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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weder Kommunismus noch Kapitalismus

das Unterkommen der steigenden Bevölkerung sorge, beweisen das aufs schönste.
Die Zahl der in dem gesündesten aller Gewerbe, im landwirtschaftlichen, be¬
schäftigten Personen nimmt ab, wahrend die chemischen, die polygraphischen,
die Papierindustrien und ähnliche immer größere Mengen von Arbeitern auf¬
nehmein Um den starken Zuwachs der Arbeiter "in künstlerischen Betrieben
für gewerbliche Zwecke" (von 1849 bis 1875 über 400 Prozent) erfreulich zu
finden, müßte man erst genauer wissen, was alles unter dieser Bezeichnung
zusammengefaßt wird. Erfreulich ist in dieser Zusammenstellung, die wir nicht
vollständig mitteilen können, nur das Wachstum der Verkehrsgewerbe, der
Metallverarbeitung und der Bangewerbe. Das starke Wachstum der Veranstal¬
tungen ,,sür Beherbergung und Erquickung" erinnert uns daran, wie viel tau¬
send Menschen, zum Teil starke gesunde Menschen, dem Schicksal, zu den Be¬
ruflosen gerechnet zu werden, dadurch entgehe", daß sie ein "Geschäft" betreiben,
das keine Arbeit ist: als überzählige Kneipwirte, als Krämer, Hausirer, Dreh¬
orgelspieler, Plakatausträger, Winkeladvokaten, Faktotums und sonstige Schma¬
rotzer. Was die Erfolge der sehr löblichen Vereine und Anstalten, die sich
um den Arbeitsnachweis bemühen, unter Umständen wert sind, dafür hat der
Berliner Zentralverein für Arbeitsnachweis in seiner Oktoberübersicht ein lehr¬
reiches Beispiel gegeben. Er rühmt sich, in den ersten drei Vierteljahren des
laufenden Geschäftsjahres ausgezeichnete Erfolge gehabt zu haben, was um so
erfreulicher sei, als bekanntlich (dieses "bekanntlich" mögen sich die Schön-
särber zu Herzen nehmen) der Arbeitsmarkt sehr darniederlicge. Das "sehr
günstige" Ergebnis besteht nun darin, daß von "000 arbeitslosen Personen
6000 untergebracht wurden. Wo und wie? erfährt man. aus dem Vorwärts,
dessen Kritik unangefochten geblieben ist. So z. B. wurden einige hundert zu
einem Vahnbau nach Mecklenburg geschickt. Davon befanden sich acht Tage
später drei Viertel wieder auf der Fußwanderung nach Berlin, und die Mecklen¬
burger spotteten oder räsvnnirten darüber, daß man ihnen Goldarbeiter, Uhr¬
macher und Advokatenschreiber geschickt habe, die sich freilich nicht zum Erde-
knrren eigneten. Daß es thatsächlich unmöglich ist, allen Arbeitsuchenden Ar¬
beit zu verschaffen, beweisen die Arbeiterkvlonien. Diese von den Behörden
unterstützten und geförderten Anstalten verfügen natürlich über ganz andre
Mittel, das Angebot der Nachfrage anzupassen, sich Aufträge zu verschaffen
und ihre Erzeugnisse zu verwerten, als der einzelne arme Arbeiter. Wenn nnn
auch die Pfleglinge dieser Anstalten als hernntergekvmmne oder von Haus aus
wenig taugliche Menschen nicht für voll genommen werden können, und man
bon ihnen nicht erwarten wird, daß sie genug verdienen werden, eine Familie
SU ernähren, so sollte man doch meinen, sie müßten unter der eisernen Dis¬
ciplin dieser Anstalten wenigstens ihren eignen Lebensunterhalt vollständig ver¬
dienen. Das ist aber nicht der Fall; diese Anstalten brauchen, so viel wir
wissen, sämtlich Zuschüsse aus den Provinzialhilfskassen oder von Wohlthätern.


