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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Lorisande

Ahlborn war nach ihrer Beschreibung ein junges, dummes und sehr un¬
brauchbares Geschöpf, das lauter unnütze Dinge im Kopfe habe und deshalb
auch nächstens weggeschickt werden würde. Sie habe große Anlage zur Trägheit,
sitze am liebsten den ganzen Tag im Lehnstuhl und sei neulich so frech ge¬
wesen, von ihrem Testament zu sprechen. Ihr Testament! Die Gräfin ereiferte
sich. Es sei ihr unbegreiflich, wie ein so junges Mädchen auf diesen trübseligen
Gedanken kommen könne! Es sei entschieden besser, daß Ahlborn bald heirate,
dann würde auch ihre Stimmung besser werden.

So redete die alte Dame, und der neugierige Besucher saß da mit un¬
heimlichen Gefühlen. War ihm doch bekannt, daß Fräulein Ahlborn fünfund-
siebzig Jahre zählte, daß sie also vielleicht ein kleines Recht darauf hatte, an
ihren letzte" Willen zu denken- Gehörte der Besucher dem geistlichen Stande
an, wie es meistens der Fall war, so begann er Wohl unter einigem Räuspern
davon zu sprechen, daß es vielleicht nicht übel sei, gelegentlich den Tod, der
ja alle Menschen einmal ereile, ins Auge zu fassen. Aber weiter kam er nicht
mit feiner Bemerkung, denn die Gräfin wurde sehr böse. Es sei unpassend,
sagte sie, in anständiger Gesellschaft vom Tode zu sprechen. Man müsse immer
thun, als gäbe es keinen Tod, dann komme er auch nicht zu einem. So halte
man es bei Hofe, und so wünsche sie es auch zu halten.

Wenn sich der vorlaute Besucher kopfschüttelnd entfernt hatte, dann
pflegte die Gräfin Fräulein Ahlborn rufen zu lassen und ihr in wenigen
raschen Worten zu kündigen. Sie passen nicht für mich! Sie siud zu jung für
Ihre Stellung, zu unbedacht! sagte sie dann in ihrer kurzen Weise. Dann
nickte Fräulein Ahlborn ruhig, denn sie kannte diese Kündigungen seit mehr
als fünfzig Jahren und wußte, daß sie die Gräfin nach einer Viertelstunde
wieder vergessen hatte.

So war es denn auch. Wenn die alte Dame den Kopf in die Kissen
ihres Lehnstuhls gedrückt und fünf Minuten geschlafen hatte, so wußte sie nichts
mehr von ihrem Ärger über Fräulein Ahlborn und sah wieder nach den Kindern
aus, die auf der Straße spielten. Sie verlangte Leben und Geräusch, und wenn
die Kinder zu still waren, dann mußte Fräulein Ahlborn Kuchen unter sie ver¬
teilen. Dann versammelte sich eine große Schar vor der Hausthür; es gab
Geschrei und Gelächter, Danksagungen und auch wohl ein gelegentliches Ge¬
heul, wenn sich jemand benachteiligt glaubte, aber die alte Gräfin freute sich
über alles. Manchmal sah sie dann allerdings mit einem merkwürdig for¬
schenden Ausdruck die Straße hinab, als erwartete sie noch jemanden. Wenn
aber niemand kam, so horchte sie wieder auf die Kinderstimmen.

Sehr viel Besuch kam nicht in das stille Haus. Hin und wieder einige
jüngere Aristokraten, die der Gräfin flüchtig die Hand küßten, über das
Wetter sprachen, in dem dunkeln Eßzimmer einige Gläser Portwein tranken
und sehr gnädig gegen Fräulein Ahlborn waren. Sie brachten ihr wertvolle


Lorisande

Ahlborn war nach ihrer Beschreibung ein junges, dummes und sehr un¬
brauchbares Geschöpf, das lauter unnütze Dinge im Kopfe habe und deshalb
auch nächstens weggeschickt werden würde. Sie habe große Anlage zur Trägheit,
sitze am liebsten den ganzen Tag im Lehnstuhl und sei neulich so frech ge¬
wesen, von ihrem Testament zu sprechen. Ihr Testament! Die Gräfin ereiferte
sich. Es sei ihr unbegreiflich, wie ein so junges Mädchen auf diesen trübseligen
Gedanken kommen könne! Es sei entschieden besser, daß Ahlborn bald heirate,
dann würde auch ihre Stimmung besser werden.

So redete die alte Dame, und der neugierige Besucher saß da mit un¬
heimlichen Gefühlen. War ihm doch bekannt, daß Fräulein Ahlborn fünfund-
siebzig Jahre zählte, daß sie also vielleicht ein kleines Recht darauf hatte, an
ihren letzte» Willen zu denken- Gehörte der Besucher dem geistlichen Stande
an, wie es meistens der Fall war, so begann er Wohl unter einigem Räuspern
davon zu sprechen, daß es vielleicht nicht übel sei, gelegentlich den Tod, der
ja alle Menschen einmal ereile, ins Auge zu fassen. Aber weiter kam er nicht
mit feiner Bemerkung, denn die Gräfin wurde sehr böse. Es sei unpassend,
sagte sie, in anständiger Gesellschaft vom Tode zu sprechen. Man müsse immer
thun, als gäbe es keinen Tod, dann komme er auch nicht zu einem. So halte
man es bei Hofe, und so wünsche sie es auch zu halten.

