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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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(Lorisande
Lharlotte Niese voll

hemals hatten sich die Leute in der kleinen Stadt darüber ge¬
wundert, daß die alte Gräfin uoch lebte. Nun wunderten sie
sich nicht wehr, denu einmal im Leben hört das Wundern auf,
selbst bei den verwunderlichsten Dingen, Vor Zeiten, wenn ir¬
gend eine böse Krankheit in die Stadt kam, oder wenn ein strenger
Winter Stein und Bein gefrieren machte, da sagten die Bewohner des Städt¬
chens zu einander: Nun wird Wohl die alte Gräfin auch draufgehen! Aber
sie ging nicht drauf, und schon seit Jahren hieß es, daß die alte Dame nicht
stürbe, weil sie nicht sterben könne. Aus welchem Grunde sie das nicht könne,
wußte kein Mensch anzugeben, und schließlich war es den fernerstehenden auch
gleichgültig, wohl darum, weil beim Leben und Sterben doch kein Mensch mit¬
zureden hat.

Jedenfalls konnte sich niemand das alte Haus in der stillen Straße ohne
die Gräfin denken, zumal die Kinder. Denn gegen die war die alte Dame
am freundlichsten. An warmen Frühlingstagen, oder wenn der Herbst noch
goldigen Sonnenschein brachte, saß sie am geöffneten Fenster, das nach der
Straße ging, und sah den Kindern zu, die vor dem Hause spielten. Sie
hatte nichts dagegen, daß in ihrem kleinen Vorgarten Ball und Kreisel ge¬
spielt wurde, und wenn sich die Jungen prügelten, so lachte sie und klatschte
in die Hände. Daher sagten auch die meisten vernünftigen Leute, der Ver¬
stand der Gräfin sei nicht mehr ganz in Ordnung, und das mochte wohl
auch der Fall sein, obgleich darüber nichts gewisses erkundet werden konnte.
Denn ihre Gesellschafterin, Fräulein Ahlborn, gehörte zu den stillen alten
Jungfern, von denen es ja noch immer etliche in der Welt giebt. Sie sprach
niemals über ihre Herrin, und selbst die neugierigste Kaffeebase des Städtchens
hatte es aufgegeben, mit ihr in Verkehr zu kommen. Wer also etwas von
der Vergangenheit und den Schicksalen der alten Gräfin wissen wollte, der
mußte sich an sie selbst wenden. Die Auskunft aber, die dann erteilt wurde,
befriedigte nicht alle Frager. Denn meistens klagte dann die Dame sehr über
ihre Gesellschafterin, die sie nach alter Sitte nnr bei ihrem Vatersnamen
nannte.




(Lorisande
Lharlotte Niese voll

hemals hatten sich die Leute in der kleinen Stadt darüber ge¬
wundert, daß die alte Gräfin uoch lebte. Nun wunderten sie
sich nicht wehr, denu einmal im Leben hört das Wundern auf,
selbst bei den verwunderlichsten Dingen, Vor Zeiten, wenn ir¬
gend eine böse Krankheit in die Stadt kam, oder wenn ein strenger
Winter Stein und Bein gefrieren machte, da sagten die Bewohner des Städt¬
chens zu einander: Nun wird Wohl die alte Gräfin auch draufgehen! Aber
sie ging nicht drauf, und schon seit Jahren hieß es, daß die alte Dame nicht
stürbe, weil sie nicht sterben könne. Aus welchem Grunde sie das nicht könne,
wußte kein Mensch anzugeben, und schließlich war es den fernerstehenden auch
gleichgültig, wohl darum, weil beim Leben und Sterben doch kein Mensch mit¬
zureden hat.

