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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Iveder Aommnui-mus noch Rapitalismus

Mitteln zu leben. Ein solches Volk verliert seine Energie, büßt jede Möglich¬
keit ein, seine Lage zu verbessern, und in einer wirtschaftlichen Krisis findet
es keine tiefere Stufe der Lebenshaltung mehr unter sich, auf die es hinab¬
steigen könnte: es muß verhungern/'') Die Pest auf eine mit der Nahrungs¬
mittelchemie verbündete Nationalökonomie, die uns lehren will, wie wir mit
400 Mark Familieneinkommen anständig leben können! Mögen diese Weber
immerhin zufrieden, mögen sie sehr cichtuugswerte Staatsbürger und fromme
Christen sein! Der ist des deutschen Volkes grimmigster Feind, der ihm eine
Entwicklungsbahn empfiehlt, auf dem es ein Volk von Schwächlingen werden
soll, das weder den Pflug, noch den Schmiedehammer, noch die Muskete, noch
das Schwert des Geistes zu führen vermöchte und nur eben noch dazu taugen
würde, einem Nachbarvolke als Fabriksklaven zu dienen! Wäre ein mittel¬
alterlicher Mensch auf einen heutigen Weberwochenlvhn heruntergebracht worden,
so würde er ihn am Sonntage aufgezehrt haben und dann vor Ablauf der
Woche verhungert sein. Die Leute lebten damals für gewöhnlich in Fülle,
nach einer Mißernte aber starben die Armem den Hungertod sui8 xlrra8<z.
Heute sterben die Menschen, wie Rogers sagt, zollweise, nach und nach
Hungers.

Eine Hauptursache der hohen Sterblichkeit im Mittelalter haben wir schon
erwähnt: die unglaubliche Unsauberkeit bei dem gänzlichen Fehlen irgendwelcher
Gesnndheits- und Neinlichkeitspvlizei. Was das bedeutet, hat uns letzten
Sommer Hamburg gelehrt. Nach den amtlichen Berichten kann es keinem
Zweifel mehr unterliegen, daß die Elbe, die bei so niedrigem Wasserstande
die ihr zugeführten Abfall- und Auswurfstoffe nicht fortzuschwemmen vermochte,
der eigentliche Seuchenherd gewesen ist. Sie hat, wie Augen- und Nasen¬
zeugen berichten, bis oberhalb der Schöpfstelle der Wasserwerke ,.geblüht" und
gestunken, und das Gift ist nicht allein durch die Luft, sondern auch durch
das Trinkwasser verbreitet worden, selbstverständlich zunächst durch die zunächst
gelegnen Stadtteile, und da das die ärmsten sind, wo die Wohnungen um
ungesundesten sind und die Widerstandskraft der Bewohner gegen Ansteckung
am schwächsten ist, so ergab sich das übrige von selbst. Der Bazillus und
die deutsche Wissenschaft in Ehren -- allein es trifft sich immer so, daß
unter gesundheitswidrigen Verhältnissen Seuchen entstehen, auch wenn gar
keine Bazilleneinfnhr nachgewiesen werden kann, daß dagegen solchen Menschen,
die unter günstige" Verhältnissen leben, alle Vazillen Bengalens nichts anhaben
können, mögen sie anch zu wissenschaftlichen Zwecken kübelweise eingeführt
werden. Bedenkt man um, daß es in allen mittelalterlichen Städten jahraus



Drum ist es eine höchst bedenkliche Erscheinung, wenn man Mais und Lupinen als
Volksnahruugsmittel empfiehlt, wenn die Pferdeschlüchtereien zahlreich und sogar schon Hunde-
schlkchtereien errichtet werde".
Iveder Aommnui-mus noch Rapitalismus

Mitteln zu leben. Ein solches Volk verliert seine Energie, büßt jede Möglich¬
keit ein, seine Lage zu verbessern, und in einer wirtschaftlichen Krisis findet
es keine tiefere Stufe der Lebenshaltung mehr unter sich, auf die es hinab¬
steigen könnte: es muß verhungern/'') Die Pest auf eine mit der Nahrungs¬
mittelchemie verbündete Nationalökonomie, die uns lehren will, wie wir mit
400 Mark Familieneinkommen anständig leben können! Mögen diese Weber
immerhin zufrieden, mögen sie sehr cichtuugswerte Staatsbürger und fromme
Christen sein! Der ist des deutschen Volkes grimmigster Feind, der ihm eine
Entwicklungsbahn empfiehlt, auf dem es ein Volk von Schwächlingen werden
soll, das weder den Pflug, noch den Schmiedehammer, noch die Muskete, noch
das Schwert des Geistes zu führen vermöchte und nur eben noch dazu taugen
würde, einem Nachbarvolke als Fabriksklaven zu dienen! Wäre ein mittel¬
alterlicher Mensch auf einen heutigen Weberwochenlvhn heruntergebracht worden,
so würde er ihn am Sonntage aufgezehrt haben und dann vor Ablauf der
Woche verhungert sein. Die Leute lebten damals für gewöhnlich in Fülle,
nach einer Mißernte aber starben die Armem den Hungertod sui8 xlrra8<z.
Heute sterben die Menschen, wie Rogers sagt, zollweise, nach und nach
Hungers.

