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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Meder Kommunismus noch Kapitalismus

Viele reiche Leute, die durchaus nicht für unmäßig gelten, davon mehr zu sich
als schnapstrinkende Proletarier. Ein Mensch, der nur eine Mehlsuppe im
Magen hat, torkelt schon von einem Gläschen Branntwein; ein starker wohl¬
genährter Herr kann bei einem Diner bequem zwei Liter kräftigen Wein trinken,
ohne etwas im Kopfe zu spüren. Auch anhaltende geistige Beschäftigung,
also einseitige Entwicklung des Gehirns, ist der Entwicklung des Zeugungs¬
systems meistens nicht günstig. Zweitens heiraten die Proletarier in der Zeit,
wo der Zeugungstrieb am stärksten ist, zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten
Jahre, und zwar näher dem zwanzigsten als dem dreißigsten, die Männer der
höhern Stände dagegen erst, wenn die von der Natur für diesen Zweck be¬
stimmte Blütezeit vorüber ist, nach dem dreißigsten Jahre. Endlich sind die
Proletarier im großen und ganzen noch nicht ans den Gedanken verfallen, die
Kinderzahl absichtlich zu beschränken. Wie weit diese Absicht Mitursache der
durchschnittlich geringern Kinderzahl der Besitzenden ist, läßt sich natürlich
nicht ermitteln. Thatsache ist, daß sie auch außerhalb Frankreichs vorkommt,
und daß sogar schon viele deutsche Bauern die schmutzigen Künste der Fran¬
zosen erlernt haben. Unter den Proletariern also, nnr darauf kommt es uus
hier um, herrscht das Gegenteil dieser "Vorsicht," daher bedeutet jede Ver¬
mehrung des Proletariats und die entsprechende Verminderung des Standes
der Besitzenden zugleich eine Verstärkung der Tendenz zur Volksvermehrung.
Zwar wird der proletarische Zuwachs durch die ungeheure Kindersterblichkeit
der untern Klassen einigermaßen gehemmt, aber der Überschuß bleibt trotzdem
bedeutend. Schon in diesem Sinne hat Engels Recht, wenn er meint, ohne
die Maschinen, die ja die Entstehung oder wenigstens Vermehrung des eng¬
lischen Proletariats so sehr begünstigt haben, würde dieses in, so großen
Massen gar uicht vorhanden sein. Dazu kommt dann noch, daß erst die heutige
Verkehrstechnik die Ernährung ungeheuer zusammengehänfter Menschenmassen
möglich gemacht hat. Daraus, daß sie möglich ist, folgt natürlich nicht, daß
sie auch gut sein müsse.

Unter Pauperismus soll hier nur die Erscheinung verstanden werden,
daß eine unverhältnismäßig große Anzahl von Menschen von Almosen lebt.
Wolf kann sich nun darauf berufen, daß in England und Wales die Zahl
der Paupers, d. h. der Personen, deren Unterstützuugsbedürfnis amtlich an¬
erkannt ist, in den Jahren 1855 bis 1889 von 4,7 auf 2,8 Prozent der
Vevvlkeruug zurückgegangen ist. Zum Teil mag diese Besserung auf Rechnung
der bei andrer Gelegenheit beschriebnen Vermehrung des Volkswohlstandes in
den fünfziger und sechziger Jahren kommen. Der Hauptgrund aber ist die
barbarische und schimpfliche Behandlung der Unglücklichen in den Armen¬
häusern, in die sie gesperrt werden, und durch die sich die Obrigkeit ihre Auf¬
gabe ungemein erleichtert. Wer noch einen Funken von Ehr- und Freiheits¬
gefühl im Leibe hat, der kommt lieber hilflos auf einem Kehrichthaufen um


Meder Kommunismus noch Kapitalismus

Viele reiche Leute, die durchaus nicht für unmäßig gelten, davon mehr zu sich
als schnapstrinkende Proletarier. Ein Mensch, der nur eine Mehlsuppe im
Magen hat, torkelt schon von einem Gläschen Branntwein; ein starker wohl¬
genährter Herr kann bei einem Diner bequem zwei Liter kräftigen Wein trinken,
ohne etwas im Kopfe zu spüren. Auch anhaltende geistige Beschäftigung,
also einseitige Entwicklung des Gehirns, ist der Entwicklung des Zeugungs¬
systems meistens nicht günstig. Zweitens heiraten die Proletarier in der Zeit,
wo der Zeugungstrieb am stärksten ist, zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten
Jahre, und zwar näher dem zwanzigsten als dem dreißigsten, die Männer der
höhern Stände dagegen erst, wenn die von der Natur für diesen Zweck be¬
stimmte Blütezeit vorüber ist, nach dem dreißigsten Jahre. Endlich sind die
Proletarier im großen und ganzen noch nicht ans den Gedanken verfallen, die
Kinderzahl absichtlich zu beschränken. Wie weit diese Absicht Mitursache der
durchschnittlich geringern Kinderzahl der Besitzenden ist, läßt sich natürlich
nicht ermitteln. Thatsache ist, daß sie auch außerhalb Frankreichs vorkommt,
und daß sogar schon viele deutsche Bauern die schmutzigen Künste der Fran¬
zosen erlernt haben. Unter den Proletariern also, nnr darauf kommt es uus
hier um, herrscht das Gegenteil dieser „Vorsicht," daher bedeutet jede Ver¬
mehrung des Proletariats und die entsprechende Verminderung des Standes
der Besitzenden zugleich eine Verstärkung der Tendenz zur Volksvermehrung.
Zwar wird der proletarische Zuwachs durch die ungeheure Kindersterblichkeit
der untern Klassen einigermaßen gehemmt, aber der Überschuß bleibt trotzdem
bedeutend. Schon in diesem Sinne hat Engels Recht, wenn er meint, ohne
die Maschinen, die ja die Entstehung oder wenigstens Vermehrung des eng¬
lischen Proletariats so sehr begünstigt haben, würde dieses in, so großen
Massen gar uicht vorhanden sein. Dazu kommt dann noch, daß erst die heutige
Verkehrstechnik die Ernährung ungeheuer zusammengehänfter Menschenmassen
möglich gemacht hat. Daraus, daß sie möglich ist, folgt natürlich nicht, daß
sie auch gut sein müsse.