Wenn sich der vorlaute Besucher kopfschüttelnd entfernt hatte, dann
pflegte die Gräfin Fräulein Ahlborn rufen zu lassen und ihr in wenigen
raschen Worten zu kündigen. Sie passen nicht für mich! Sie siud zu jung für
Ihre Stellung, zu unbedacht! sagte sie dann in ihrer kurzen Weise. Dann
nickte Fräulein Ahlborn ruhig, denn sie kannte diese Kündigungen seit mehr
als fünfzig Jahren und wußte, daß sie die Gräfin nach einer Viertelstunde
wieder vergessen hatte.

So war es denn auch. Wenn die alte Dame den Kopf in die Kissen
ihres Lehnstuhls gedrückt und fünf Minuten geschlafen hatte, so wußte sie nichts
mehr von ihrem Ärger über Fräulein Ahlborn und sah wieder nach den Kindern
aus, die auf der Straße spielten. Sie verlangte Leben und Geräusch, und wenn
die Kinder zu still waren, dann mußte Fräulein Ahlborn Kuchen unter sie ver¬
teilen. Dann versammelte sich eine große Schar vor der Hausthür; es gab
Geschrei und Gelächter, Danksagungen und auch wohl ein gelegentliches Ge¬
heul, wenn sich jemand benachteiligt glaubte, aber die alte Gräfin freute sich
über alles. Manchmal sah sie dann allerdings mit einem merkwürdig for¬
schenden Ausdruck die Straße hinab, als erwartete sie noch jemanden. Wenn
aber niemand kam, so horchte sie wieder auf die Kinderstimmen.

Sehr viel Besuch kam nicht in das stille Haus. Hin und wieder einige
jüngere Aristokraten, die der Gräfin flüchtig die Hand küßten, über das
Wetter sprachen, in dem dunkeln Eßzimmer einige Gläser Portwein tranken
und sehr gnädig gegen Fräulein Ahlborn waren. Sie brachten ihr wertvolle


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[0448] Lorisande Ahlborn war nach ihrer Beschreibung ein junges, dummes und sehr un¬ brauchbares Geschöpf, das lauter unnütze Dinge im Kopfe habe und deshalb auch nächstens weggeschickt werden würde. Sie habe große Anlage zur Trägheit, sitze am liebsten den ganzen Tag im Lehnstuhl und sei neulich so frech ge¬ wesen, von ihrem Testament zu sprechen. Ihr Testament! Die Gräfin ereiferte sich. Es sei ihr unbegreiflich, wie ein so junges Mädchen auf diesen trübseligen Gedanken kommen könne! Es sei entschieden besser, daß Ahlborn bald heirate, dann würde auch ihre Stimmung besser werden. So redete die alte Dame, und der neugierige Besucher saß da mit un¬ heimlichen Gefühlen. War ihm doch bekannt, daß Fräulein Ahlborn fünfund- siebzig Jahre zählte, daß sie also vielleicht ein kleines Recht darauf hatte, an ihren letzte» Willen zu denken- Gehörte der Besucher dem geistlichen Stande an, wie es meistens der Fall war, so begann er Wohl unter einigem Räuspern davon zu sprechen, daß es vielleicht nicht übel sei, gelegentlich den Tod, der ja alle Menschen einmal ereile, ins Auge zu fassen. Aber weiter kam er nicht mit feiner Bemerkung, denn die Gräfin wurde sehr böse. Es sei unpassend, sagte sie, in anständiger Gesellschaft vom Tode zu sprechen. Man müsse immer thun, als gäbe es keinen Tod, dann komme er auch nicht zu einem. So halte man es bei Hofe, und so wünsche sie es auch zu halten. Wenn sich der vorlaute Besucher kopfschüttelnd entfernt hatte, dann pflegte die Gräfin Fräulein Ahlborn rufen zu lassen und ihr in wenigen raschen Worten zu kündigen. Sie passen nicht für mich! Sie siud zu jung für Ihre Stellung, zu unbedacht! sagte sie dann in ihrer kurzen Weise. Dann nickte Fräulein Ahlborn ruhig, denn sie kannte diese Kündigungen seit mehr als fünfzig Jahren und wußte, daß sie die Gräfin nach einer Viertelstunde wieder vergessen hatte. So war es denn auch. Wenn die alte Dame den Kopf in die Kissen ihres Lehnstuhls gedrückt und fünf Minuten geschlafen hatte, so wußte sie nichts mehr von ihrem Ärger über Fräulein Ahlborn und sah wieder nach den Kindern aus, die auf der Straße spielten. Sie verlangte Leben und Geräusch, und wenn die Kinder zu still waren, dann mußte Fräulein Ahlborn Kuchen unter sie ver¬ teilen. Dann versammelte sich eine große Schar vor der Hausthür; es gab Geschrei und Gelächter, Danksagungen und auch wohl ein gelegentliches Ge¬ heul, wenn sich jemand benachteiligt glaubte, aber die alte Gräfin freute sich über alles. Manchmal sah sie dann allerdings mit einem merkwürdig for¬ schenden Ausdruck die Straße hinab, als erwartete sie noch jemanden. Wenn aber niemand kam, so horchte sie wieder auf die Kinderstimmen. Sehr viel Besuch kam nicht in das stille Haus. Hin und wieder einige jüngere Aristokraten, die der Gräfin flüchtig die Hand küßten, über das Wetter sprachen, in dem dunkeln Eßzimmer einige Gläser Portwein tranken und sehr gnädig gegen Fräulein Ahlborn waren. Sie brachten ihr wertvolle

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/448>, abgerufen am 27.11.2024.