Eine Hauptursache der hohen Sterblichkeit im Mittelalter haben wir schon
erwähnt: die unglaubliche Unsauberkeit bei dem gänzlichen Fehlen irgendwelcher
Gesnndheits- und Neinlichkeitspvlizei. Was das bedeutet, hat uns letzten
Sommer Hamburg gelehrt. Nach den amtlichen Berichten kann es keinem
Zweifel mehr unterliegen, daß die Elbe, die bei so niedrigem Wasserstande
die ihr zugeführten Abfall- und Auswurfstoffe nicht fortzuschwemmen vermochte,
der eigentliche Seuchenherd gewesen ist. Sie hat, wie Augen- und Nasen¬
zeugen berichten, bis oberhalb der Schöpfstelle der Wasserwerke ,.geblüht" und
gestunken, und das Gift ist nicht allein durch die Luft, sondern auch durch
das Trinkwasser verbreitet worden, selbstverständlich zunächst durch die zunächst
gelegnen Stadtteile, und da das die ärmsten sind, wo die Wohnungen um
ungesundesten sind und die Widerstandskraft der Bewohner gegen Ansteckung
am schwächsten ist, so ergab sich das übrige von selbst. Der Bazillus und
die deutsche Wissenschaft in Ehren — allein es trifft sich immer so, daß
unter gesundheitswidrigen Verhältnissen Seuchen entstehen, auch wenn gar
keine Bazilleneinfnhr nachgewiesen werden kann, daß dagegen solchen Menschen,
die unter günstige» Verhältnissen leben, alle Vazillen Bengalens nichts anhaben
können, mögen sie anch zu wissenschaftlichen Zwecken kübelweise eingeführt
werden. Bedenkt man um, daß es in allen mittelalterlichen Städten jahraus



Drum ist es eine höchst bedenkliche Erscheinung, wenn man Mais und Lupinen als
Volksnahruugsmittel empfiehlt, wenn die Pferdeschlüchtereien zahlreich und sogar schon Hunde-
schlkchtereien errichtet werde».
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[0383] Iveder Aommnui-mus noch Rapitalismus Mitteln zu leben. Ein solches Volk verliert seine Energie, büßt jede Möglich¬ keit ein, seine Lage zu verbessern, und in einer wirtschaftlichen Krisis findet es keine tiefere Stufe der Lebenshaltung mehr unter sich, auf die es hinab¬ steigen könnte: es muß verhungern/'') Die Pest auf eine mit der Nahrungs¬ mittelchemie verbündete Nationalökonomie, die uns lehren will, wie wir mit 400 Mark Familieneinkommen anständig leben können! Mögen diese Weber immerhin zufrieden, mögen sie sehr cichtuugswerte Staatsbürger und fromme Christen sein! Der ist des deutschen Volkes grimmigster Feind, der ihm eine Entwicklungsbahn empfiehlt, auf dem es ein Volk von Schwächlingen werden soll, das weder den Pflug, noch den Schmiedehammer, noch die Muskete, noch das Schwert des Geistes zu führen vermöchte und nur eben noch dazu taugen würde, einem Nachbarvolke als Fabriksklaven zu dienen! Wäre ein mittel¬ alterlicher Mensch auf einen heutigen Weberwochenlvhn heruntergebracht worden, so würde er ihn am Sonntage aufgezehrt haben und dann vor Ablauf der Woche verhungert sein. Die Leute lebten damals für gewöhnlich in Fülle, nach einer Mißernte aber starben die Armem den Hungertod sui8 xlrra8<z. Heute sterben die Menschen, wie Rogers sagt, zollweise, nach und nach Hungers. Eine Hauptursache der hohen Sterblichkeit im Mittelalter haben wir schon erwähnt: die unglaubliche Unsauberkeit bei dem gänzlichen Fehlen irgendwelcher Gesnndheits- und Neinlichkeitspvlizei. Was das bedeutet, hat uns letzten Sommer Hamburg gelehrt. Nach den amtlichen Berichten kann es keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die Elbe, die bei so niedrigem Wasserstande die ihr zugeführten Abfall- und Auswurfstoffe nicht fortzuschwemmen vermochte, der eigentliche Seuchenherd gewesen ist. Sie hat, wie Augen- und Nasen¬ zeugen berichten, bis oberhalb der Schöpfstelle der Wasserwerke ,.geblüht" und gestunken, und das Gift ist nicht allein durch die Luft, sondern auch durch das Trinkwasser verbreitet worden, selbstverständlich zunächst durch die zunächst gelegnen Stadtteile, und da das die ärmsten sind, wo die Wohnungen um ungesundesten sind und die Widerstandskraft der Bewohner gegen Ansteckung am schwächsten ist, so ergab sich das übrige von selbst. Der Bazillus und die deutsche Wissenschaft in Ehren — allein es trifft sich immer so, daß unter gesundheitswidrigen Verhältnissen Seuchen entstehen, auch wenn gar keine Bazilleneinfnhr nachgewiesen werden kann, daß dagegen solchen Menschen, die unter günstige» Verhältnissen leben, alle Vazillen Bengalens nichts anhaben können, mögen sie anch zu wissenschaftlichen Zwecken kübelweise eingeführt werden. Bedenkt man um, daß es in allen mittelalterlichen Städten jahraus Drum ist es eine höchst bedenkliche Erscheinung, wenn man Mais und Lupinen als Volksnahruugsmittel empfiehlt, wenn die Pferdeschlüchtereien zahlreich und sogar schon Hunde- schlkchtereien errichtet werde».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/383>, abgerufen am 20.09.2024.