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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild nach hundert Jahren

in ihrer Einfachheit und Tiefe vielleicht ohnegleichen dastehende künstlerische
Hervorbringung sich von dem schaffenden Organismus unter vollständig wehen¬
artigen Erschütterungen losringt. Kein Gedanke aber an derartige Erschei¬
nungen, wo nicht der Künstler mit seinem Stoffe verwachsen ist, wo vielmehr
eine blinde Laune oder der Zwang äußerer Umstünde seine Wahl bestimmt
haben.

Und so sei es denn noch einmal gesagt: wenn die Komposition der Zauber¬
flöte auf Mozarts Seite ein Fehlgriff war, dann hat er noch am Abschlüsse
im Scheitelpunkte seiner Entwicklung eine Unzuverlüssigkeit des Instinkts be¬
wiesen, die weit weniger genialen Künstlern beim Eintritt in die Jahre der
Reife nicht mehr angehaftet hat. Im Scheitelpunkte seiner Entwicklung; zu
dieser Behauptung, von der sie ausgegangen ist, kehrt unsre Betrachtung nun¬
mehr zurück. Wenn auch die Entstehung der Zauberflöte und Mozarts Tod
in sein fünfunddreißigstes Lebensjahr fallen, im Hinblick auf sein Schaffen
kann von einem vorzeitigen Tode nicht gesprochen werden. Das oft gehörte
Wort: was hätte dieser oder jener Mann noch leisten können, wenn er nicht
so früh der Menschheit entrissen wäre! ist an sich nicht eben sinnreich; auf
Mozart angewandt ist es vollkommen verfehlt. Wenn von irgend einem
Künstler, so gilt von ihm, daß er alles gespendet hat, was er empfangen
hatte. Wer Mozarts Schaffen auch uur oberflächlich überblickt, wird den
Eindruck nicht abweisen können, daß dieser unvergleichlich reichen Natur den¬
noch wie wenigen das beneidenswerte Glück beschieden gewesen ist, sich in
ihren Werken ganz auszugeben. Die aber von Mozarts Eigenart eine lebendige
Anschauung haben, werden mir insbesondre darin zustimmen, daß er in der
Zauberflöte sein Letztes hergegeben hat. Das Letzte und das Beste seiner Kunst.
Eine schönere und reinere Sprache, als ihnen in diesem Werke verliehen ist,
konnte weder Mozart selbst noch ein andrer die Töne lehren. Wohl stand der
Musik noch eine ausgedehnte Entwicklung in einer neuen Richtung bevor. Aber
Mozart hätte eine weite Strecke des hinter ihm liegenden Anstiegs zurückgehen
müssen, um den Weg zu dieser neuen Richtung einzuschlagen. Er hatte die
Zauberflöte geschaffen; er durfte sterben.

Der Leser kennt den Ausspruch, daß Mozarts Musik ein Lächeln unter
Thränen sei. In seiner Kürze bezeichnet er, wenn auch nicht den Umfang
dieser das ganze Gebiet ihrer Kunst umspannenden Individualität, so doch nach
meinem Empfinden den beherrschenden Zug in ihrem Bilde. Dem großen
Publikum und dem hier einmal mit ihm übereinstimmenden Rembrandt-Deutschen
gilt als dieser Zug die sonnige Heiterkeit. Aber den Verfasser des Rembrandt-
buches, der unter dem Gesichtspunkte des heitern Glanzes mit Recht die Mo-
zartsche und die Haydnsche Musik neben einander stellt, Hütte schon diese Zu¬
sammenstellung darauf führen sollen, daß seine Ansicht von dem größten musika¬
lischen Genius einseitig ist. Mozart wäre nicht Mozart, wenn sich seine Kunst am


Mozarts Bild nach hundert Jahren

in ihrer Einfachheit und Tiefe vielleicht ohnegleichen dastehende künstlerische
Hervorbringung sich von dem schaffenden Organismus unter vollständig wehen¬
artigen Erschütterungen losringt. Kein Gedanke aber an derartige Erschei¬
nungen, wo nicht der Künstler mit seinem Stoffe verwachsen ist, wo vielmehr
eine blinde Laune oder der Zwang äußerer Umstünde seine Wahl bestimmt
haben.

Und so sei es denn noch einmal gesagt: wenn die Komposition der Zauber¬
flöte auf Mozarts Seite ein Fehlgriff war, dann hat er noch am Abschlüsse
im Scheitelpunkte seiner Entwicklung eine Unzuverlüssigkeit des Instinkts be¬
wiesen, die weit weniger genialen Künstlern beim Eintritt in die Jahre der
Reife nicht mehr angehaftet hat. Im Scheitelpunkte seiner Entwicklung; zu
dieser Behauptung, von der sie ausgegangen ist, kehrt unsre Betrachtung nun¬
mehr zurück. Wenn auch die Entstehung der Zauberflöte und Mozarts Tod
in sein fünfunddreißigstes Lebensjahr fallen, im Hinblick auf sein Schaffen
kann von einem vorzeitigen Tode nicht gesprochen werden. Das oft gehörte
Wort: was hätte dieser oder jener Mann noch leisten können, wenn er nicht
so früh der Menschheit entrissen wäre! ist an sich nicht eben sinnreich; auf
Mozart angewandt ist es vollkommen verfehlt. Wenn von irgend einem
Künstler, so gilt von ihm, daß er alles gespendet hat, was er empfangen
hatte. Wer Mozarts Schaffen auch uur oberflächlich überblickt, wird den
Eindruck nicht abweisen können, daß dieser unvergleichlich reichen Natur den¬
noch wie wenigen das beneidenswerte Glück beschieden gewesen ist, sich in
ihren Werken ganz auszugeben. Die aber von Mozarts Eigenart eine lebendige
Anschauung haben, werden mir insbesondre darin zustimmen, daß er in der
Zauberflöte sein Letztes hergegeben hat. Das Letzte und das Beste seiner Kunst.
Eine schönere und reinere Sprache, als ihnen in diesem Werke verliehen ist,
konnte weder Mozart selbst noch ein andrer die Töne lehren. Wohl stand der
Musik noch eine ausgedehnte Entwicklung in einer neuen Richtung bevor. Aber
Mozart hätte eine weite Strecke des hinter ihm liegenden Anstiegs zurückgehen
müssen, um den Weg zu dieser neuen Richtung einzuschlagen. Er hatte die
Zauberflöte geschaffen; er durfte sterben.

