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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Es ist also wenig Bedarf für die Erzeugnisse dieser Anstalten, und die darin
angelegte Arbeit ernährt den Arbeiter nicht. Man hebt den Sozialdemokraten
gegenüber immer den sittlichen Wert der Arbeit hervor, wir selbst haben es
wiederholt gethan, und niemand kann diesen Wert höher schützen, als wir es
thun. Allein mit dein wirtschaftlichen Werte der Arbeit schwindet eines ihr
sittlicher Wert; wer etwas schlechthin überflüssiges thut -- und in die beiden
Klassen des Überflüssigem und des Schädlichen gehören die Arbeiten vieler
modernen Industrien, die Scheinbeschäftigungen der Schmarotzer und solche
sogenannte Notstaudsarbeiteu, die wirklich nur zu dem Zwecke ausgeführt
werden, die Leute nicht unbeschäftigt zu lassen --, der hat nicht das Bewußt¬
sein, eine sittliche Forderung zu erfüllen. Spielen ist noch sittlicher als solche
,,Arbeit," weil es, mit Maß betrieben, dem vernünftigen Zwecke der Erholung
dient. Der geniale Kunsthistoriker Ruskin, über dessen volkswirtschaftliche An¬
sichten Schulze-Gävernitz berichtet, sagt vollkommen richtig, die Güter hätten
der Erhaltung des menschlichen Lebens nach seiner physischen, intellektuellen
und ästhetischen Seite zu dienen, daher sei jede Hervorbringung unwirtschaft-
lich, die nicht das Leben nach einer dieser drei Seiten hin fordere. Die Haupt¬
frage sei daher nicht, wie viel Arbeit ein Volk leiste, sondern wie viel Leben
es durch seine Arbeit möglich mache. Wenn aber Ruskin meint, wir Heutigen
seien in der Wirtschaftlichkeit fortgeschritten, weil wir nicht mehr so viel Ar¬
beit an Edelsteine und andern unnützen Schmuck verschwendeten wie unsre Vor¬
fahren, dagegen weit mehr Arbeit auf die Beschcisfuug so notwendiger Dinge
wie Luft, Licht und Reinlichkeit verwendeten, so hat er nur halb Recht. Wir
verwenden, das ist wahr, weit mehr Arbeit ans Reinlichkeit, auch auf Luft
und Licht -- für die obern Klassen; ist doch, mit Hamcrling zu reden, der
Fortschritt in der Reinlichkeit der einzige unzweifelhaft wertvolle unter allen
Kulturfortschritten. Aber wir haben auch vollauf genug Zeit und Arbeits¬
kraft für diese Zwecke, und wir hätten Arbeitskraft genug, auch den Aller-
cirmsten diese und andre wertvolle Güter zu spenden, wenn es nicht das Ge¬
triebe unsrer heutigen Wirtschaft geradezu verböte und die Verschwendung un¬
geheurer Massen von Arbeitskraft an Überflüssiges erzwänge, zum Teil nur
um deu Schein zu erzeugen, als sei Arbeitsgelegenheit genug vorhanden. Von
dieser Scheinarbeit haben wir nur noch einen Schritt zur Tretmühle des eng¬
lischen Arbeitshauses, nach dem schon so mancher "konservative" Strafrichter
und Gesängnisinspektor hinüberschielt. Als ein Ereignis, das "allgemeine
Heiterkeit" erregt habe, wurde neulich in vielen Blättern erzählt, wie in Moabit
eine Frauensperson, die wegen Obdachlosigkeit angeklagt worden war, ob ihrer
Freisprechung in ein Jammergeschrei ausgebrochen sei und mit aller Gewalt
ins Gefängnis zurückgewollt habe. Wie viele Obdachlose im Herbst "Straf¬
thaten" begehen -- neuerdings sind Majestätsbeleidigungen beliebt --, nur um
Unterkunft im Gefängnis zu bekommen, ist ja bekannt. Die berühmte "Isx