Jedenfalls konnte sich niemand das alte Haus in der stillen Straße ohne
die Gräfin denken, zumal die Kinder. Denn gegen die war die alte Dame
am freundlichsten. An warmen Frühlingstagen, oder wenn der Herbst noch
goldigen Sonnenschein brachte, saß sie am geöffneten Fenster, das nach der
Straße ging, und sah den Kindern zu, die vor dem Hause spielten. Sie
hatte nichts dagegen, daß in ihrem kleinen Vorgarten Ball und Kreisel ge¬
spielt wurde, und wenn sich die Jungen prügelten, so lachte sie und klatschte
in die Hände. Daher sagten auch die meisten vernünftigen Leute, der Ver¬
stand der Gräfin sei nicht mehr ganz in Ordnung, und das mochte wohl
auch der Fall sein, obgleich darüber nichts gewisses erkundet werden konnte.
Denn ihre Gesellschafterin, Fräulein Ahlborn, gehörte zu den stillen alten
Jungfern, von denen es ja noch immer etliche in der Welt giebt. Sie sprach
niemals über ihre Herrin, und selbst die neugierigste Kaffeebase des Städtchens
hatte es aufgegeben, mit ihr in Verkehr zu kommen. Wer also etwas von
der Vergangenheit und den Schicksalen der alten Gräfin wissen wollte, der
mußte sich an sie selbst wenden. Die Auskunft aber, die dann erteilt wurde,
befriedigte nicht alle Frager. Denn meistens klagte dann die Dame sehr über
ihre Gesellschafterin, die sie nach alter Sitte nnr bei ihrem Vatersnamen
nannte.


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[0447] [Abbildung] (Lorisande Lharlotte Niese voll hemals hatten sich die Leute in der kleinen Stadt darüber ge¬ wundert, daß die alte Gräfin uoch lebte. Nun wunderten sie sich nicht wehr, denu einmal im Leben hört das Wundern auf, selbst bei den verwunderlichsten Dingen, Vor Zeiten, wenn ir¬ gend eine böse Krankheit in die Stadt kam, oder wenn ein strenger Winter Stein und Bein gefrieren machte, da sagten die Bewohner des Städt¬ chens zu einander: Nun wird Wohl die alte Gräfin auch draufgehen! Aber sie ging nicht drauf, und schon seit Jahren hieß es, daß die alte Dame nicht stürbe, weil sie nicht sterben könne. Aus welchem Grunde sie das nicht könne, wußte kein Mensch anzugeben, und schließlich war es den fernerstehenden auch gleichgültig, wohl darum, weil beim Leben und Sterben doch kein Mensch mit¬ zureden hat. Jedenfalls konnte sich niemand das alte Haus in der stillen Straße ohne die Gräfin denken, zumal die Kinder. Denn gegen die war die alte Dame am freundlichsten. An warmen Frühlingstagen, oder wenn der Herbst noch goldigen Sonnenschein brachte, saß sie am geöffneten Fenster, das nach der Straße ging, und sah den Kindern zu, die vor dem Hause spielten. Sie hatte nichts dagegen, daß in ihrem kleinen Vorgarten Ball und Kreisel ge¬ spielt wurde, und wenn sich die Jungen prügelten, so lachte sie und klatschte in die Hände. Daher sagten auch die meisten vernünftigen Leute, der Ver¬ stand der Gräfin sei nicht mehr ganz in Ordnung, und das mochte wohl auch der Fall sein, obgleich darüber nichts gewisses erkundet werden konnte. Denn ihre Gesellschafterin, Fräulein Ahlborn, gehörte zu den stillen alten Jungfern, von denen es ja noch immer etliche in der Welt giebt. Sie sprach niemals über ihre Herrin, und selbst die neugierigste Kaffeebase des Städtchens hatte es aufgegeben, mit ihr in Verkehr zu kommen. Wer also etwas von der Vergangenheit und den Schicksalen der alten Gräfin wissen wollte, der mußte sich an sie selbst wenden. Die Auskunft aber, die dann erteilt wurde, befriedigte nicht alle Frager. Denn meistens klagte dann die Dame sehr über ihre Gesellschafterin, die sie nach alter Sitte nnr bei ihrem Vatersnamen nannte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/447>, abgerufen am 27.11.2024.