Der Leser kennt den Ausspruch, daß Mozarts Musik ein Lächeln unter
Thränen sei. In seiner Kürze bezeichnet er, wenn auch nicht den Umfang
dieser das ganze Gebiet ihrer Kunst umspannenden Individualität, so doch nach
meinem Empfinden den beherrschenden Zug in ihrem Bilde. Dem großen
Publikum und dem hier einmal mit ihm übereinstimmenden Rembrandt-Deutschen
gilt als dieser Zug die sonnige Heiterkeit. Aber den Verfasser des Rembrandt-
buches, der unter dem Gesichtspunkte des heitern Glanzes mit Recht die Mo-
zartsche und die Haydnsche Musik neben einander stellt, Hütte schon diese Zu¬
sammenstellung darauf führen sollen, daß seine Ansicht von dem größten musika¬
lischen Genius einseitig ist. Mozart wäre nicht Mozart, wenn sich seine Kunst am


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[0348] Mozarts Bild nach hundert Jahren in ihrer Einfachheit und Tiefe vielleicht ohnegleichen dastehende künstlerische Hervorbringung sich von dem schaffenden Organismus unter vollständig wehen¬ artigen Erschütterungen losringt. Kein Gedanke aber an derartige Erschei¬ nungen, wo nicht der Künstler mit seinem Stoffe verwachsen ist, wo vielmehr eine blinde Laune oder der Zwang äußerer Umstünde seine Wahl bestimmt haben. Und so sei es denn noch einmal gesagt: wenn die Komposition der Zauber¬ flöte auf Mozarts Seite ein Fehlgriff war, dann hat er noch am Abschlüsse im Scheitelpunkte seiner Entwicklung eine Unzuverlüssigkeit des Instinkts be¬ wiesen, die weit weniger genialen Künstlern beim Eintritt in die Jahre der Reife nicht mehr angehaftet hat. Im Scheitelpunkte seiner Entwicklung; zu dieser Behauptung, von der sie ausgegangen ist, kehrt unsre Betrachtung nun¬ mehr zurück. Wenn auch die Entstehung der Zauberflöte und Mozarts Tod in sein fünfunddreißigstes Lebensjahr fallen, im Hinblick auf sein Schaffen kann von einem vorzeitigen Tode nicht gesprochen werden. Das oft gehörte Wort: was hätte dieser oder jener Mann noch leisten können, wenn er nicht so früh der Menschheit entrissen wäre! ist an sich nicht eben sinnreich; auf Mozart angewandt ist es vollkommen verfehlt. Wenn von irgend einem Künstler, so gilt von ihm, daß er alles gespendet hat, was er empfangen hatte. Wer Mozarts Schaffen auch uur oberflächlich überblickt, wird den Eindruck nicht abweisen können, daß dieser unvergleichlich reichen Natur den¬ noch wie wenigen das beneidenswerte Glück beschieden gewesen ist, sich in ihren Werken ganz auszugeben. Die aber von Mozarts Eigenart eine lebendige Anschauung haben, werden mir insbesondre darin zustimmen, daß er in der Zauberflöte sein Letztes hergegeben hat. Das Letzte und das Beste seiner Kunst. Eine schönere und reinere Sprache, als ihnen in diesem Werke verliehen ist, konnte weder Mozart selbst noch ein andrer die Töne lehren. Wohl stand der Musik noch eine ausgedehnte Entwicklung in einer neuen Richtung bevor. Aber Mozart hätte eine weite Strecke des hinter ihm liegenden Anstiegs zurückgehen müssen, um den Weg zu dieser neuen Richtung einzuschlagen. Er hatte die Zauberflöte geschaffen; er durfte sterben. Der Leser kennt den Ausspruch, daß Mozarts Musik ein Lächeln unter Thränen sei. In seiner Kürze bezeichnet er, wenn auch nicht den Umfang dieser das ganze Gebiet ihrer Kunst umspannenden Individualität, so doch nach meinem Empfinden den beherrschenden Zug in ihrem Bilde. Dem großen Publikum und dem hier einmal mit ihm übereinstimmenden Rembrandt-Deutschen gilt als dieser Zug die sonnige Heiterkeit. Aber den Verfasser des Rembrandt- buches, der unter dem Gesichtspunkte des heitern Glanzes mit Recht die Mo- zartsche und die Haydnsche Musik neben einander stellt, Hütte schon diese Zu¬ sammenstellung darauf führen sollen, daß seine Ansicht von dem größten musika¬ lischen Genius einseitig ist. Mozart wäre nicht Mozart, wenn sich seine Kunst am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/348>, abgerufen am 28.06.2024.