Weder Kommunismus noch Kapitalismus

das Unterkommen der steigenden Bevölkerung sorge, beweisen das aufs schönste.
Die Zahl der in dem gesündesten aller Gewerbe, im landwirtschaftlichen, be¬
schäftigten Personen nimmt ab, wahrend die chemischen, die polygraphischen,
die Papierindustrien und ähnliche immer größere Mengen von Arbeitern auf¬
nehmein Um den starken Zuwachs der Arbeiter „in künstlerischen Betrieben
für gewerbliche Zwecke" (von 1849 bis 1875 über 400 Prozent) erfreulich zu
finden, müßte man erst genauer wissen, was alles unter dieser Bezeichnung
zusammengefaßt wird. Erfreulich ist in dieser Zusammenstellung, die wir nicht
vollständig mitteilen können, nur das Wachstum der Verkehrsgewerbe, der
Metallverarbeitung und der Bangewerbe. Das starke Wachstum der Veranstal¬
tungen ,,sür Beherbergung und Erquickung" erinnert uns daran, wie viel tau¬
send Menschen, zum Teil starke gesunde Menschen, dem Schicksal, zu den Be¬
ruflosen gerechnet zu werden, dadurch entgehe», daß sie ein „Geschäft" betreiben,
das keine Arbeit ist: als überzählige Kneipwirte, als Krämer, Hausirer, Dreh¬
orgelspieler, Plakatausträger, Winkeladvokaten, Faktotums und sonstige Schma¬
rotzer. Was die Erfolge der sehr löblichen Vereine und Anstalten, die sich
um den Arbeitsnachweis bemühen, unter Umständen wert sind, dafür hat der
Berliner Zentralverein für Arbeitsnachweis in seiner Oktoberübersicht ein lehr¬
reiches Beispiel gegeben. Er rühmt sich, in den ersten drei Vierteljahren des
laufenden Geschäftsjahres ausgezeichnete Erfolge gehabt zu haben, was um so
erfreulicher sei, als bekanntlich (dieses „bekanntlich" mögen sich die Schön-
särber zu Herzen nehmen) der Arbeitsmarkt sehr darniederlicge. Das „sehr
günstige" Ergebnis besteht nun darin, daß von »000 arbeitslosen Personen
6000 untergebracht wurden. Wo und wie? erfährt man. aus dem Vorwärts,
dessen Kritik unangefochten geblieben ist. So z. B. wurden einige hundert zu
einem Vahnbau nach Mecklenburg geschickt. Davon befanden sich acht Tage
später drei Viertel wieder auf der Fußwanderung nach Berlin, und die Mecklen¬
burger spotteten oder räsvnnirten darüber, daß man ihnen Goldarbeiter, Uhr¬
macher und Advokatenschreiber geschickt habe, die sich freilich nicht zum Erde-
knrren eigneten. Daß es thatsächlich unmöglich ist, allen Arbeitsuchenden Ar¬
beit zu verschaffen, beweisen die Arbeiterkvlonien. Diese von den Behörden
unterstützten und geförderten Anstalten verfügen natürlich über ganz andre
Mittel, das Angebot der Nachfrage anzupassen, sich Aufträge zu verschaffen
und ihre Erzeugnisse zu verwerten, als der einzelne arme Arbeiter. Wenn nnn
auch die Pfleglinge dieser Anstalten als hernntergekvmmne oder von Haus aus
wenig taugliche Menschen nicht für voll genommen werden können, und man
bon ihnen nicht erwarten wird, daß sie genug verdienen werden, eine Familie
SU ernähren, so sollte man doch meinen, sie müßten unter der eisernen Dis¬
ciplin dieser Anstalten wenigstens ihren eignen Lebensunterhalt vollständig ver¬
dienen. Das ist aber nicht der Fall; diese Anstalten brauchen, so viel wir
wissen, sämtlich Zuschüsse aus den Provinzialhilfskassen oder von Wohlthätern.