Unter Pauperismus soll hier nur die Erscheinung verstanden werden,
daß eine unverhältnismäßig große Anzahl von Menschen von Almosen lebt.
Wolf kann sich nun darauf berufen, daß in England und Wales die Zahl
der Paupers, d. h. der Personen, deren Unterstützuugsbedürfnis amtlich an¬
erkannt ist, in den Jahren 1855 bis 1889 von 4,7 auf 2,8 Prozent der
Vevvlkeruug zurückgegangen ist. Zum Teil mag diese Besserung auf Rechnung
der bei andrer Gelegenheit beschriebnen Vermehrung des Volkswohlstandes in
den fünfziger und sechziger Jahren kommen. Der Hauptgrund aber ist die
barbarische und schimpfliche Behandlung der Unglücklichen in den Armen¬
häusern, in die sie gesperrt werden, und durch die sich die Obrigkeit ihre Auf¬
gabe ungemein erleichtert. Wer noch einen Funken von Ehr- und Freiheits¬
gefühl im Leibe hat, der kommt lieber hilflos auf einem Kehrichthaufen um


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[0385] Meder Kommunismus noch Kapitalismus Viele reiche Leute, die durchaus nicht für unmäßig gelten, davon mehr zu sich als schnapstrinkende Proletarier. Ein Mensch, der nur eine Mehlsuppe im Magen hat, torkelt schon von einem Gläschen Branntwein; ein starker wohl¬ genährter Herr kann bei einem Diner bequem zwei Liter kräftigen Wein trinken, ohne etwas im Kopfe zu spüren. Auch anhaltende geistige Beschäftigung, also einseitige Entwicklung des Gehirns, ist der Entwicklung des Zeugungs¬ systems meistens nicht günstig. Zweitens heiraten die Proletarier in der Zeit, wo der Zeugungstrieb am stärksten ist, zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Jahre, und zwar näher dem zwanzigsten als dem dreißigsten, die Männer der höhern Stände dagegen erst, wenn die von der Natur für diesen Zweck be¬ stimmte Blütezeit vorüber ist, nach dem dreißigsten Jahre. Endlich sind die Proletarier im großen und ganzen noch nicht ans den Gedanken verfallen, die Kinderzahl absichtlich zu beschränken. Wie weit diese Absicht Mitursache der durchschnittlich geringern Kinderzahl der Besitzenden ist, läßt sich natürlich nicht ermitteln. Thatsache ist, daß sie auch außerhalb Frankreichs vorkommt, und daß sogar schon viele deutsche Bauern die schmutzigen Künste der Fran¬ zosen erlernt haben. Unter den Proletariern also, nnr darauf kommt es uus hier um, herrscht das Gegenteil dieser „Vorsicht," daher bedeutet jede Ver¬ mehrung des Proletariats und die entsprechende Verminderung des Standes der Besitzenden zugleich eine Verstärkung der Tendenz zur Volksvermehrung. Zwar wird der proletarische Zuwachs durch die ungeheure Kindersterblichkeit der untern Klassen einigermaßen gehemmt, aber der Überschuß bleibt trotzdem bedeutend. Schon in diesem Sinne hat Engels Recht, wenn er meint, ohne die Maschinen, die ja die Entstehung oder wenigstens Vermehrung des eng¬ lischen Proletariats so sehr begünstigt haben, würde dieses in, so großen Massen gar uicht vorhanden sein. Dazu kommt dann noch, daß erst die heutige Verkehrstechnik die Ernährung ungeheuer zusammengehänfter Menschenmassen möglich gemacht hat. Daraus, daß sie möglich ist, folgt natürlich nicht, daß sie auch gut sein müsse. Unter Pauperismus soll hier nur die Erscheinung verstanden werden, daß eine unverhältnismäßig große Anzahl von Menschen von Almosen lebt. Wolf kann sich nun darauf berufen, daß in England und Wales die Zahl der Paupers, d. h. der Personen, deren Unterstützuugsbedürfnis amtlich an¬ erkannt ist, in den Jahren 1855 bis 1889 von 4,7 auf 2,8 Prozent der Vevvlkeruug zurückgegangen ist. Zum Teil mag diese Besserung auf Rechnung der bei andrer Gelegenheit beschriebnen Vermehrung des Volkswohlstandes in den fünfziger und sechziger Jahren kommen. Der Hauptgrund aber ist die barbarische und schimpfliche Behandlung der Unglücklichen in den Armen¬ häusern, in die sie gesperrt werden, und durch die sich die Obrigkeit ihre Auf¬ gabe ungemein erleichtert. Wer noch einen Funken von Ehr- und Freiheits¬ gefühl im Leibe hat, der kommt lieber hilflos auf einem Kehrichthaufen um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/385>, abgerufen am 20.09.2024.