt, als ihre Ansichten mit den seinigen nicht übereinstimmten. Der
Einfluß der Handelskammern steht so ziemlich auf derselben Stufe wie das
Interesse des Kaufmaunsstaudes an ihrer Znsammensetzung. "Bei den letzten
Wahlen zur Breslauer Handelskammer waren von 2991 Wahlberechtigten nur
154 oder etwa fünf Prozent an der Wahlurne erschienen," so berichtete die
Schlesische Zeitung im November 1892! Dabei wohnen diese Leute beisammen
und haben nur eine kleine Strecke bis zur "Wahlurne" zu gehen. 3axis"ti
sat. Auch die Industriellen haben mit ihren Vertretungen nicht viel Glück,
sie klagen darüber, daß sie gar nicht oder erst post lvöwin gehört würden.
Da werden auch wohl die jetzt als alleinseligmachend gepriesenen Kammern der
Landwirtschaft ebenso wenig auf die Beine helfen. Heute "schreit" man nach


Man sieht, der neue deutsche Bund hat so viele Keime zu Zwistigkeite»
in sich, daß seine Begründer bald, wenn der erste allgemeine Rausch verflogen
sein wird, mit Ausgleichen, Kielen, Zusammenkleben und Flicken genug zu
thun haben werden.

Zum Schluß mochten wir noch auf einen Punkt etwas näher eingehn:
auf die jetzt so stürmisch verlangten „Landwirtschaftskammern." Wie ist denn
die Landwirtschaft bisher im preußischen Staatskörper außerhalb der Parla¬
mente vertreten gewesen? Im Kreise sitzen in den Kreistagen und den Kreis¬
ausschüssen neben einem oder zwei Vertretern der kleinen Städte fast uur
Landwirte, und in der Prvvinzialverwaltnug haben sie die Mehrheit. Die
einzelnen auf ganz freier Grundlage gebildeten landwirtschaftlichen Fachvereine,
von denen es in manchen Kreisen mehrere giebt, sind seit vielen Jahren, z. B.
in Schlesien seit 1843, zu provinziellen oder Regierungsbezirks-Zentralvcreiueu
verbunden. Alljährlich einmal oder häufiger treten die frei aus den Vereinen
gewählten Abgeordneten aller Kreise zu einem Zentralkvlleginm zusammen, um
über technische und volkswirtschaftliche Fragen zu verhandeln, über die Ver¬
wendung der für landwirtschaftliche Zwecke vom Staat überwiesenen Gelder
zu beschließen und Mitglieder für die beratenden Staatskörperschaften, das
Landesökonomiekollegium, den deutschen LaudwirtschaftSrat, den Bezirks- und
Reichseiscnbahnrat u. a. in. zu wählen. Diese Zeutralkollegieu mit ihrem Vor¬
stand und ihrem Generalsekretär haben einen hnlboffizielleu Charakter und
bilden die Verbindung zwischen dem „Ministerium für Landwirtschaft, Domänen
und Forsten" und den landwirtschaftlichen Krcisvercinen. Statt der Zentral¬
vereine werden nun provinzielle Landwirtschastskammern gefordert mit dem
Recht, einen mäßigen Steuersatz von allen Groß- und Kleingrundbesitzern ihres
Bezirks zu erheben. Man erwartet von ihnen einen ganz bedeutenden Einfluß
auf die Negierung, denn „ihre Ansichten und Gutachten müssen, wie die der
Handelskammern, gehört werden." Gehört worden sind die Wünsche der
Handelskammern von der Regierung auch, aber durchaus nicht immer erhört —
Vismarck hat ihnen als Handelsminister sogar ziemlich kräftig den Kopf zu¬
rechtgesetzt, als ihre Ansichten mit den seinigen nicht übereinstimmten. Der
Einfluß der Handelskammern steht so ziemlich auf derselben Stufe wie das
Interesse des Kaufmaunsstaudes an ihrer Znsammensetzung. „Bei den letzten
Wahlen zur Breslauer Handelskammer waren von 2991 Wahlberechtigten nur
154 oder etwa fünf Prozent an der Wahlurne erschienen," so berichtete die
Schlesische Zeitung im November 1892! Dabei wohnen diese Leute beisammen
und haben nur eine kleine Strecke bis zur „Wahlurne" zu gehen. 3axis»ti
sat. Auch die Industriellen haben mit ihren Vertretungen nicht viel Glück,
sie klagen darüber, daß sie gar nicht oder erst post lvöwin gehört würden.
Da werden auch wohl die jetzt als alleinseligmachend gepriesenen Kammern der
Landwirtschaft ebenso wenig auf die Beine helfen. Heute „schreit" man nach


