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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Das Journal von Tiefurt

in der sie ausgesprochen sind, bestehe eine "ganz eigenartige Harmonie"; das
seien keine umgeformten Gedanken, sondern solche, die ganz, wie sie sind, "konzi-
pirt" sein müßten, und da der Aussatz seinem Inhalt nach eine Vorstufe zu
Goethes Entwicklung bedeute, könne Tobler keine andre Rolle dabei gespielt
haben, als die eines Berichterstatters, der sich möglichst genau an den Wort¬
laut des gehörten gehalten habe. Aber läßt sich diese Behauptung Steiners
mit der Ausdrucksweise des Fragments vereinigen? Es beginnt mit den Worten:
"Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen -- unvermögend, aus
ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hinein zu kommen." Dann
werden die Sätze immer schärfer: "Sie schafft ewig neue Gestalten; was da
ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder -- Alles ist neu und doch
immer das Alte." So geht es drei Seiten lang weiter, in knappen, kurz ge-
bundnen Sätzen, bis zum Schluß: "Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich
auch hinausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie
wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist
und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist
ihr Verdienst." Ist das der Goethe von 1781?

Früher als Goethe, hatte Wieland seinen ersten Beitrag geliefert, eine
Besprechung des von Bruder Lustig (dem Kcunmerherrn von Seckendorff) ge¬
dichteten Schattenspiels Minervas Geburt, das zur Feier von Goethes Ge¬
burtstag am 28. August 1781 abends "im xstit Ooli8ö6" in Tiefurt oder, wie
Wieland sagt, ,,im neuerbauten T - . dischen Hof- und Wald-Theater" aufgeführt
wurde. Den ganzen Wieland verrät die Klage über den Anzug der Venus,
"welcher dem Usg-liAu einer Wäscherin oder Gras-Nymphe ähnlicher sah als
dem einzigen Putz, der sich für die Göttin der Schönheit ziemt." Er wünscht,
"daß bey etwa künftigen dergleichen Vorstellungen das voeoiuin oder Ooswm
der Vonus, welche außer ihrem Gürtel mit keinem andern fremden Schmuck
beladen seyn darf, besser beobachtet werden mochte. An Schönen, welche zu
dieser Rolle tauglich sind, kan es an einem der Schönheit des Frauenzimmers
wegen so berühmten Ort nicht fehlen; und wollte ich allenfalls (jedoch andere
an ihren Ansprüchen und allenfallßigem nähern Recht ohnbcschadet) die wohl¬
bekannte Jungfer 15. ^. welche als ^rtgwisiii bereits viel Eindruck auf das
?ub1ivnin gemacht hat, unmaßgeblich dazu vorgeschlagen haben." Das
Schattenspiel selbst muß drollig genug gewesen sein, es hat auch deu Herzog
Karl August zu einer Besprechung begeistert, worin er Goethe "für einen
unserer besten und gewiß mit Recht für den weisesten Schriftsteller" erklärt,
zugleich aber mit witzigen Worten auf den Faust anspielt, "ein Stück von
einem Stücke, welches das Publieum immer nur als Stück zu behalten leider
befürchtet." Von Wieland stammen ferner noch die Beantwortung einer Preis¬
frage, die schon im ersten Stücke des Journals gestellt worden war: "Wie ist eine
unoecupirte Gesellschaft für die Langeweile zu bewahren?" und ein "Erster Ver-


Das Journal von Tiefurt

in der sie ausgesprochen sind, bestehe eine „ganz eigenartige Harmonie"; das
seien keine umgeformten Gedanken, sondern solche, die ganz, wie sie sind, „konzi-
pirt" sein müßten, und da der Aussatz seinem Inhalt nach eine Vorstufe zu
Goethes Entwicklung bedeute, könne Tobler keine andre Rolle dabei gespielt
haben, als die eines Berichterstatters, der sich möglichst genau an den Wort¬
laut des gehörten gehalten habe. Aber läßt sich diese Behauptung Steiners
mit der Ausdrucksweise des Fragments vereinigen? Es beginnt mit den Worten:
„Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen — unvermögend, aus
ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie hinein zu kommen." Dann
werden die Sätze immer schärfer: „Sie schafft ewig neue Gestalten; was da
ist, war noch nie, was war, kommt nicht wieder — Alles ist neu und doch
immer das Alte." So geht es drei Seiten lang weiter, in knappen, kurz ge-
bundnen Sätzen, bis zum Schluß: „Sie hat mich hereingestellt, sie wird mich
auch hinausführen. Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. Sie
wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht von ihr. Nein, was wahr ist
und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist
ihr Verdienst." Ist das der Goethe von 1781?

Früher als Goethe, hatte Wieland seinen ersten Beitrag geliefert, eine
Besprechung des von Bruder Lustig (dem Kcunmerherrn von Seckendorff) ge¬
dichteten Schattenspiels Minervas Geburt, das zur Feier von Goethes Ge¬
burtstag am 28. August 1781 abends „im xstit Ooli8ö6" in Tiefurt oder, wie
Wieland sagt, ,,im neuerbauten T - . dischen Hof- und Wald-Theater" aufgeführt
wurde. Den ganzen Wieland verrät die Klage über den Anzug der Venus,
„welcher dem Usg-liAu einer Wäscherin oder Gras-Nymphe ähnlicher sah als
dem einzigen Putz, der sich für die Göttin der Schönheit ziemt." Er wünscht,
„daß bey etwa künftigen dergleichen Vorstellungen das voeoiuin oder Ooswm
der Vonus, welche außer ihrem Gürtel mit keinem andern fremden Schmuck
beladen seyn darf, besser beobachtet werden mochte. An Schönen, welche zu
dieser Rolle tauglich sind, kan es an einem der Schönheit des Frauenzimmers
wegen so berühmten Ort nicht fehlen; und wollte ich allenfalls (jedoch andere
an ihren Ansprüchen und allenfallßigem nähern Recht ohnbcschadet) die wohl¬
bekannte Jungfer 15. ^. welche als ^rtgwisiii bereits viel Eindruck auf das
?ub1ivnin gemacht hat, unmaßgeblich dazu vorgeschlagen haben." Das
Schattenspiel selbst muß drollig genug gewesen sein, es hat auch deu Herzog
Karl August zu einer Besprechung begeistert, worin er Goethe „für einen
unserer besten und gewiß mit Recht für den weisesten Schriftsteller" erklärt,
zugleich aber mit witzigen Worten auf den Faust anspielt, „ein Stück von
einem Stücke, welches das Publieum immer nur als Stück zu behalten leider
befürchtet." Von Wieland stammen ferner noch die Beantwortung einer Preis¬
frage, die schon im ersten Stücke des Journals gestellt worden war: „Wie ist eine
unoecupirte Gesellschaft für die Langeweile zu bewahren?" und ein „Erster Ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/334>, abgerufen am 28.09.2024.