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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild nach hundert Jahren

halb endlich hat noch keinen Musiker die Aufgabe gereizt, Shakespeares Kvuigs-
dramen, seinen Lear, seinen Hamlet, seinen Julius Cäsar oder etwa Schillers
Wallenstein in Musik zu setzen? da doch nach der Meinung des Publikums
ein "gediegner Text" für den Komponisten den höchsten Wert besitzen muß?

In Figaros Hochzeit ist der Text unter dem Gesichtspunkte der musi¬
kalischen Anforderungen so ungünstig gewühlt wie nur möglich. Eine satirische
Sitteukvmödie mit politischer Tendenz. Ich erkläre mir das Wagnis ihrer
Komposition aus dem überschäumenden Kraftgefühl und dem unbezähmbaren
Schaffensdrange des dreißigjährigen Mozart. Solcher Begabung in solchem
Alter konnte die Wahl des Stoffs nebensächlich erscheinen. Ihr genügte jeder
Gegenstand, der den Geist und durch seine Vermittlung die musikalische Ein¬
bildungskraft anregte. War er nicht dankbar für eine musikalische Behandlung,
um so verlockender mochte einer grenzenlosen Genialität die Aufgabe erscheinen,
die Gesetze ihrer Kunst dem. Widerstrebenden aufzuerlegen. Es ist bekannt, wie
verändert Beaumarchais Gestalten aus dem Stahlbade der Mozartschen Kom¬
position hervorgegangen sind. Von Lyrik, dem, wie wir gesehen haben, un¬
entbehrlichen Element der Oper, ist in dein Lustspiel des Franzosen keine Spur
zu finden. In Mozarts Oper füllt der Wiederschein des lyrisch ernsten Cha¬
rakters der Gräfin nicht auf die Gestalten Susannens und Cherubins, sondern
in hervortretenden Zügen auch auf die Figaros und des Grafen. Ja die
Hoheit dieser Gestalt bannt in dem erhebenden Schlußchor selbst die komischen
Figuren in ihren Kreis und wird so thatsächlich zum Mittelpunkt und Schwer¬
punkt des Stückes, ohne den seine ausgelassene Handlung in ein unkünstlerisches
Chaos auseinanderfnllen würde. Und wodurch ist diese Überlegenheit der Oper
über das Lustspiel "Figaros Hochzeit" erreicht? Da Poutes Textbuch mit
seinen mittelmüßigen Reimen steht ganz gewiß nicht über, sondern unter Beau¬
marchais Prosa. Wenn also trotzdem die Charaktere der Oper vertieft und
plastischer geworden sind, so können das einzig und allein die Tonweisen be¬
wirkt haben, die sich wie Schwingen an die Reden der handelnden Personen
heften und sie in die Region einer höhern Schönheit entführen.

Wie sollen wir uns aber diesen Vorgang denken? Muß nicht das höchste
Maß, das der Komponist in der Kunst der Charakterisirung erreichen kaun,
in der getreuen Auffassung und musikalischen Wiedergabe der von dem Ver¬
fasser des Textes gezeichneten Charakterbilder gesucht werden? Wie vertrüge
sich denn damit die souverüne Umgestaltung dieser Bilder, die ich Mozarts
Melodien zuschreibe?

Die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs liegt in der gänzlichen Ver¬
kehrtheit der in dem vorstehenden EinWurfe zum Wort gelangenden Meinung.
Je sklavischer der Komponist den Einzelheiten seines Textes nachhängt, je ge-
bundner er folglich arbeitet, um so spärlicher wird ihm der Quell der musi¬
kalischen Erfindung fließen. Je mehr er dagegen die Textdichtung als Ganzes


Mozarts Bild nach hundert Jahren

halb endlich hat noch keinen Musiker die Aufgabe gereizt, Shakespeares Kvuigs-
dramen, seinen Lear, seinen Hamlet, seinen Julius Cäsar oder etwa Schillers
Wallenstein in Musik zu setzen? da doch nach der Meinung des Publikums
ein „gediegner Text" für den Komponisten den höchsten Wert besitzen muß?

In Figaros Hochzeit ist der Text unter dem Gesichtspunkte der musi¬
kalischen Anforderungen so ungünstig gewühlt wie nur möglich. Eine satirische
Sitteukvmödie mit politischer Tendenz. Ich erkläre mir das Wagnis ihrer
Komposition aus dem überschäumenden Kraftgefühl und dem unbezähmbaren
Schaffensdrange des dreißigjährigen Mozart. Solcher Begabung in solchem
Alter konnte die Wahl des Stoffs nebensächlich erscheinen. Ihr genügte jeder
Gegenstand, der den Geist und durch seine Vermittlung die musikalische Ein¬
bildungskraft anregte. War er nicht dankbar für eine musikalische Behandlung,
um so verlockender mochte einer grenzenlosen Genialität die Aufgabe erscheinen,
die Gesetze ihrer Kunst dem. Widerstrebenden aufzuerlegen. Es ist bekannt, wie
verändert Beaumarchais Gestalten aus dem Stahlbade der Mozartschen Kom¬
position hervorgegangen sind. Von Lyrik, dem, wie wir gesehen haben, un¬
entbehrlichen Element der Oper, ist in dein Lustspiel des Franzosen keine Spur
zu finden. In Mozarts Oper füllt der Wiederschein des lyrisch ernsten Cha¬
rakters der Gräfin nicht auf die Gestalten Susannens und Cherubins, sondern
in hervortretenden Zügen auch auf die Figaros und des Grafen. Ja die
Hoheit dieser Gestalt bannt in dem erhebenden Schlußchor selbst die komischen
Figuren in ihren Kreis und wird so thatsächlich zum Mittelpunkt und Schwer¬
punkt des Stückes, ohne den seine ausgelassene Handlung in ein unkünstlerisches
Chaos auseinanderfnllen würde. Und wodurch ist diese Überlegenheit der Oper
über das Lustspiel „Figaros Hochzeit" erreicht? Da Poutes Textbuch mit
seinen mittelmüßigen Reimen steht ganz gewiß nicht über, sondern unter Beau¬
marchais Prosa. Wenn also trotzdem die Charaktere der Oper vertieft und
plastischer geworden sind, so können das einzig und allein die Tonweisen be¬
wirkt haben, die sich wie Schwingen an die Reden der handelnden Personen
heften und sie in die Region einer höhern Schönheit entführen.

