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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild nach hundert Jahren

auf sich wirken läßt, um so lebensvoller wird sich ihr Abbild in seiner Phan¬
tasie gestalten. Gewiß wird dieses Abbild in dem Maße neu und eigenartig
ausfallen, wie die Individualität des aufnehmenden Subjekts, des Komponisten
also, eine ausgeprägte und selbständige ist. Wenn aber dann in dem neuen
Werke, der Oper, die einzelnen Charaktere veränderte Züge aufweisen, so werden
sie darum sicher nicht weniger aus einem Gusse geformt sein; und was sie an
genauer Übereinstimmung mit den ursprünglichen Charakteren des Textes ein¬
gebüßt haben, wird niemand gegen den Vorzug eintauschen Wollen, daß sie die
Werkstatt des Komponisten nicht als musikalische Abstraktionen, sondern als
lebendige, vollsaftige Gebilde verlassen haben. Es liegt zwischen solcher Kom¬
position und der, die ich als sklavische Nachbildung bezeichnet habe, dasselbe
Wertverhältnis vor wie zwischen einem von Meisterhand gemalten Porträt
und einer wenn auch noch so vortrefflichen Photographie. Das Wertverhältnis
zwischen einer Dichtung und der nach ihr verfaßten Oper aber hängt ganz
davon ab, ob der Dichter oder der Musiker der größere Künstler war. Beau¬
marchais war im Gebiete des Lustspiels nicht, was Mozart auf dem der
Musik ist. Darum hat sich nicht das Lustspiel, sondern die Oper "Figaros
Hochzeit" lebensfähig erhalten. In Bellinis Romeo und Julia, in Gvunods
Margarete haben wir Beispiele des umgekehrten Verhältnisses: Shakespeare
und Goethe werden ihre Komponisten überleben.

Aus dem Gesamteindrucke einer Dichtung also empfängt der Tonkünstler
den Anreiz, ihr nun in ihm lebendes Bild in das Gewand seiner eignen Kunst
zu kleiden. Er saßt den Entschluß, eine Oper, d. h. einen zusammenhängenden
Tonsatz zu schreiben, dem die Dichtung, wie ich es schon einmal ausgedrückt
habe, als Unterlage dient. Nun erst entsteht nach der theoretisch richtigen
Reihenfolge das Textbuch oder Libretto. Es wird regelmäßig schon unter be¬
ständiger Rücksicht auf die Bedürfnisse der musikalischen Einkleidung aus¬
gearbeitet, gleichviel ob der Musiker seine Abfassung selbst in die Hand nimmt
oder mit einem "Fachmann" in Verbindung tritt- In beiden Fällen vermag
die Verteilung der ursprünglichen Dichtung in Gesangstücke nicht mehr dem
Musiker die Charaktere einzugeben. Diese standen schon wenigstens in den
Umrissen fertig vor seinem Künstlerauge, als der Gedanke, die Oper zu schreiben,
zum Entschluß reifte. Also die Dichtung ist das erste, die Komposition das
zweite, das Libretto das dritte. Die Fabel, mit Einschluß der Charaktere,
wie sie in ihr erscheinen, gehört dem Verfasser des dramatischen oder sonstigen
Originalwerks, die Worte des Textbuchs gehöre" dem Librettoschrciber -- der
mit dem Komponisten oder auch mit dem Dichter eine Person sein kann --,
die Oper als musikalisches Ganze -- und ein andres Ganze ist die Oper nicht --
gehört einschließlich der musikalischen Charaktere dem Komponisten. Man spricht
nicht von da Pontes, sondern von Mozarts Don Juan, wie von Rafaels
Madonnen oder von Goethes Faust; und dieser Sprachgebrauch hat Recht.


Mozarts Bild nach hundert Jahren

auf sich wirken läßt, um so lebensvoller wird sich ihr Abbild in seiner Phan¬
tasie gestalten. Gewiß wird dieses Abbild in dem Maße neu und eigenartig
ausfallen, wie die Individualität des aufnehmenden Subjekts, des Komponisten
also, eine ausgeprägte und selbständige ist. Wenn aber dann in dem neuen
Werke, der Oper, die einzelnen Charaktere veränderte Züge aufweisen, so werden
sie darum sicher nicht weniger aus einem Gusse geformt sein; und was sie an
genauer Übereinstimmung mit den ursprünglichen Charakteren des Textes ein¬
gebüßt haben, wird niemand gegen den Vorzug eintauschen Wollen, daß sie die
Werkstatt des Komponisten nicht als musikalische Abstraktionen, sondern als
lebendige, vollsaftige Gebilde verlassen haben. Es liegt zwischen solcher Kom¬
position und der, die ich als sklavische Nachbildung bezeichnet habe, dasselbe
Wertverhältnis vor wie zwischen einem von Meisterhand gemalten Porträt
und einer wenn auch noch so vortrefflichen Photographie. Das Wertverhältnis
zwischen einer Dichtung und der nach ihr verfaßten Oper aber hängt ganz
davon ab, ob der Dichter oder der Musiker der größere Künstler war. Beau¬
marchais war im Gebiete des Lustspiels nicht, was Mozart auf dem der
Musik ist. Darum hat sich nicht das Lustspiel, sondern die Oper „Figaros
Hochzeit" lebensfähig erhalten. In Bellinis Romeo und Julia, in Gvunods
Margarete haben wir Beispiele des umgekehrten Verhältnisses: Shakespeare
und Goethe werden ihre Komponisten überleben.

