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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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botmäßigen hintanzuhalten. Sobald diese Hemmung aufhört, ist der Nimbus
der Autorität dahin, und die Wagschalen der Macht regeln sich nach ihrem
materiellen Inhalt. Diese an sich triviale Betrachtung hat für die Gegen¬
wart eine besondre Bedeutung, denn jener Prozeß der Kompensation des
geringern materiellen Vermögens durch die Autorität ist heutzutage weit un¬
günstigern Bedingungen unterworfen, als jemals zuvor; die Pathologie der
Funktionsstörungen, denen die Autorität ausgesetzt ist, hat in unsern Tagen
mit einer Komplikation zu rechnen, die sich mit gleichem Nachdruck in keinem
frühern Abschnitt der Geschichte geltend gemacht hat. Wir meinen den Verkehr,
"in dessen Zeichen unsre Zeit steht," und zwar den Verkehr in des Wortes
weitestein Sinne. Wir meinen vor allem den geistigen Verkehr, der durch
seine regsamste Vermittlerin, durch die Presse, unterhalten wird, die mit dem
Staube unter andern Eigenschaften auch die Fähigkeit gemein hat, der
strengsten Abschließung zum Trotz in die sorgfältigst gehüteten Räume einzu¬
dringen; wir bringen auch die Behendigkeit mit in Anschlag, womit heutzu¬
tage die persönliche Fortbewegung der Menschen von statten geht, und die
man durch Fahrpreisermäßigung und Zonentarife noch zu steigern strebt; wir
meinen insbesondre das nie bis zu solcher Entwicklung wie gegenwärtig gediehene
Vermögen der Massen, mit einander in unmittelbare persönliche Verbindung zu
treten, sich zu sammeln, sich zu verständigen, sich zu verschwören. So sehen
wir Vereinigungen der Angehörigen aller möglichen männlichen und weiblichen
Berufsklassen und Interessengruppen trotz aller Hindernisse, die ihnen der Staat
in den Weg legt, sich anbahnen und sich ins Werk setzen, um durch die Macht
ihres Zusammenwirkens ihren Bestrebungen andern Kreisen der Gesellschaft
gegenüber Nachdruck und Förderung zu verleihen, Vereinigungen, wie sie
frühern Zeiten in solcher Art und in solcher Ausdehnung, mit solcher
Schnelligkeit hergestellt, vollkommen fremd waren. Man wird uns daher
keiner Schwarzseherei zeihen können, wenn wir uns angesichts dieser Vorgänge
des modernen sozialen Lebens und angesichts der stets wachsenden Schwie¬
rigkeit, das Heer ihnen gegenüber abzuschließen, nicht gleichgiltig die Leichtig¬
keit vergegenwärtigen, mit der sich einst die Mobilisirnng der staatsfeindlichen
Kräfte vollziehen wird, wenn ihre Leiter den Zeitpunkt für einen Versuch ge¬
kommen erachten werden, die staatliche Autorität über den Haufen zu stoßen.

"Daß der Zug der Zeit -- sagen die Hamburger Nachrichten am Schluß
ihres zweiten Aufsatzes -- und die Konsequenzen der modernen Kultur un¬
leugbar auch gleichzeitig die Keime in sich tragen, selbst wieder kulturfeindlich
zu wirken, ist eine Erscheinung, die sich jedem aufdrängt, dessen Blick nicht
an der Oberfläche der Dinge haften bleibt." Ohne Zweifel ist dem so. Aber
daß damit alles gesagt sei, meinen wohl auch die Hamburger Nachrichten nicht.
Oder sollte damit auch gesagt sein, daß wir dieser "kulturfeindlichen modernen
Kultur" Beifall klatschen, und das Unheil, das aus ihr erwächst, widerstandslos


botmäßigen hintanzuhalten. Sobald diese Hemmung aufhört, ist der Nimbus
der Autorität dahin, und die Wagschalen der Macht regeln sich nach ihrem
materiellen Inhalt. Diese an sich triviale Betrachtung hat für die Gegen¬
wart eine besondre Bedeutung, denn jener Prozeß der Kompensation des
geringern materiellen Vermögens durch die Autorität ist heutzutage weit un¬
günstigern Bedingungen unterworfen, als jemals zuvor; die Pathologie der
Funktionsstörungen, denen die Autorität ausgesetzt ist, hat in unsern Tagen
mit einer Komplikation zu rechnen, die sich mit gleichem Nachdruck in keinem
frühern Abschnitt der Geschichte geltend gemacht hat. Wir meinen den Verkehr,
„in dessen Zeichen unsre Zeit steht," und zwar den Verkehr in des Wortes
weitestein Sinne. Wir meinen vor allem den geistigen Verkehr, der durch
seine regsamste Vermittlerin, durch die Presse, unterhalten wird, die mit dem
Staube unter andern Eigenschaften auch die Fähigkeit gemein hat, der
strengsten Abschließung zum Trotz in die sorgfältigst gehüteten Räume einzu¬
dringen; wir bringen auch die Behendigkeit mit in Anschlag, womit heutzu¬
tage die persönliche Fortbewegung der Menschen von statten geht, und die
man durch Fahrpreisermäßigung und Zonentarife noch zu steigern strebt; wir
meinen insbesondre das nie bis zu solcher Entwicklung wie gegenwärtig gediehene
Vermögen der Massen, mit einander in unmittelbare persönliche Verbindung zu
treten, sich zu sammeln, sich zu verständigen, sich zu verschwören. So sehen
wir Vereinigungen der Angehörigen aller möglichen männlichen und weiblichen
Berufsklassen und Interessengruppen trotz aller Hindernisse, die ihnen der Staat
in den Weg legt, sich anbahnen und sich ins Werk setzen, um durch die Macht
ihres Zusammenwirkens ihren Bestrebungen andern Kreisen der Gesellschaft
gegenüber Nachdruck und Förderung zu verleihen, Vereinigungen, wie sie
frühern Zeiten in solcher Art und in solcher Ausdehnung, mit solcher
Schnelligkeit hergestellt, vollkommen fremd waren. Man wird uns daher
keiner Schwarzseherei zeihen können, wenn wir uns angesichts dieser Vorgänge
des modernen sozialen Lebens und angesichts der stets wachsenden Schwie¬
rigkeit, das Heer ihnen gegenüber abzuschließen, nicht gleichgiltig die Leichtig¬
keit vergegenwärtigen, mit der sich einst die Mobilisirnng der staatsfeindlichen
Kräfte vollziehen wird, wenn ihre Leiter den Zeitpunkt für einen Versuch ge¬
kommen erachten werden, die staatliche Autorität über den Haufen zu stoßen.

„Daß der Zug der Zeit — sagen die Hamburger Nachrichten am Schluß
ihres zweiten Aufsatzes — und die Konsequenzen der modernen Kultur un¬
leugbar auch gleichzeitig die Keime in sich tragen, selbst wieder kulturfeindlich
zu wirken, ist eine Erscheinung, die sich jedem aufdrängt, dessen Blick nicht
an der Oberfläche der Dinge haften bleibt." Ohne Zweifel ist dem so. Aber
daß damit alles gesagt sei, meinen wohl auch die Hamburger Nachrichten nicht.
Oder sollte damit auch gesagt sein, daß wir dieser „kulturfeindlichen modernen
Kultur" Beifall klatschen, und das Unheil, das aus ihr erwächst, widerstandslos


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/398>, abgerufen am 20.09.2024.