Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.Mozarts Bild nach hundert Jahren seines Daseins treibt ihn umher, und ohne irgend welche Anstrengung oder Menschen vom Schlage Mozarts bestätigen in geistigen Dingen dieselbe Grenzboten I 1393 43
Mozarts Bild nach hundert Jahren seines Daseins treibt ihn umher, und ohne irgend welche Anstrengung oder Menschen vom Schlage Mozarts bestätigen in geistigen Dingen dieselbe Grenzboten I 1393 43
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0347" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214139"/> <fw type="header" place="top"> Mozarts Bild nach hundert Jahren</fw><lb/> <p xml:id="ID_1175" prev="#ID_1174"> seines Daseins treibt ihn umher, und ohne irgend welche Anstrengung oder<lb/> auch nur Thätigkeit erlangt er sein Glück. Er hat Papagena nie zuvor ge¬<lb/> sehen und weiß nichts von ihr; er fühlt bei ihrem Anblick nur: das ist Bein<lb/> von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Sie ist in der That, was<lb/> auch ihr Name bezeichnet, nur die weibliche Ergänzung Papagenos, mehr<lb/> Gattungswesen als Individuum. Die luftige Körperlichkeit beider vervoll¬<lb/> ständigt das Bild des an keine Persönlichkeit gebundnen frei umherflatternden<lb/> Naturtriebes.</p><lb/> <p xml:id="ID_1176" next="#ID_1177"> Menschen vom Schlage Mozarts bestätigen in geistigen Dingen dieselbe<lb/> Schürfe der Unterscheidung, die in Bezug auf Gegenstände der sinnlichen<lb/> Wahrnehmung um Naturvölkern und an allen von Berufs wegen im Freien<lb/> lebenden Menschen, wie Landwirten, Förstern, Seeleuten, Soldaten, beobachtet<lb/> wird. Die ursprüngliche Fabel der Zauberflöte, das echte Metall ihres sym¬<lb/> bolischen Gehalts, wirkte auf Mozarts empfänglichen, unverbildeten Sinn durch<lb/> die Verballhornung des Schikanederschen Textes hindurch mit mächtiger An¬<lb/> ziehungskraft. Die kindliche Einfalt des Märchens begegnete einem verwandten<lb/> Zuge in der Seele des Komponisten. Dies ist die Wahrheit an dem einmal<lb/> aufgestellten und immer wieder gedankenlos nachgesprochneu Satze von der<lb/> „albernen" Handlung der Zauberflöte, die nur durch Mozarts Musik „in<lb/> das Reich des Ideals emporgehoben" werde. Woher denn in aller Welt der<lb/> zündende Funke der Gestaltungslust in die Brust des Meisters gefallen sein<lb/> soll, wenn nicht aus dem Eindruck eben jener angeblich albernen Handlung —<lb/> bis zu solchen doch wahrlich naheliegenden Erwägungen Pflegen die Nachtreter<lb/> jener Weisheit ihre Gedankengänge nicht auszudehnen. Die Kunstgeschichte<lb/> kennt Beispiele genug davon, daß sich große Künstler an unbedeutenden Stoffen<lb/> versucht haben; immer aber fallen diese Versuche in die Periode ihrer Lehr¬<lb/> jahre. Sie wird ja gerade im Leben ungewöhnlicher Menschen besonders häufig<lb/> durch derartige Irrungen gekennzeichnet; und ganz allgemein darf man sagen,<lb/> daß die Bedeutung der Gegenstände, von denen sich jemand innerlich erfüllen<lb/> läßt, den zuverlässigsten Maßstab sür den Grad seiner Reise abgiebt. In der<lb/> Beleuchtung dieses Satzes aber enthüllt sich uns der ganze Widersinn der<lb/> Annahme, daß sich ein auf der Höhe des Schaffens stehender Künstler eines<lb/> schalen Stoffes mit Hingebung bemächtigen und ein unvergängliches Kunst¬<lb/> werk aus ihm formen könnte. Denn so stellt sich die Frage in Betreff der<lb/> Zauberflöte. Ich habe soeben den Ausdruck Hingebung gebraucht, und wer<lb/> die völlige seelische Hingebung Mozarts an sein letztes Bühnenwerk nicht aus<lb/> dessen Tonweisen heraushört, der darf wohl an die bekannte Thatsache erinnert<lb/> werden, daß der Künstler während der Komposition der Priesterchöre von<lb/> wiederholten Ohnmachten befallen wurde. Die tiefgehende Ähnlichkeit zwischen<lb/> den Gesetzen der leiblichen und der geistigen Zeugung bildet ja heutzutage den<lb/> Gegenstand einer stetig vordringenden Forschung. Hier sehen wir, wie eine</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1393 43</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0347]
Mozarts Bild nach hundert Jahren
seines Daseins treibt ihn umher, und ohne irgend welche Anstrengung oder
auch nur Thätigkeit erlangt er sein Glück. Er hat Papagena nie zuvor ge¬
sehen und weiß nichts von ihr; er fühlt bei ihrem Anblick nur: das ist Bein
von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Sie ist in der That, was
auch ihr Name bezeichnet, nur die weibliche Ergänzung Papagenos, mehr
Gattungswesen als Individuum. Die luftige Körperlichkeit beider vervoll¬
ständigt das Bild des an keine Persönlichkeit gebundnen frei umherflatternden
Naturtriebes.