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[0389] Weder Kommunismus noch Kapitalismus das Unterkommen der steigenden Bevölkerung sorge, beweisen das aufs schönste. Die Zahl der in dem gesündesten aller Gewerbe, im landwirtschaftlichen, be¬ schäftigten Personen nimmt ab, wahrend die chemischen, die polygraphischen, die Papierindustrien und ähnliche immer größere Mengen von Arbeitern auf¬ nehmein Um den starken Zuwachs der Arbeiter „in künstlerischen Betrieben für gewerbliche Zwecke" (von 1849 bis 1875 über 400 Prozent) erfreulich zu finden, müßte man erst genauer wissen, was alles unter dieser Bezeichnung zusammengefaßt wird. Erfreulich ist in dieser Zusammenstellung, die wir nicht vollständig mitteilen können, nur das Wachstum der Verkehrsgewerbe, der Metallverarbeitung und der Bangewerbe. Das starke Wachstum der Veranstal¬ tungen ,,sür Beherbergung und Erquickung" erinnert uns daran, wie viel tau¬ send Menschen, zum Teil starke gesunde Menschen, dem Schicksal, zu den Be¬ ruflosen gerechnet zu werden, dadurch entgehe», daß sie ein „Geschäft" betreiben, das keine Arbeit ist: als überzählige Kneipwirte, als Krämer, Hausirer, Dreh¬ orgelspieler, Plakatausträger, Winkeladvokaten, Faktotums und sonstige Schma¬ rotzer. Was die Erfolge der sehr löblichen Vereine und Anstalten, die sich um den Arbeitsnachweis bemühen, unter Umständen wert sind, dafür hat der Berliner Zentralverein für Arbeitsnachweis in seiner Oktoberübersicht ein lehr¬ reiches Beispiel gegeben. Er rühmt sich, in den ersten drei Vierteljahren des laufenden Geschäftsjahres ausgezeichnete Erfolge gehabt zu haben, was um so erfreulicher sei, als bekanntlich (dieses „bekanntlich" mögen sich die Schön- särber zu Herzen nehmen) der Arbeitsmarkt sehr darniederlicge. Das „sehr günstige" Ergebnis besteht nun darin, daß von »000 arbeitslosen Personen 6000 untergebracht wurden. Wo und wie? erfährt man. aus dem Vorwärts, dessen Kritik unangefochten geblieben ist. So z. B. wurden einige hundert zu einem Vahnbau nach Mecklenburg geschickt. Davon befanden sich acht Tage später drei Viertel wieder auf der Fußwanderung nach Berlin, und die Mecklen¬ burger spotteten oder räsvnnirten darüber, daß man ihnen Goldarbeiter, Uhr¬ macher und Advokatenschreiber geschickt habe, die sich freilich nicht zum Erde- knrren eigneten. Daß es thatsächlich unmöglich ist, allen Arbeitsuchenden Ar¬ beit zu verschaffen, beweisen die Arbeiterkvlonien. Diese von den Behörden unterstützten und geförderten Anstalten verfügen natürlich über ganz andre Mittel, das Angebot der Nachfrage anzupassen, sich Aufträge zu verschaffen und ihre Erzeugnisse zu verwerten, als der einzelne arme Arbeiter. Wenn nnn auch die Pfleglinge dieser Anstalten als hernntergekvmmne oder von Haus aus wenig taugliche Menschen nicht für voll genommen werden können, und man bon ihnen nicht erwarten wird, daß sie genug verdienen werden, eine Familie SU ernähren, so sollte man doch meinen, sie müßten unter der eisernen Dis¬ ciplin dieser Anstalten wenigstens ihren eignen Lebensunterhalt vollständig ver¬ dienen. Das ist aber nicht der Fall; diese Anstalten brauchen, so viel wir wissen, sämtlich Zuschüsse aus den Provinzialhilfskassen oder von Wohlthätern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/389>, abgerufen am 28.06.2024.