Wie sollen wir uns aber diesen Vorgang denken? Muß nicht das höchste
Maß, das der Komponist in der Kunst der Charakterisirung erreichen kaun,
in der getreuen Auffassung und musikalischen Wiedergabe der von dem Ver¬
fasser des Textes gezeichneten Charakterbilder gesucht werden? Wie vertrüge
sich denn damit die souverüne Umgestaltung dieser Bilder, die ich Mozarts
Melodien zuschreibe?

Die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs liegt in der gänzlichen Ver¬
kehrtheit der in dem vorstehenden EinWurfe zum Wort gelangenden Meinung.
Je sklavischer der Komponist den Einzelheiten seines Textes nachhängt, je ge-
bundner er folglich arbeitet, um so spärlicher wird ihm der Quell der musi¬
kalischen Erfindung fließen. Je mehr er dagegen die Textdichtung als Ganzes


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[0343] Mozarts Bild nach hundert Jahren halb endlich hat noch keinen Musiker die Aufgabe gereizt, Shakespeares Kvuigs- dramen, seinen Lear, seinen Hamlet, seinen Julius Cäsar oder etwa Schillers Wallenstein in Musik zu setzen? da doch nach der Meinung des Publikums ein „gediegner Text" für den Komponisten den höchsten Wert besitzen muß? In Figaros Hochzeit ist der Text unter dem Gesichtspunkte der musi¬ kalischen Anforderungen so ungünstig gewühlt wie nur möglich. Eine satirische Sitteukvmödie mit politischer Tendenz. Ich erkläre mir das Wagnis ihrer Komposition aus dem überschäumenden Kraftgefühl und dem unbezähmbaren Schaffensdrange des dreißigjährigen Mozart. Solcher Begabung in solchem Alter konnte die Wahl des Stoffs nebensächlich erscheinen. Ihr genügte jeder Gegenstand, der den Geist und durch seine Vermittlung die musikalische Ein¬ bildungskraft anregte. War er nicht dankbar für eine musikalische Behandlung, um so verlockender mochte einer grenzenlosen Genialität die Aufgabe erscheinen, die Gesetze ihrer Kunst dem. Widerstrebenden aufzuerlegen. Es ist bekannt, wie verändert Beaumarchais Gestalten aus dem Stahlbade der Mozartschen Kom¬ position hervorgegangen sind. Von Lyrik, dem, wie wir gesehen haben, un¬ entbehrlichen Element der Oper, ist in dein Lustspiel des Franzosen keine Spur zu finden. In Mozarts Oper füllt der Wiederschein des lyrisch ernsten Cha¬ rakters der Gräfin nicht auf die Gestalten Susannens und Cherubins, sondern in hervortretenden Zügen auch auf die Figaros und des Grafen. Ja die Hoheit dieser Gestalt bannt in dem erhebenden Schlußchor selbst die komischen Figuren in ihren Kreis und wird so thatsächlich zum Mittelpunkt und Schwer¬ punkt des Stückes, ohne den seine ausgelassene Handlung in ein unkünstlerisches Chaos auseinanderfnllen würde. Und wodurch ist diese Überlegenheit der Oper über das Lustspiel „Figaros Hochzeit" erreicht? Da Poutes Textbuch mit seinen mittelmüßigen Reimen steht ganz gewiß nicht über, sondern unter Beau¬ marchais Prosa. Wenn also trotzdem die Charaktere der Oper vertieft und plastischer geworden sind, so können das einzig und allein die Tonweisen be¬ wirkt haben, die sich wie Schwingen an die Reden der handelnden Personen heften und sie in die Region einer höhern Schönheit entführen. Wie sollen wir uns aber diesen Vorgang denken? Muß nicht das höchste Maß, das der Komponist in der Kunst der Charakterisirung erreichen kaun, in der getreuen Auffassung und musikalischen Wiedergabe der von dem Ver¬ fasser des Textes gezeichneten Charakterbilder gesucht werden? Wie vertrüge sich denn damit die souverüne Umgestaltung dieser Bilder, die ich Mozarts Melodien zuschreibe? Die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs liegt in der gänzlichen Ver¬ kehrtheit der in dem vorstehenden EinWurfe zum Wort gelangenden Meinung. Je sklavischer der Komponist den Einzelheiten seines Textes nachhängt, je ge- bundner er folglich arbeitet, um so spärlicher wird ihm der Quell der musi¬ kalischen Erfindung fließen. Je mehr er dagegen die Textdichtung als Ganzes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/343>, abgerufen am 28.06.2024.