Aus dem Gesamteindrucke einer Dichtung also empfängt der Tonkünstler
den Anreiz, ihr nun in ihm lebendes Bild in das Gewand seiner eignen Kunst
zu kleiden. Er saßt den Entschluß, eine Oper, d. h. einen zusammenhängenden
Tonsatz zu schreiben, dem die Dichtung, wie ich es schon einmal ausgedrückt
habe, als Unterlage dient. Nun erst entsteht nach der theoretisch richtigen
Reihenfolge das Textbuch oder Libretto. Es wird regelmäßig schon unter be¬
ständiger Rücksicht auf die Bedürfnisse der musikalischen Einkleidung aus¬
gearbeitet, gleichviel ob der Musiker seine Abfassung selbst in die Hand nimmt
oder mit einem „Fachmann" in Verbindung tritt- In beiden Fällen vermag
die Verteilung der ursprünglichen Dichtung in Gesangstücke nicht mehr dem
Musiker die Charaktere einzugeben. Diese standen schon wenigstens in den
Umrissen fertig vor seinem Künstlerauge, als der Gedanke, die Oper zu schreiben,
zum Entschluß reifte. Also die Dichtung ist das erste, die Komposition das
zweite, das Libretto das dritte. Die Fabel, mit Einschluß der Charaktere,
wie sie in ihr erscheinen, gehört dem Verfasser des dramatischen oder sonstigen
Originalwerks, die Worte des Textbuchs gehöre» dem Librettoschrciber — der
mit dem Komponisten oder auch mit dem Dichter eine Person sein kann —,
die Oper als musikalisches Ganze — und ein andres Ganze ist die Oper nicht —
gehört einschließlich der musikalischen Charaktere dem Komponisten. Man spricht
nicht von da Pontes, sondern von Mozarts Don Juan, wie von Rafaels
Madonnen oder von Goethes Faust; und dieser Sprachgebrauch hat Recht.


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[0344] Mozarts Bild nach hundert Jahren auf sich wirken läßt, um so lebensvoller wird sich ihr Abbild in seiner Phan¬ tasie gestalten. Gewiß wird dieses Abbild in dem Maße neu und eigenartig ausfallen, wie die Individualität des aufnehmenden Subjekts, des Komponisten also, eine ausgeprägte und selbständige ist. Wenn aber dann in dem neuen Werke, der Oper, die einzelnen Charaktere veränderte Züge aufweisen, so werden sie darum sicher nicht weniger aus einem Gusse geformt sein; und was sie an genauer Übereinstimmung mit den ursprünglichen Charakteren des Textes ein¬ gebüßt haben, wird niemand gegen den Vorzug eintauschen Wollen, daß sie die Werkstatt des Komponisten nicht als musikalische Abstraktionen, sondern als lebendige, vollsaftige Gebilde verlassen haben. Es liegt zwischen solcher Kom¬ position und der, die ich als sklavische Nachbildung bezeichnet habe, dasselbe Wertverhältnis vor wie zwischen einem von Meisterhand gemalten Porträt und einer wenn auch noch so vortrefflichen Photographie. Das Wertverhältnis zwischen einer Dichtung und der nach ihr verfaßten Oper aber hängt ganz davon ab, ob der Dichter oder der Musiker der größere Künstler war. Beau¬ marchais war im Gebiete des Lustspiels nicht, was Mozart auf dem der Musik ist. Darum hat sich nicht das Lustspiel, sondern die Oper „Figaros Hochzeit" lebensfähig erhalten. In Bellinis Romeo und Julia, in Gvunods Margarete haben wir Beispiele des umgekehrten Verhältnisses: Shakespeare und Goethe werden ihre Komponisten überleben. Aus dem Gesamteindrucke einer Dichtung also empfängt der Tonkünstler den Anreiz, ihr nun in ihm lebendes Bild in das Gewand seiner eignen Kunst zu kleiden. Er saßt den Entschluß, eine Oper, d. h. einen zusammenhängenden Tonsatz zu schreiben, dem die Dichtung, wie ich es schon einmal ausgedrückt habe, als Unterlage dient. Nun erst entsteht nach der theoretisch richtigen Reihenfolge das Textbuch oder Libretto. Es wird regelmäßig schon unter be¬ ständiger Rücksicht auf die Bedürfnisse der musikalischen Einkleidung aus¬ gearbeitet, gleichviel ob der Musiker seine Abfassung selbst in die Hand nimmt oder mit einem „Fachmann" in Verbindung tritt- In beiden Fällen vermag die Verteilung der ursprünglichen Dichtung in Gesangstücke nicht mehr dem Musiker die Charaktere einzugeben. Diese standen schon wenigstens in den Umrissen fertig vor seinem Künstlerauge, als der Gedanke, die Oper zu schreiben, zum Entschluß reifte. Also die Dichtung ist das erste, die Komposition das zweite, das Libretto das dritte. Die Fabel, mit Einschluß der Charaktere, wie sie in ihr erscheinen, gehört dem Verfasser des dramatischen oder sonstigen Originalwerks, die Worte des Textbuchs gehöre» dem Librettoschrciber — der mit dem Komponisten oder auch mit dem Dichter eine Person sein kann —, die Oper als musikalisches Ganze — und ein andres Ganze ist die Oper nicht — gehört einschließlich der musikalischen Charaktere dem Komponisten. Man spricht nicht von da Pontes, sondern von Mozarts Don Juan, wie von Rafaels Madonnen oder von Goethes Faust; und dieser Sprachgebrauch hat Recht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/344>, abgerufen am 28.06.2024.