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[0479] Man sieht, der neue deutsche Bund hat so viele Keime zu Zwistigkeite» in sich, daß seine Begründer bald, wenn der erste allgemeine Rausch verflogen sein wird, mit Ausgleichen, Kielen, Zusammenkleben und Flicken genug zu thun haben werden. Zum Schluß mochten wir noch auf einen Punkt etwas näher eingehn: auf die jetzt so stürmisch verlangten „Landwirtschaftskammern." Wie ist denn die Landwirtschaft bisher im preußischen Staatskörper außerhalb der Parla¬ mente vertreten gewesen? Im Kreise sitzen in den Kreistagen und den Kreis¬ ausschüssen neben einem oder zwei Vertretern der kleinen Städte fast uur Landwirte, und in der Prvvinzialverwaltnug haben sie die Mehrheit. Die einzelnen auf ganz freier Grundlage gebildeten landwirtschaftlichen Fachvereine, von denen es in manchen Kreisen mehrere giebt, sind seit vielen Jahren, z. B. in Schlesien seit 1843, zu provinziellen oder Regierungsbezirks-Zentralvcreiueu verbunden. Alljährlich einmal oder häufiger treten die frei aus den Vereinen gewählten Abgeordneten aller Kreise zu einem Zentralkvlleginm zusammen, um über technische und volkswirtschaftliche Fragen zu verhandeln, über die Ver¬ wendung der für landwirtschaftliche Zwecke vom Staat überwiesenen Gelder zu beschließen und Mitglieder für die beratenden Staatskörperschaften, das Landesökonomiekollegium, den deutschen LaudwirtschaftSrat, den Bezirks- und Reichseiscnbahnrat u. a. in. zu wählen. Diese Zeutralkollegieu mit ihrem Vor¬ stand und ihrem Generalsekretär haben einen hnlboffizielleu Charakter und bilden die Verbindung zwischen dem „Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten" und den landwirtschaftlichen Krcisvercinen. Statt der Zentral¬ vereine werden nun provinzielle Landwirtschastskammern gefordert mit dem Recht, einen mäßigen Steuersatz von allen Groß- und Kleingrundbesitzern ihres Bezirks zu erheben. Man erwartet von ihnen einen ganz bedeutenden Einfluß auf die Negierung, denn „ihre Ansichten und Gutachten müssen, wie die der Handelskammern, gehört werden." Gehört worden sind die Wünsche der Handelskammern von der Regierung auch, aber durchaus nicht immer erhört — Vismarck hat ihnen als Handelsminister sogar ziemlich kräftig den Kopf zu¬ rechtgesetzt, als ihre Ansichten mit den seinigen nicht übereinstimmten. Der Einfluß der Handelskammern steht so ziemlich auf derselben Stufe wie das Interesse des Kaufmaunsstaudes an ihrer Znsammensetzung. „Bei den letzten Wahlen zur Breslauer Handelskammer waren von 2991 Wahlberechtigten nur 154 oder etwa fünf Prozent an der Wahlurne erschienen," so berichtete die Schlesische Zeitung im November 1892! Dabei wohnen diese Leute beisammen und haben nur eine kleine Strecke bis zur „Wahlurne" zu gehen. 3axis»ti sat. Auch die Industriellen haben mit ihren Vertretungen nicht viel Glück, sie klagen darüber, daß sie gar nicht oder erst post lvöwin gehört würden. Da werden auch wohl die jetzt als alleinseligmachend gepriesenen Kammern der Landwirtschaft ebenso wenig auf die Beine helfen. Heute „schreit" man nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/479>, abgerufen am 26.06.2024.