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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weder Rommunismus noch Kapitalismus

größten nach der Schuld gegolten haben: Hunger und Obdachlosigkeit, und
die in frühern Zeiten den Betroffnen zu einem Gegenstande des Mitleids und
der Ehrfurcht machten -- dem Zeus gehörte im Altertum der mittellose Fremd¬
ling, und Christum sah das Mittelalter nach Matth. 25, 35 im Bettler --.
diese beiden größten Übel zu Verbrechen zu stempeln, den ihnen Verfallnen
als Auswurf der Menschheit, als Ungeziefer zu behandeln und ihn gleich
einem wilden Tiere zu Hetzen, sodaß er hungrig, halb erfroren und mit wund-
gelcmsueu Füßen auch noch das verkörperte böse Gewissen sein muß, das vor
jedem Stück grünen, blauen und roten Tuches erschrickt und jedem gut ge¬
kleideten Menschen scheu aus dem Wege geht, dieser Kulturfortschritt ist
unsrer humanen Zeit vorbehalten geblieben. Vor fünfzig Jahren war der
"arme Reisende" noch nicht zum Ungeziefer herabgewürdigt. Die vornehmen
Leute hielten sich ihn Wohl auch damals schon vom Leibe, aber der biedere
Handwerker, der Kleinbürger hielt sein Näpfchen mit Pfennigen für ihn bereit,
die Bauersfrau schnitt ihm einen Ranft Brot ab, und ein freundliches
"Gsegns Gott" und "Vergelts Gott" begleitete Spendung und Annahme der
Gabe.

Diesem schrecklichen Schicksal können sich nur solche Wanderburschen ent¬
ziehen, die entschlossen mit der Gesellschaft, die sie verstoßen hat, brechen, ihr
offen den Krieg erklären und in die Armee der großstädtischen Verbrecher ein¬
springen. Hier können sie, wenn ihnen das Glück günstig ist, und wenn sie
Frechheit mit Geschick verbinden, einige Jahre ein vom Vestienstcindpunkte aus
genußreiches Leben führen, und fallen sie schließlich der Obrigkeit in die Hände,
so leben sie im Zuchthause immer noch angenehmer, als ,,auf der Walze,"
im Asyl, in der Arbeiterkvlvnie, im Korrektivushause. Indem die bürgerliche
Gesellschaft das lustige Vagcmtenlebcn des Mittelalters, das in dem Rüuberleben
einiger südlichen Länder noch einige Spätlinge treibt, vollständig zerstörte und
das Los des Beschäftigungslosen so schrecklich machte, hat sie es ja wirklich
erreicht, daß mit verschwindenden Ausnahmen jeder Mittellose jede Arbeit, die
er nur irgend zu leisten vermag, unter jeder Bedingung übernimmt, die man
ihm stellt. Diesem Umstände allein verdanken alle jene Industrien ihr Dasein,
die entweder nur durch überlange Arbeitszeiten bestehen können, oder die eine
ganz außerordentlich widerwärtige Beschäftigung, zum Teil in unerträglicher
Temperatur, erfordern, und von denen manche, wie die Fabrikation der Anilin¬
farben, den Arbeiter binnen wenigen Jahren so gründlich vergiften, daß er
zeitlebens siech bleibt. Die Sache steht also derart, daß wir mindestens zehn¬
mal so viel Arbeitslose in Deutschland haben würden, als wir haben, wenn
im deutschen Volke der germanische Geist jener alten Römerbezwinger noch
lebendig wäre, die sich eher an den Mauern eines Gefängnisses den Kopf ein¬
geräumt, als in ein solches Joch gefügt haben würden. Die Ziffern der säch¬
sischen Statistik, mit denen Wolf zeigt, wie herrlich der Jndustriefortschritt für


Weder Rommunismus noch Kapitalismus

größten nach der Schuld gegolten haben: Hunger und Obdachlosigkeit, und
die in frühern Zeiten den Betroffnen zu einem Gegenstande des Mitleids und
der Ehrfurcht machten — dem Zeus gehörte im Altertum der mittellose Fremd¬
ling, und Christum sah das Mittelalter nach Matth. 25, 35 im Bettler —.
diese beiden größten Übel zu Verbrechen zu stempeln, den ihnen Verfallnen
als Auswurf der Menschheit, als Ungeziefer zu behandeln und ihn gleich
einem wilden Tiere zu Hetzen, sodaß er hungrig, halb erfroren und mit wund-
gelcmsueu Füßen auch noch das verkörperte böse Gewissen sein muß, das vor
jedem Stück grünen, blauen und roten Tuches erschrickt und jedem gut ge¬
kleideten Menschen scheu aus dem Wege geht, dieser Kulturfortschritt ist
unsrer humanen Zeit vorbehalten geblieben. Vor fünfzig Jahren war der
„arme Reisende" noch nicht zum Ungeziefer herabgewürdigt. Die vornehmen
Leute hielten sich ihn Wohl auch damals schon vom Leibe, aber der biedere
Handwerker, der Kleinbürger hielt sein Näpfchen mit Pfennigen für ihn bereit,
die Bauersfrau schnitt ihm einen Ranft Brot ab, und ein freundliches
„Gsegns Gott" und „Vergelts Gott" begleitete Spendung und Annahme der
Gabe.

