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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild nach hundert Jahren

sich und mit den uns umdrängenden Außendingen den Inhalt unsers Lebens
bildet, außerhalb von uns und personifizirt sie. Es sieht sie als selbständige
Wesen plastisch vor sich und stellt sie so vor uus hiu. Als Dichtung des
Volkes gleicht auch hierin das Märchen nur den großen Dichtungen größter
Dichter, die ja diese"? Ehrennamen selbst nur um deswillen tragen, weil sich
die Anschauung ihres Volks in ihrer Anschauung verdichtet und in ihren
Werken Gestalt gewonnen hat. "Im Geistigen wie im Physischen hat die
Natur nur einen höchsten Prozeß: den der Verdichtung," sagt der schon einmal
genannte Hebbel. Tasso und Antonio in Goethes Drama als Verkörperungen
der beiden Seiten im Wesen des Dichters, die zur Zeit der Entstehung des
Stückes mit einander im Kampfe lagen, sind in der neuern Litteratur das be¬
kannteste Beispiel für jene Art vou Verdichtung, d. h. Vergegenständlichung
innerer Vorgänge, die wir so oft auch im Märchen finden. Aber die unwill¬
kürliche Neigung großer Dichter, die Zwiespältigkeit ihrer eignen Sinnesart,
die in jedem Erdensöhne zusammengeschmiedete Doppelgestalt des geistigen und
des natürlichen Menschen ans die einfachste und deutlichste Weise darzustellen,
indem sie beide Seiten personisiziren und ihren Helden sei es genußfrohe, sei
es positiv thätige, stets aber beschränkte Verstnndesinenschen an die Seite oder
gegenüber stellen, diese Neigung scheint immer wiederzukehren. Wir finden
sie in der Heraklessage und in Homers Odyssee wie in Goethes Wahlverwandt¬
schaften und Wilhelm Meister. Don Quixote und Sancho Pansa, Don Juan
und Leporello, Prinz Heinrich und Falstaff, Götz und Weisungen bezeichnen
im wesentlichen den gleichen Gegensatz. An keinem dieser Paare tritt er reiner
in die Erscheinung, als an Tamino und Papngeno. Während Tcimino die
Probe des Fastens und Schweigens durchmacht, fragt Papageno die beiden
Priester, die seinem Herrn Mut zusprechen, ob Rede, Speise und Trank auch
ihm versagt seien. Nur wenn er wie Tamino in den Kreis der Eingeweihten
aufgenommen werden wolle, lautet die Autwort. Papageno ist leinen Augen¬
blick im Zweifel, wofür er sich entscheiden soll. Den Kreis der Eingeweihten
kennt er nicht; aber von Speise und Trank hat er sehr deutliche Vorstellungen.
Es ist besser so für ihn -- und für den Kreis der Eingeweihten. Das ganze
Geschöpf in seinem Federkleide ist die denkbar naivste, lebendigste und liebens¬
würdigste Darstellung des Sinnenmenschen. Der schalkhafte Übermut der Un¬
schuld hat sie geschaffen. Auch seine Liebesepisode steht im folgerichtigsten
Gegensatze zu der des Helden der Handlung. In Tamino entsteht die Liebe
beim Anblick des Bildes Pamiueus. Er liebt also individuell, wie denn dem
wachen, nicht im tierischen Schlafe dahinlebenden Menschen eine andre Em¬
pfindung jenes Namens nicht beschieden ist. In Tamino wird diese Liebe zur
Kraft, die ihn fortan beherrscht und zur Überwindung der härtesten Prüfungen
stählt. Papageno liebt als reine Kreatur, ohne einen bestimmten Gegenstand
seiner Neigung. Ein unbegrenztes Verlangen nach einer holden Gefährtin


