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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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oder stürzt sich in die Themse, als daß er ins Armenhaus ginge. Im Arbeits-
hnuse werden Mann und Weib, Eltern und Kinder von einander getrennt, die
empörendsten Mißhandlungen sind an der Tagesordnung, und die ,,Arbeit" an
der Tretmühle regt selbst in dein stumpfsinnigsten noch einen Rest von Wider¬
stand ans, weil sie gar keine Arbeit ist, sondern mir eine Muskelanstrengung
zu dem einzigen Zweck, den Armen zu quälen. Wie raffinirt die dem Götzen
Mammon dienende englische Obrigkeit den Unglücklichen das Leben zu einer
Hölle zu machen, alles, was der Rieur widerstrebt, ans sie zu häufen, alles,
was sie begehrt, ihnen zu rauben versteht, mag man ans dem Umstände
schließen, daß im Arbeitshause zu Herue, das in einer der schönsten Gegenden
Kerls liegt, alle Fenster in den Hof gehen, sodaß keiner der Insassen von
Gottes schöner Natur etwas zu sehen bekommt. Der Berichterstatter, der das,
nach Engels, in einer illustrirten Zeitschrift erzählt, bemerkt dazu: "Wenn
Gott den Menschen für Verbrechen so bestraft, wie der Mensch den Menschen
für die Armut straft, dann wehe den Söhnen Adams!" Döllinger handelt in
dem von uns öfter erwähnten Buche anch von der englischen Armenpflege
und sagt u.a.: "Hier wird mit einem Aufwande von sechs Millionen Pfund
soviel erreicht, daß die Armen lieber in den härtesten Entbehrungen und im
greulichsten Schmutze leben, als daß sie das Armenhaus aufsuchen," Wolf
bringt, ohne die frühere Behandlung der Insassen der Armenhäuser zu schildern,
einige Zeugnisse bei, nach denen sich die Behandlung in neuerer Zeit gebessert
yaben soll. Vielleicht sind die Behörden gegen die körperlichen Mißhandlungen
eingeschritten, aber das Entehrende der Einrichtungen ist geblieben, wie man
aus den Angaben eines Buches über die sozialen Zustände Londons ersieht,
das ein Namensvetter des Generals der Heilsarmee voriges Jahr heraus¬
gegeben hat. Es ist nur natürlich, daß das Widerstreben gegen solche Be¬
handlung in dem Maße zunimmt, als die englische Arbeiterschaft durch Schul¬
bildung, Agitation, Organisation und Teilnahme am öffentlichen Leben das
Bewußtsein ihrer Menschenwürde wiedergewinnt. Zudem haben die seit vierzig
Jahre" blühenden Gewerkvereine und Genossenschaften den organisirten Teil
der Arbeiter der Gefahr überhoben, bei vorübergehender Arbeitslosigkeit oder
dauernder Arbeitsunfähigkeit der Armenpflege zu verfallen.

Der "Reservearmee der Arbeitslosen," die in der Beweisführung wie in
der Agitation der Svzialdemokvaten eine so bedeutende Rolle spielt, bestreitet
Wolf einfach das Dasein. Er sucht statistisch nachzuweisen, daß, was in einigen
Berufszweigen an Arbeitsgelegenheit verloren geht, durch das Aufblühen neuer
Berufszweige reichlich ersetzt werde; er weist auf die Vagabundenheere früherer.
Zeiten hin, mit denen verglichen die heutigen unbedeutend seien; er meint,
solches Gesindel, wie es in den Großstädten zu allen Zeiten zusammen¬
ströme, spiele in der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage eines Volks keine
Rolle, und er schreibt schließlich: "Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei


oder stürzt sich in die Themse, als daß er ins Armenhaus ginge. Im Arbeits-
hnuse werden Mann und Weib, Eltern und Kinder von einander getrennt, die
empörendsten Mißhandlungen sind an der Tagesordnung, und die ,,Arbeit" an
der Tretmühle regt selbst in dein stumpfsinnigsten noch einen Rest von Wider¬
stand ans, weil sie gar keine Arbeit ist, sondern mir eine Muskelanstrengung
zu dem einzigen Zweck, den Armen zu quälen. Wie raffinirt die dem Götzen
Mammon dienende englische Obrigkeit den Unglücklichen das Leben zu einer
Hölle zu machen, alles, was der Rieur widerstrebt, ans sie zu häufen, alles,
was sie begehrt, ihnen zu rauben versteht, mag man ans dem Umstände
schließen, daß im Arbeitshause zu Herue, das in einer der schönsten Gegenden
Kerls liegt, alle Fenster in den Hof gehen, sodaß keiner der Insassen von
Gottes schöner Natur etwas zu sehen bekommt. Der Berichterstatter, der das,
nach Engels, in einer illustrirten Zeitschrift erzählt, bemerkt dazu: „Wenn
Gott den Menschen für Verbrechen so bestraft, wie der Mensch den Menschen
für die Armut straft, dann wehe den Söhnen Adams!" Döllinger handelt in
dem von uns öfter erwähnten Buche anch von der englischen Armenpflege
und sagt u.a.: „Hier wird mit einem Aufwande von sechs Millionen Pfund
soviel erreicht, daß die Armen lieber in den härtesten Entbehrungen und im
greulichsten Schmutze leben, als daß sie das Armenhaus aufsuchen," Wolf
bringt, ohne die frühere Behandlung der Insassen der Armenhäuser zu schildern,
einige Zeugnisse bei, nach denen sich die Behandlung in neuerer Zeit gebessert
yaben soll. Vielleicht sind die Behörden gegen die körperlichen Mißhandlungen
eingeschritten, aber das Entehrende der Einrichtungen ist geblieben, wie man
aus den Angaben eines Buches über die sozialen Zustände Londons ersieht,
das ein Namensvetter des Generals der Heilsarmee voriges Jahr heraus¬
gegeben hat. Es ist nur natürlich, daß das Widerstreben gegen solche Be¬
handlung in dem Maße zunimmt, als die englische Arbeiterschaft durch Schul¬
bildung, Agitation, Organisation und Teilnahme am öffentlichen Leben das
Bewußtsein ihrer Menschenwürde wiedergewinnt. Zudem haben die seit vierzig
Jahre» blühenden Gewerkvereine und Genossenschaften den organisirten Teil
der Arbeiter der Gefahr überhoben, bei vorübergehender Arbeitslosigkeit oder
dauernder Arbeitsunfähigkeit der Armenpflege zu verfallen.

Der „Reservearmee der Arbeitslosen," die in der Beweisführung wie in
der Agitation der Svzialdemokvaten eine so bedeutende Rolle spielt, bestreitet
Wolf einfach das Dasein. Er sucht statistisch nachzuweisen, daß, was in einigen
Berufszweigen an Arbeitsgelegenheit verloren geht, durch das Aufblühen neuer
Berufszweige reichlich ersetzt werde; er weist auf die Vagabundenheere früherer.
Zeiten hin, mit denen verglichen die heutigen unbedeutend seien; er meint,
solches Gesindel, wie es in den Großstädten zu allen Zeiten zusammen¬
ströme, spiele in der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage eines Volks keine
Rolle, und er schreibt schließlich: „Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/386>, abgerufen am 28.09.2024.