Diesem schrecklichen Schicksal können sich nur solche Wanderburschen ent¬
ziehen, die entschlossen mit der Gesellschaft, die sie verstoßen hat, brechen, ihr
offen den Krieg erklären und in die Armee der großstädtischen Verbrecher ein¬
springen. Hier können sie, wenn ihnen das Glück günstig ist, und wenn sie
Frechheit mit Geschick verbinden, einige Jahre ein vom Vestienstcindpunkte aus
genußreiches Leben führen, und fallen sie schließlich der Obrigkeit in die Hände,
so leben sie im Zuchthause immer noch angenehmer, als ,,auf der Walze,"
im Asyl, in der Arbeiterkvlvnie, im Korrektivushause. Indem die bürgerliche
Gesellschaft das lustige Vagcmtenlebcn des Mittelalters, das in dem Rüuberleben
einiger südlichen Länder noch einige Spätlinge treibt, vollständig zerstörte und
das Los des Beschäftigungslosen so schrecklich machte, hat sie es ja wirklich
erreicht, daß mit verschwindenden Ausnahmen jeder Mittellose jede Arbeit, die
er nur irgend zu leisten vermag, unter jeder Bedingung übernimmt, die man
ihm stellt. Diesem Umstände allein verdanken alle jene Industrien ihr Dasein,
die entweder nur durch überlange Arbeitszeiten bestehen können, oder die eine
ganz außerordentlich widerwärtige Beschäftigung, zum Teil in unerträglicher
Temperatur, erfordern, und von denen manche, wie die Fabrikation der Anilin¬
farben, den Arbeiter binnen wenigen Jahren so gründlich vergiften, daß er
zeitlebens siech bleibt. Die Sache steht also derart, daß wir mindestens zehn¬
mal so viel Arbeitslose in Deutschland haben würden, als wir haben, wenn
im deutschen Volke der germanische Geist jener alten Römerbezwinger noch
lebendig wäre, die sich eher an den Mauern eines Gefängnisses den Kopf ein¬
geräumt, als in ein solches Joch gefügt haben würden. Die Ziffern der säch¬
sischen Statistik, mit denen Wolf zeigt, wie herrlich der Jndustriefortschritt für


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[0388] Weder Rommunismus noch Kapitalismus größten nach der Schuld gegolten haben: Hunger und Obdachlosigkeit, und die in frühern Zeiten den Betroffnen zu einem Gegenstande des Mitleids und der Ehrfurcht machten — dem Zeus gehörte im Altertum der mittellose Fremd¬ ling, und Christum sah das Mittelalter nach Matth. 25, 35 im Bettler —. diese beiden größten Übel zu Verbrechen zu stempeln, den ihnen Verfallnen als Auswurf der Menschheit, als Ungeziefer zu behandeln und ihn gleich einem wilden Tiere zu Hetzen, sodaß er hungrig, halb erfroren und mit wund- gelcmsueu Füßen auch noch das verkörperte böse Gewissen sein muß, das vor jedem Stück grünen, blauen und roten Tuches erschrickt und jedem gut ge¬ kleideten Menschen scheu aus dem Wege geht, dieser Kulturfortschritt ist unsrer humanen Zeit vorbehalten geblieben. Vor fünfzig Jahren war der „arme Reisende" noch nicht zum Ungeziefer herabgewürdigt. Die vornehmen Leute hielten sich ihn Wohl auch damals schon vom Leibe, aber der biedere Handwerker, der Kleinbürger hielt sein Näpfchen mit Pfennigen für ihn bereit, die Bauersfrau schnitt ihm einen Ranft Brot ab, und ein freundliches „Gsegns Gott" und „Vergelts Gott" begleitete Spendung und Annahme der Gabe. Diesem schrecklichen Schicksal können sich nur solche Wanderburschen ent¬ ziehen, die entschlossen mit der Gesellschaft, die sie verstoßen hat, brechen, ihr offen den Krieg erklären und in die Armee der großstädtischen Verbrecher ein¬ springen. Hier können sie, wenn ihnen das Glück günstig ist, und wenn sie Frechheit mit Geschick verbinden, einige Jahre ein vom Vestienstcindpunkte aus genußreiches Leben führen, und fallen sie schließlich der Obrigkeit in die Hände, so leben sie im Zuchthause immer noch angenehmer, als ,,auf der Walze," im Asyl, in der Arbeiterkvlvnie, im Korrektivushause. Indem die bürgerliche Gesellschaft das lustige Vagcmtenlebcn des Mittelalters, das in dem Rüuberleben einiger südlichen Länder noch einige Spätlinge treibt, vollständig zerstörte und das Los des Beschäftigungslosen so schrecklich machte, hat sie es ja wirklich erreicht, daß mit verschwindenden Ausnahmen jeder Mittellose jede Arbeit, die er nur irgend zu leisten vermag, unter jeder Bedingung übernimmt, die man ihm stellt. Diesem Umstände allein verdanken alle jene Industrien ihr Dasein, die entweder nur durch überlange Arbeitszeiten bestehen können, oder die eine ganz außerordentlich widerwärtige Beschäftigung, zum Teil in unerträglicher Temperatur, erfordern, und von denen manche, wie die Fabrikation der Anilin¬ farben, den Arbeiter binnen wenigen Jahren so gründlich vergiften, daß er zeitlebens siech bleibt. Die Sache steht also derart, daß wir mindestens zehn¬ mal so viel Arbeitslose in Deutschland haben würden, als wir haben, wenn im deutschen Volke der germanische Geist jener alten Römerbezwinger noch lebendig wäre, die sich eher an den Mauern eines Gefängnisses den Kopf ein¬ geräumt, als in ein solches Joch gefügt haben würden. Die Ziffern der säch¬ sischen Statistik, mit denen Wolf zeigt, wie herrlich der Jndustriefortschritt für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/388>, abgerufen am 20.09.2024.