Mozarts Bild nach hundert Jahren

sich und mit den uns umdrängenden Außendingen den Inhalt unsers Lebens
bildet, außerhalb von uns und personifizirt sie. Es sieht sie als selbständige
Wesen plastisch vor sich und stellt sie so vor uus hiu. Als Dichtung des
Volkes gleicht auch hierin das Märchen nur den großen Dichtungen größter
Dichter, die ja diese«? Ehrennamen selbst nur um deswillen tragen, weil sich
die Anschauung ihres Volks in ihrer Anschauung verdichtet und in ihren
Werken Gestalt gewonnen hat. „Im Geistigen wie im Physischen hat die
Natur nur einen höchsten Prozeß: den der Verdichtung," sagt der schon einmal
genannte Hebbel. Tasso und Antonio in Goethes Drama als Verkörperungen
der beiden Seiten im Wesen des Dichters, die zur Zeit der Entstehung des
Stückes mit einander im Kampfe lagen, sind in der neuern Litteratur das be¬
kannteste Beispiel für jene Art vou Verdichtung, d. h. Vergegenständlichung
innerer Vorgänge, die wir so oft auch im Märchen finden. Aber die unwill¬
kürliche Neigung großer Dichter, die Zwiespältigkeit ihrer eignen Sinnesart,
die in jedem Erdensöhne zusammengeschmiedete Doppelgestalt des geistigen und
des natürlichen Menschen ans die einfachste und deutlichste Weise darzustellen,
indem sie beide Seiten personisiziren und ihren Helden sei es genußfrohe, sei
es positiv thätige, stets aber beschränkte Verstnndesinenschen an die Seite oder
gegenüber stellen, diese Neigung scheint immer wiederzukehren. Wir finden
sie in der Heraklessage und in Homers Odyssee wie in Goethes Wahlverwandt¬
schaften und Wilhelm Meister. Don Quixote und Sancho Pansa, Don Juan
und Leporello, Prinz Heinrich und Falstaff, Götz und Weisungen bezeichnen
im wesentlichen den gleichen Gegensatz. An keinem dieser Paare tritt er reiner
in die Erscheinung, als an Tamino und Papngeno. Während Tcimino die
Probe des Fastens und Schweigens durchmacht, fragt Papageno die beiden
Priester, die seinem Herrn Mut zusprechen, ob Rede, Speise und Trank auch
ihm versagt seien. Nur wenn er wie Tamino in den Kreis der Eingeweihten
aufgenommen werden wolle, lautet die Autwort. Papageno ist leinen Augen¬
blick im Zweifel, wofür er sich entscheiden soll. Den Kreis der Eingeweihten
kennt er nicht; aber von Speise und Trank hat er sehr deutliche Vorstellungen.
Es ist besser so für ihn — und für den Kreis der Eingeweihten. Das ganze
Geschöpf in seinem Federkleide ist die denkbar naivste, lebendigste und liebens¬
würdigste Darstellung des Sinnenmenschen. Der schalkhafte Übermut der Un¬
schuld hat sie geschaffen. Auch seine Liebesepisode steht im folgerichtigsten
Gegensatze zu der des Helden der Handlung. In Tamino entsteht die Liebe
beim Anblick des Bildes Pamiueus. Er liebt also individuell, wie denn dem
wachen, nicht im tierischen Schlafe dahinlebenden Menschen eine andre Em¬
pfindung jenes Namens nicht beschieden ist. In Tamino wird diese Liebe zur
Kraft, die ihn fortan beherrscht und zur Überwindung der härtesten Prüfungen
stählt. Papageno liebt als reine Kreatur, ohne einen bestimmten Gegenstand
seiner Neigung. Ein unbegrenztes Verlangen nach einer holden Gefährtin


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[0346] Mozarts Bild nach hundert Jahren sich und mit den uns umdrängenden Außendingen den Inhalt unsers Lebens bildet, außerhalb von uns und personifizirt sie. Es sieht sie als selbständige Wesen plastisch vor sich und stellt sie so vor uus hiu. Als Dichtung des Volkes gleicht auch hierin das Märchen nur den großen Dichtungen größter Dichter, die ja diese«? Ehrennamen selbst nur um deswillen tragen, weil sich die Anschauung ihres Volks in ihrer Anschauung verdichtet und in ihren Werken Gestalt gewonnen hat. „Im Geistigen wie im Physischen hat die Natur nur einen höchsten Prozeß: den der Verdichtung," sagt der schon einmal genannte Hebbel. Tasso und Antonio in Goethes Drama als Verkörperungen der beiden Seiten im Wesen des Dichters, die zur Zeit der Entstehung des Stückes mit einander im Kampfe lagen, sind in der neuern Litteratur das be¬ kannteste Beispiel für jene Art vou Verdichtung, d. h. Vergegenständlichung innerer Vorgänge, die wir so oft auch im Märchen finden. Aber die unwill¬ kürliche Neigung großer Dichter, die Zwiespältigkeit ihrer eignen Sinnesart, die in jedem Erdensöhne zusammengeschmiedete Doppelgestalt des geistigen und des natürlichen Menschen ans die einfachste und deutlichste Weise darzustellen, indem sie beide Seiten personisiziren und ihren Helden sei es genußfrohe, sei es positiv thätige, stets aber beschränkte Verstnndesinenschen an die Seite oder gegenüber stellen, diese Neigung scheint immer wiederzukehren. Wir finden sie in der Heraklessage und in Homers Odyssee wie in Goethes Wahlverwandt¬ schaften und Wilhelm Meister. Don Quixote und Sancho Pansa, Don Juan und Leporello, Prinz Heinrich und Falstaff, Götz und Weisungen bezeichnen im wesentlichen den gleichen Gegensatz. An keinem dieser Paare tritt er reiner in die Erscheinung, als an Tamino und Papngeno. Während Tcimino die Probe des Fastens und Schweigens durchmacht, fragt Papageno die beiden Priester, die seinem Herrn Mut zusprechen, ob Rede, Speise und Trank auch ihm versagt seien. Nur wenn er wie Tamino in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen werden wolle, lautet die Autwort. Papageno ist leinen Augen¬ blick im Zweifel, wofür er sich entscheiden soll. Den Kreis der Eingeweihten kennt er nicht; aber von Speise und Trank hat er sehr deutliche Vorstellungen. Es ist besser so für ihn — und für den Kreis der Eingeweihten. Das ganze Geschöpf in seinem Federkleide ist die denkbar naivste, lebendigste und liebens¬ würdigste Darstellung des Sinnenmenschen. Der schalkhafte Übermut der Un¬ schuld hat sie geschaffen. Auch seine Liebesepisode steht im folgerichtigsten Gegensatze zu der des Helden der Handlung. In Tamino entsteht die Liebe beim Anblick des Bildes Pamiueus. Er liebt also individuell, wie denn dem wachen, nicht im tierischen Schlafe dahinlebenden Menschen eine andre Em¬ pfindung jenes Namens nicht beschieden ist. In Tamino wird diese Liebe zur Kraft, die ihn fortan beherrscht und zur Überwindung der härtesten Prüfungen stählt. Papageno liebt als reine Kreatur, ohne einen bestimmten Gegenstand seiner Neigung. Ein unbegrenztes Verlangen nach einer holden Gefährtin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/346>, abgerufen am 28.09.2024.