Menschen vom Schlage Mozarts bestätigen in geistigen Dingen dieselbe
Schürfe der Unterscheidung, die in Bezug auf Gegenstände der sinnlichen
Wahrnehmung um Naturvölkern und an allen von Berufs wegen im Freien
lebenden Menschen, wie Landwirten, Förstern, Seeleuten, Soldaten, beobachtet
wird. Die ursprüngliche Fabel der Zauberflöte, das echte Metall ihres sym¬
bolischen Gehalts, wirkte auf Mozarts empfänglichen, unverbildeten Sinn durch
die Verballhornung des Schikanederschen Textes hindurch mit mächtiger An¬
ziehungskraft. Die kindliche Einfalt des Märchens begegnete einem verwandten
Zuge in der Seele des Komponisten. Dies ist die Wahrheit an dem einmal
aufgestellten und immer wieder gedankenlos nachgesprochneu Satze von der
„albernen" Handlung der Zauberflöte, die nur durch Mozarts Musik „in
das Reich des Ideals emporgehoben" werde. Woher denn in aller Welt der
zündende Funke der Gestaltungslust in die Brust des Meisters gefallen sein
soll, wenn nicht aus dem Eindruck eben jener angeblich albernen Handlung —
bis zu solchen doch wahrlich naheliegenden Erwägungen Pflegen die Nachtreter
jener Weisheit ihre Gedankengänge nicht auszudehnen. Die Kunstgeschichte
kennt Beispiele genug davon, daß sich große Künstler an unbedeutenden Stoffen
versucht haben; immer aber fallen diese Versuche in die Periode ihrer Lehr¬
jahre. Sie wird ja gerade im Leben ungewöhnlicher Menschen besonders häufig
durch derartige Irrungen gekennzeichnet; und ganz allgemein darf man sagen,
daß die Bedeutung der Gegenstände, von denen sich jemand innerlich erfüllen
läßt, den zuverlässigsten Maßstab sür den Grad seiner Reise abgiebt. In der
Beleuchtung dieses Satzes aber enthüllt sich uns der ganze Widersinn der
Annahme, daß sich ein auf der Höhe des Schaffens stehender Künstler eines
schalen Stoffes mit Hingebung bemächtigen und ein unvergängliches Kunst¬
werk aus ihm formen könnte. Denn so stellt sich die Frage in Betreff der
Zauberflöte. Ich habe soeben den Ausdruck Hingebung gebraucht, und wer
die völlige seelische Hingebung Mozarts an sein letztes Bühnenwerk nicht aus
dessen Tonweisen heraushört, der darf wohl an die bekannte Thatsache erinnert
werden, daß der Künstler während der Komposition der Priesterchöre von
wiederholten Ohnmachten befallen wurde. Die tiefgehende Ähnlichkeit zwischen
den Gesetzen der leiblichen und der geistigen Zeugung bildet ja heutzutage den
Gegenstand einer stetig vordringenden Forschung. Hier sehen wir, wie eine
Grenzboten I 1393 43
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