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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weder Kommunismus noch Kapitalismus

jahrein ungefähr so duftete wie in den Hamburger Proletariervierteln diesen
Sommer, so wird man sich uicht wundern, zu vernehmen, daß in ihnen die
Zahl der Sterbefälle regelmäßig größer war als die der Geburten, und daß
sich ihre Bevölkerung nur durch steten Zufluß vom Lande erhalten und ver¬
mehren konnte. Auf dem Lande schadet die Unreinlichkeit weniger, weil die
giftigen Stoffe mehr Platz haben, sich durch Ausbreitung zu verdünnen; ganz
unschädlich ist sie natürlich auch dort nicht. Was endlich die Heilkunde an¬
langt, so war der mittelalterliche Arzt gewöhnlich ein Doktor Eisenbart, der die
Leiden des Kranken zwar für den Augenblick vermehrte, sie aber dafür dnrch
ein kräftiges Tränklein, einen forschen Schnitt oder einen reichlichen Aderlaß
bedeutend abkürzte.

Mit der Verminderung der Sterblichkeit ging vom sechzehnten Jahrhundert
ab, hie und da allerdings durch verheerende Kriege zeitweilig unterbrochen,
die Vermehrung der Geburten Hand in Hand. Ihre planmäßige Förderung
gehörte mit zu jenem System der innern Politik, das unter dem Namen
Merkantilshstem bekannt ist. Nicht mehr in dem Sinne, wie die auf Ackerbau
gegründete Feudalwirtschaft, sondern vorzugsweise zu dem Zweck, Geld in den
Staatsschatz zu schaffen, wurde die "Population" befördert. Wo, wie in
Preußen, zugleich auch das Bedürfnis nach einem tüchtigen stehenden Heere
bestand und die Industrie zu unentwickelt war, um viel Geld ius Land bringen
zu können, traf diese Politik in ihrer wohlthätigen Wirkung auf den Bauern¬
stand mit der alten Naturalwirtschaft zusammen. Man hieß alles willkommen,
was Mensch war, mochte es im Inlande oder im Auslande, ehelich oder unehelich
gehöre" sein. Am besten wird die Anschauung der damaligen Herrscher charcck-
terisirt durch einen Ausspruch Friedrichs des Großen, den Ludwig Elster in
seiner umfassenden Arbeit über das Bevölkeruugswesen (Handbuch der Staats-
wissenschaften Band 2 S. 474) anführt. Im Jahre 1741 schrieb der König
an Voltaire: .7ö les (les lloiliwos) rLZ'g-räcz ovinus uno uorcks alö vsrts clgns
1ö xg.ro et'um ^raunt ssigusur, "ze cM n'ont ä'antis tdnotion <zus as xe-uxler
se ruiuplir I'snolos. Da sich in neuerer Zeit der Zweck der Volksvermehrung
unter der anständigern Fürsorge für die Volkssittlichkeit zu verbergen pflegt,
so kann nicht mehr, wie im vorigen Jahrhundert, die uneheliche Vermehrung
begünstigt werden.

Gerade in dem mit der Industrie so innig verbundnen Pauperismus nun
erwuchs jener Politik ein mächtiger Bundesgenosse. Bekanntlich pflegt die
Kinderzahl der Familien im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Vermögen zu
stehen. Die drei Hauptursachen dieser Erscheinung sind nicht schwer zu ent¬
decken und längst und vielfach ausgesprochen worden. Erstens wird durch
reichliche gute Kost und scharfe alkoholhaltige Getränke die Zeugungskraft ge¬
schwächt, die bekanntlich nicht ganz dasselbe ist wie die Fähigkeit zur Be¬
friedigung des Geschlechtstriebes. Was die starken Getränke anlangt, so nehmen


Weder Kommunismus noch Kapitalismus

jahrein ungefähr so duftete wie in den Hamburger Proletariervierteln diesen
Sommer, so wird man sich uicht wundern, zu vernehmen, daß in ihnen die
Zahl der Sterbefälle regelmäßig größer war als die der Geburten, und daß
sich ihre Bevölkerung nur durch steten Zufluß vom Lande erhalten und ver¬
mehren konnte. Auf dem Lande schadet die Unreinlichkeit weniger, weil die
giftigen Stoffe mehr Platz haben, sich durch Ausbreitung zu verdünnen; ganz
unschädlich ist sie natürlich auch dort nicht. Was endlich die Heilkunde an¬
langt, so war der mittelalterliche Arzt gewöhnlich ein Doktor Eisenbart, der die
Leiden des Kranken zwar für den Augenblick vermehrte, sie aber dafür dnrch
ein kräftiges Tränklein, einen forschen Schnitt oder einen reichlichen Aderlaß
bedeutend abkürzte.