Es ist also wenig Bedarf für die Erzeugnisse dieser Anstalten, und die darin
angelegte Arbeit ernährt den Arbeiter nicht. Man hebt den Sozialdemokraten
gegenüber immer den sittlichen Wert der Arbeit hervor, wir selbst haben es
wiederholt gethan, und niemand kann diesen Wert höher schützen, als wir es
thun. Allein mit dein wirtschaftlichen Werte der Arbeit schwindet eines ihr
sittlicher Wert; wer etwas schlechthin überflüssiges thut — und in die beiden
Klassen des Überflüssigem und des Schädlichen gehören die Arbeiten vieler
modernen Industrien, die Scheinbeschäftigungen der Schmarotzer und solche
sogenannte Notstaudsarbeiteu, die wirklich nur zu dem Zwecke ausgeführt
werden, die Leute nicht unbeschäftigt zu lassen —, der hat nicht das Bewußt¬
sein, eine sittliche Forderung zu erfüllen. Spielen ist noch sittlicher als solche
,,Arbeit," weil es, mit Maß betrieben, dem vernünftigen Zwecke der Erholung
dient. Der geniale Kunsthistoriker Ruskin, über dessen volkswirtschaftliche An¬
sichten Schulze-Gävernitz berichtet, sagt vollkommen richtig, die Güter hätten
der Erhaltung des menschlichen Lebens nach seiner physischen, intellektuellen
und ästhetischen Seite zu dienen, daher sei jede Hervorbringung unwirtschaft-
lich, die nicht das Leben nach einer dieser drei Seiten hin fordere. Die Haupt¬
frage sei daher nicht, wie viel Arbeit ein Volk leiste, sondern wie viel Leben
es durch seine Arbeit möglich mache. Wenn aber Ruskin meint, wir Heutigen
seien in der Wirtschaftlichkeit fortgeschritten, weil wir nicht mehr so viel Ar¬
beit an Edelsteine und andern unnützen Schmuck verschwendeten wie unsre Vor¬
fahren, dagegen weit mehr Arbeit auf die Beschcisfuug so notwendiger Dinge
wie Luft, Licht und Reinlichkeit verwendeten, so hat er nur halb Recht. Wir
verwenden, das ist wahr, weit mehr Arbeit ans Reinlichkeit, auch auf Luft
und Licht — für die obern Klassen; ist doch, mit Hamcrling zu reden, der
Fortschritt in der Reinlichkeit der einzige unzweifelhaft wertvolle unter allen
Kulturfortschritten. Aber wir haben auch vollauf genug Zeit und Arbeits¬
kraft für diese Zwecke, und wir hätten Arbeitskraft genug, auch den Aller-
cirmsten diese und andre wertvolle Güter zu spenden, wenn es nicht das Ge¬
triebe unsrer heutigen Wirtschaft geradezu verböte und die Verschwendung un¬
geheurer Massen von Arbeitskraft an Überflüssiges erzwänge, zum Teil nur
um deu Schein zu erzeugen, als sei Arbeitsgelegenheit genug vorhanden. Von
dieser Scheinarbeit haben wir nur noch einen Schritt zur Tretmühle des eng¬
lischen Arbeitshauses, nach dem schon so mancher „konservative" Strafrichter
und Gesängnisinspektor hinüberschielt. Als ein Ereignis, das „allgemeine
Heiterkeit" erregt habe, wurde neulich in vielen Blättern erzählt, wie in Moabit
eine Frauensperson, die wegen Obdachlosigkeit angeklagt worden war, ob ihrer
Freisprechung in ein Jammergeschrei ausgebrochen sei und mit aller Gewalt
ins Gefängnis zurückgewollt habe. Wie viele Obdachlose im Herbst „Straf¬
thaten" begehen — neuerdings sind Majestätsbeleidigungen beliebt —, nur um
Unterkunft im Gefängnis zu bekommen, ist ja bekannt. Die berühmte „Isx


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/390>, abgerufen am 28.09.2024.