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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Unsre Volksschulbildimg

über uns ergehen lassen sollen, nur um human scheinenden Theorien Geltung
zu verschaffen? Enthält nicht vielmehr jene Erscheinung eine beredte Mahnung,
von der Kultur nicht allzu vertrauensvoll das Heil der Menschheit zu erwarten
und uns in dem rücksichtslosen Bestreben, sie mit allen uns zu Gebote
stehenden Mitteln zu fördern, einiges Maß aufzuerlegen? Wir glauben diese
Frage bejahen zu müssen. Wir glauben uns auch keiner Übertreibung schuldig
zu machen, wenn wir Staat und Gesellschaft, die sich als Vollstrecker so¬
genannter liberaler Doktrinen die Aufklärung der Massen angelegen sein lassen,
jenem Unbesonnenen vergleichen, der geschäftig ist, den Ast, auf dem er selber
sitzt, in aller Sorglosigkeit abzusägen.

Wir haben uns nie dazu überrede" lassen, in die Verherrlichung des
deutschen Schulmeisters als angeblichen Siegers von Sadowa und Sedan ein¬
zustimmen, wohl aber haben wir längst in der Volksschule eine Mitschuldige
an der Entstehung und dem Umsichgreifen jeuer nüchternen, gemut- und re¬
ligionslose!? Halbbildung im deutschen Vaterlande erblickt, die zunächst der
Unzufriedenheit und dem Neid einen fruchtbaren Boden bereitet und in der
Folge die Irrlehren der Sozialdemokratie zu üppigem Gedeihen befördert hat
und noch tagtäglich befördert.

Das Odium einer Auflehnung gegen die modernen Doktrinen der Volks-
beglückung nehmen wir aber um so getroster auf uns, als uns vergönnt ist,
es mit einem hervorragenden Organ des Liberalismus ungefähr zu gleichen
Teilen zutragen. Denn, wie die Hamburger Nachrichten wieder mit Recht
hervorheben, "wir leben nicht von Doktrinen, sondern haben mit den That¬
sachen zu rechnen." Zu den Thatsachen aber, die wir bei keinem sozialpoli¬
tischen Rechenexempel außer Acht lassen dürfen, gehört auch die erst vor kurzem
von uns in diesen Blättern betonte, daß sich nun einmal die Verschiedenheit in
den Lebensverhältnissen der Menschen nicht aus der Welt bannen läßt. Der
Menschenfreund wird sich dabei der durch die Erfahrung nicht minder bewährten
Thatsache getrösten, daß nicht nur der Besitz, der den Menschen am nach¬
haltigsten beglückt, die Einfalt des Herzens und der Friede des Gemüts, sondern
daß anch Lebensfreude und Lebensgenuß in bescheidnen Verhältnissen gedeihen,
ja häufig sogar in höherm Maße als in den Kreisen, denen an den äußern Lebens¬
gütern, materieller oder geistiger Art, ein reicherer Anteil zugefallen ist. Wir
können uns nicht enthalten, hier im Vorbeigehen ans die von dem Aufklärungs¬
philister so hänfig bemitleidete Heimat des Analphabetentums, das südliche
Italien, hinzuweisen, vou dessen Zustünden die unklare Brille besagten
Philisters zwar ein abschreckendes Bild liefert, wo aber trotz mancher der
Beseitigung unleugbar bedürftigen Mißstände der unbefangne Beobachter in
den untern Volksschichten anstatt des durch die Halbbildung eingepflanzten
und durch die Sozialdemokratie großgezognen Mißvergnügens zufriedner und
heitern Lebensgenuß herrschen sieht, im Verein mit Sparsamkeit, Genügsamkeit


Unsre Volksschulbildimg

über uns ergehen lassen sollen, nur um human scheinenden Theorien Geltung
zu verschaffen? Enthält nicht vielmehr jene Erscheinung eine beredte Mahnung,
von der Kultur nicht allzu vertrauensvoll das Heil der Menschheit zu erwarten
und uns in dem rücksichtslosen Bestreben, sie mit allen uns zu Gebote
stehenden Mitteln zu fördern, einiges Maß aufzuerlegen? Wir glauben diese
Frage bejahen zu müssen. Wir glauben uns auch keiner Übertreibung schuldig
zu machen, wenn wir Staat und Gesellschaft, die sich als Vollstrecker so¬
genannter liberaler Doktrinen die Aufklärung der Massen angelegen sein lassen,
jenem Unbesonnenen vergleichen, der geschäftig ist, den Ast, auf dem er selber
sitzt, in aller Sorglosigkeit abzusägen.

Wir haben uns nie dazu überrede» lassen, in die Verherrlichung des
deutschen Schulmeisters als angeblichen Siegers von Sadowa und Sedan ein¬
zustimmen, wohl aber haben wir längst in der Volksschule eine Mitschuldige
an der Entstehung und dem Umsichgreifen jeuer nüchternen, gemut- und re¬
ligionslose!? Halbbildung im deutschen Vaterlande erblickt, die zunächst der
Unzufriedenheit und dem Neid einen fruchtbaren Boden bereitet und in der
Folge die Irrlehren der Sozialdemokratie zu üppigem Gedeihen befördert hat
und noch tagtäglich befördert.