Mit der Verminderung der Sterblichkeit ging vom sechzehnten Jahrhundert
ab, hie und da allerdings durch verheerende Kriege zeitweilig unterbrochen,
die Vermehrung der Geburten Hand in Hand. Ihre planmäßige Förderung
gehörte mit zu jenem System der innern Politik, das unter dem Namen
Merkantilshstem bekannt ist. Nicht mehr in dem Sinne, wie die auf Ackerbau
gegründete Feudalwirtschaft, sondern vorzugsweise zu dem Zweck, Geld in den
Staatsschatz zu schaffen, wurde die „Population" befördert. Wo, wie in
Preußen, zugleich auch das Bedürfnis nach einem tüchtigen stehenden Heere
bestand und die Industrie zu unentwickelt war, um viel Geld ius Land bringen
zu können, traf diese Politik in ihrer wohlthätigen Wirkung auf den Bauern¬
stand mit der alten Naturalwirtschaft zusammen. Man hieß alles willkommen,
was Mensch war, mochte es im Inlande oder im Auslande, ehelich oder unehelich
gehöre» sein. Am besten wird die Anschauung der damaligen Herrscher charcck-
terisirt durch einen Ausspruch Friedrichs des Großen, den Ludwig Elster in
seiner umfassenden Arbeit über das Bevölkeruugswesen (Handbuch der Staats-
wissenschaften Band 2 S. 474) anführt. Im Jahre 1741 schrieb der König
an Voltaire: .7ö les (les lloiliwos) rLZ'g-räcz ovinus uno uorcks alö vsrts clgns
1ö xg.ro et'um ^raunt ssigusur, «ze cM n'ont ä'antis tdnotion <zus as xe-uxler
se ruiuplir I'snolos. Da sich in neuerer Zeit der Zweck der Volksvermehrung
unter der anständigern Fürsorge für die Volkssittlichkeit zu verbergen pflegt,
so kann nicht mehr, wie im vorigen Jahrhundert, die uneheliche Vermehrung
begünstigt werden.

Gerade in dem mit der Industrie so innig verbundnen Pauperismus nun
erwuchs jener Politik ein mächtiger Bundesgenosse. Bekanntlich pflegt die
Kinderzahl der Familien im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Vermögen zu
stehen. Die drei Hauptursachen dieser Erscheinung sind nicht schwer zu ent¬
decken und längst und vielfach ausgesprochen worden. Erstens wird durch
reichliche gute Kost und scharfe alkoholhaltige Getränke die Zeugungskraft ge¬
schwächt, die bekanntlich nicht ganz dasselbe ist wie die Fähigkeit zur Be¬
friedigung des Geschlechtstriebes. Was die starken Getränke anlangt, so nehmen


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[0384] Weder Kommunismus noch Kapitalismus jahrein ungefähr so duftete wie in den Hamburger Proletariervierteln diesen Sommer, so wird man sich uicht wundern, zu vernehmen, daß in ihnen die Zahl der Sterbefälle regelmäßig größer war als die der Geburten, und daß sich ihre Bevölkerung nur durch steten Zufluß vom Lande erhalten und ver¬ mehren konnte. Auf dem Lande schadet die Unreinlichkeit weniger, weil die giftigen Stoffe mehr Platz haben, sich durch Ausbreitung zu verdünnen; ganz unschädlich ist sie natürlich auch dort nicht. Was endlich die Heilkunde an¬ langt, so war der mittelalterliche Arzt gewöhnlich ein Doktor Eisenbart, der die Leiden des Kranken zwar für den Augenblick vermehrte, sie aber dafür dnrch ein kräftiges Tränklein, einen forschen Schnitt oder einen reichlichen Aderlaß bedeutend abkürzte. Mit der Verminderung der Sterblichkeit ging vom sechzehnten Jahrhundert ab, hie und da allerdings durch verheerende Kriege zeitweilig unterbrochen, die Vermehrung der Geburten Hand in Hand. Ihre planmäßige Förderung gehörte mit zu jenem System der innern Politik, das unter dem Namen Merkantilshstem bekannt ist. Nicht mehr in dem Sinne, wie die auf Ackerbau gegründete Feudalwirtschaft, sondern vorzugsweise zu dem Zweck, Geld in den Staatsschatz zu schaffen, wurde die „Population" befördert. Wo, wie in Preußen, zugleich auch das Bedürfnis nach einem tüchtigen stehenden Heere bestand und die Industrie zu unentwickelt war, um viel Geld ius Land bringen zu können, traf diese Politik in ihrer wohlthätigen Wirkung auf den Bauern¬ stand mit der alten Naturalwirtschaft zusammen. Man hieß alles willkommen, was Mensch war, mochte es im Inlande oder im Auslande, ehelich oder unehelich gehöre» sein. Am besten wird die Anschauung der damaligen Herrscher charcck- terisirt durch einen Ausspruch Friedrichs des Großen, den Ludwig Elster in seiner umfassenden Arbeit über das Bevölkeruugswesen (Handbuch der Staats- wissenschaften Band 2 S. 474) anführt. Im Jahre 1741 schrieb der König an Voltaire: .7ö les (les lloiliwos) rLZ'g-räcz ovinus uno uorcks alö vsrts clgns 1ö xg.ro et'um ^raunt ssigusur, «ze cM n'ont ä'antis tdnotion <zus as xe-uxler se ruiuplir I'snolos. Da sich in neuerer Zeit der Zweck der Volksvermehrung unter der anständigern Fürsorge für die Volkssittlichkeit zu verbergen pflegt, so kann nicht mehr, wie im vorigen Jahrhundert, die uneheliche Vermehrung begünstigt werden. Gerade in dem mit der Industrie so innig verbundnen Pauperismus nun erwuchs jener Politik ein mächtiger Bundesgenosse. Bekanntlich pflegt die Kinderzahl der Familien im umgekehrten Verhältnis zu ihrem Vermögen zu stehen. Die drei Hauptursachen dieser Erscheinung sind nicht schwer zu ent¬ decken und längst und vielfach ausgesprochen worden. Erstens wird durch reichliche gute Kost und scharfe alkoholhaltige Getränke die Zeugungskraft ge¬ schwächt, die bekanntlich nicht ganz dasselbe ist wie die Fähigkeit zur Be¬ friedigung des Geschlechtstriebes. Was die starken Getränke anlangt, so nehmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/384>, abgerufen am 28.06.2024.