Das Odium einer Auflehnung gegen die modernen Doktrinen der Volks-
beglückung nehmen wir aber um so getroster auf uns, als uns vergönnt ist,
es mit einem hervorragenden Organ des Liberalismus ungefähr zu gleichen
Teilen zutragen. Denn, wie die Hamburger Nachrichten wieder mit Recht
hervorheben, „wir leben nicht von Doktrinen, sondern haben mit den That¬
sachen zu rechnen." Zu den Thatsachen aber, die wir bei keinem sozialpoli¬
tischen Rechenexempel außer Acht lassen dürfen, gehört auch die erst vor kurzem
von uns in diesen Blättern betonte, daß sich nun einmal die Verschiedenheit in
den Lebensverhältnissen der Menschen nicht aus der Welt bannen läßt. Der
Menschenfreund wird sich dabei der durch die Erfahrung nicht minder bewährten
Thatsache getrösten, daß nicht nur der Besitz, der den Menschen am nach¬
haltigsten beglückt, die Einfalt des Herzens und der Friede des Gemüts, sondern
daß anch Lebensfreude und Lebensgenuß in bescheidnen Verhältnissen gedeihen,
ja häufig sogar in höherm Maße als in den Kreisen, denen an den äußern Lebens¬
gütern, materieller oder geistiger Art, ein reicherer Anteil zugefallen ist. Wir
können uns nicht enthalten, hier im Vorbeigehen ans die von dem Aufklärungs¬
philister so hänfig bemitleidete Heimat des Analphabetentums, das südliche
Italien, hinzuweisen, vou dessen Zustünden die unklare Brille besagten
Philisters zwar ein abschreckendes Bild liefert, wo aber trotz mancher der
Beseitigung unleugbar bedürftigen Mißstände der unbefangne Beobachter in
den untern Volksschichten anstatt des durch die Halbbildung eingepflanzten
und durch die Sozialdemokratie großgezognen Mißvergnügens zufriedner und
heitern Lebensgenuß herrschen sieht, im Verein mit Sparsamkeit, Genügsamkeit


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[0399] Unsre Volksschulbildimg über uns ergehen lassen sollen, nur um human scheinenden Theorien Geltung zu verschaffen? Enthält nicht vielmehr jene Erscheinung eine beredte Mahnung, von der Kultur nicht allzu vertrauensvoll das Heil der Menschheit zu erwarten und uns in dem rücksichtslosen Bestreben, sie mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu fördern, einiges Maß aufzuerlegen? Wir glauben diese Frage bejahen zu müssen. Wir glauben uns auch keiner Übertreibung schuldig zu machen, wenn wir Staat und Gesellschaft, die sich als Vollstrecker so¬ genannter liberaler Doktrinen die Aufklärung der Massen angelegen sein lassen, jenem Unbesonnenen vergleichen, der geschäftig ist, den Ast, auf dem er selber sitzt, in aller Sorglosigkeit abzusägen. Wir haben uns nie dazu überrede» lassen, in die Verherrlichung des deutschen Schulmeisters als angeblichen Siegers von Sadowa und Sedan ein¬ zustimmen, wohl aber haben wir längst in der Volksschule eine Mitschuldige an der Entstehung und dem Umsichgreifen jeuer nüchternen, gemut- und re¬ ligionslose!? Halbbildung im deutschen Vaterlande erblickt, die zunächst der Unzufriedenheit und dem Neid einen fruchtbaren Boden bereitet und in der Folge die Irrlehren der Sozialdemokratie zu üppigem Gedeihen befördert hat und noch tagtäglich befördert. Das Odium einer Auflehnung gegen die modernen Doktrinen der Volks- beglückung nehmen wir aber um so getroster auf uns, als uns vergönnt ist, es mit einem hervorragenden Organ des Liberalismus ungefähr zu gleichen Teilen zutragen. Denn, wie die Hamburger Nachrichten wieder mit Recht hervorheben, „wir leben nicht von Doktrinen, sondern haben mit den That¬ sachen zu rechnen." Zu den Thatsachen aber, die wir bei keinem sozialpoli¬ tischen Rechenexempel außer Acht lassen dürfen, gehört auch die erst vor kurzem von uns in diesen Blättern betonte, daß sich nun einmal die Verschiedenheit in den Lebensverhältnissen der Menschen nicht aus der Welt bannen läßt. Der Menschenfreund wird sich dabei der durch die Erfahrung nicht minder bewährten Thatsache getrösten, daß nicht nur der Besitz, der den Menschen am nach¬ haltigsten beglückt, die Einfalt des Herzens und der Friede des Gemüts, sondern daß anch Lebensfreude und Lebensgenuß in bescheidnen Verhältnissen gedeihen, ja häufig sogar in höherm Maße als in den Kreisen, denen an den äußern Lebens¬ gütern, materieller oder geistiger Art, ein reicherer Anteil zugefallen ist. Wir können uns nicht enthalten, hier im Vorbeigehen ans die von dem Aufklärungs¬ philister so hänfig bemitleidete Heimat des Analphabetentums, das südliche Italien, hinzuweisen, vou dessen Zustünden die unklare Brille besagten Philisters zwar ein abschreckendes Bild liefert, wo aber trotz mancher der Beseitigung unleugbar bedürftigen Mißstände der unbefangne Beobachter in den untern Volksschichten anstatt des durch die Halbbildung eingepflanzten und durch die Sozialdemokratie großgezognen Mißvergnügens zufriedner und heitern Lebensgenuß herrschen sieht, im Verein mit Sparsamkeit, Genügsamkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/399>, abgerufen am 28.06.2024.