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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Das Journal von Tiefurt

zurückkehrt. Das Lied ist nach einem Briefe der Göchhcmsen "aus dem Munde
einer sehr alten Frau in Eltern, bei Belvedere, nachgeschrieben worden." Neben
den edelsten Gaben der Goethischen Muse steht freilich auch geringeres. Der
"Beitrag zur Kalenderkunde" -- "Invooavit wir rufen laut" -- ist eine nied¬
liche Spielerei, doch haben Goethes Worte an Frau von Stein: "Beikommendes
bitte als ein Geheimnis zu verwahren, es ist ein lächerliches Werk, und besser
ausgeführt als gedacht" wohl keine Beziehung darauf; man könnte eher davon
sagen, es sei besser gedacht als ausgeführt. Auch das "Todeslied eines Ge¬
fangenen" und das "Liebeslied eines amerikanischen Wilden" sind kleine Spie¬
lereien, Übersetzungen ans dem Französischen des Montaigne oder vielmehr
Nachdichtungen nach der deutschen Übersetzung des Montaigne von Joh. Dem.
Titius, wobei sich Goethe aufs engste an sein Vorbild angeschlossen hat; die
Anfangsworte des zweiten Gedichts -- Schlange, warte, warte, Schlange --
stehen wörtlich so bei Titius. Witzig ist das Epigramm "Entschuldigung,"
von dem die Göchhausen am 10. November 1783 an Knebel schreibt: "Gestern
Abend war Goethe bei mir und kam mit folgendem von mot in meiner Stube
nieder:


Entschuldigung,
Du verklagest das Weib, sie schwanke von einem zum andern;
Table sie nicht, sie sucht einen beständigen Mann."

Dagegen ist das auf Klopstock gerichtete Epigramm "Er und sein Name,"
das nun also doch Goethe zugeschrieben werden muß, matt im Inhalt und in
der Form; der erste Hexameter -- "Bei allen Musen und Grazien sagt an
mir, ihr Deutschen!" -- ist nicht der einzige darin, der dem Metriker eine
harte Nuß zu knacken giebt. Ein Mißgriff, nur durch die Klemme der Zeiten
zu verstehen, ist endlich das einzige prosaische Stück, das Goethe geliefert hat:
"Der Hausball," geschrieben im engsten Anschluß an eine echte Wiener Posse,
deren Goethe selbst bald überdrüssig geworden zu sein scheint, denn mit der
ersten Fortsetzung bricht seine Arbeit ab.

Ein zweites Prosastück, das "Fragment" über die Natur, ist Goethe
wunderlicherweise schon von Knebel zugeschrieben worden. Die darin aus-
gesprochnen Gedanken könnten zwar von Goethe ausgegangen sein und sind
wahrscheinlich auch von ihm beeinflußt worden, aber die Ausdrucksweise ist
alles andre als Goethisch. Trotzdem hat auch noch Burkhardt das Fragment
für Goethe in Anspruch genommen. Erst Rudolf Steiner weist in einem An¬
hange zum Tiefurter Journal nach, daß der Aufsatz uach Goethes eignem
Zeugnis nicht von ihm herrührt, Frau von Stein nennt den Schweizer Tobler,
der im Sommer 1781 in Weimar war, als Verfasser. Und doch möchte auch
Steiner noch möglichst viel für Goethe retten, er denkt sogar an ein unmittel¬
bares Diktat Goethes oder einen mehr oder weniger wörtlichen Bericht aus
dem Gedächtnis, denn zwischen den Gedanken des Aufsatzes und der Form,


Das Journal von Tiefurt

zurückkehrt. Das Lied ist nach einem Briefe der Göchhcmsen „aus dem Munde
einer sehr alten Frau in Eltern, bei Belvedere, nachgeschrieben worden." Neben
den edelsten Gaben der Goethischen Muse steht freilich auch geringeres. Der
„Beitrag zur Kalenderkunde" — „Invooavit wir rufen laut" — ist eine nied¬
liche Spielerei, doch haben Goethes Worte an Frau von Stein: „Beikommendes
bitte als ein Geheimnis zu verwahren, es ist ein lächerliches Werk, und besser
ausgeführt als gedacht" wohl keine Beziehung darauf; man könnte eher davon
sagen, es sei besser gedacht als ausgeführt. Auch das „Todeslied eines Ge¬
fangenen" und das „Liebeslied eines amerikanischen Wilden" sind kleine Spie¬
lereien, Übersetzungen ans dem Französischen des Montaigne oder vielmehr
Nachdichtungen nach der deutschen Übersetzung des Montaigne von Joh. Dem.
Titius, wobei sich Goethe aufs engste an sein Vorbild angeschlossen hat; die
Anfangsworte des zweiten Gedichts — Schlange, warte, warte, Schlange —
stehen wörtlich so bei Titius. Witzig ist das Epigramm „Entschuldigung,"
von dem die Göchhausen am 10. November 1783 an Knebel schreibt: „Gestern
Abend war Goethe bei mir und kam mit folgendem von mot in meiner Stube
nieder:


Entschuldigung,
Du verklagest das Weib, sie schwanke von einem zum andern;
Table sie nicht, sie sucht einen beständigen Mann."

Dagegen ist das auf Klopstock gerichtete Epigramm „Er und sein Name,"
das nun also doch Goethe zugeschrieben werden muß, matt im Inhalt und in
der Form; der erste Hexameter — „Bei allen Musen und Grazien sagt an
mir, ihr Deutschen!" — ist nicht der einzige darin, der dem Metriker eine
harte Nuß zu knacken giebt. Ein Mißgriff, nur durch die Klemme der Zeiten
zu verstehen, ist endlich das einzige prosaische Stück, das Goethe geliefert hat:
„Der Hausball," geschrieben im engsten Anschluß an eine echte Wiener Posse,
deren Goethe selbst bald überdrüssig geworden zu sein scheint, denn mit der
ersten Fortsetzung bricht seine Arbeit ab.

Ein zweites Prosastück, das „Fragment" über die Natur, ist Goethe
wunderlicherweise schon von Knebel zugeschrieben worden. Die darin aus-
gesprochnen Gedanken könnten zwar von Goethe ausgegangen sein und sind
wahrscheinlich auch von ihm beeinflußt worden, aber die Ausdrucksweise ist
alles andre als Goethisch. Trotzdem hat auch noch Burkhardt das Fragment
für Goethe in Anspruch genommen. Erst Rudolf Steiner weist in einem An¬
hange zum Tiefurter Journal nach, daß der Aufsatz uach Goethes eignem
Zeugnis nicht von ihm herrührt, Frau von Stein nennt den Schweizer Tobler,
der im Sommer 1781 in Weimar war, als Verfasser. Und doch möchte auch
Steiner noch möglichst viel für Goethe retten, er denkt sogar an ein unmittel¬
bares Diktat Goethes oder einen mehr oder weniger wörtlichen Bericht aus
dem Gedächtnis, denn zwischen den Gedanken des Aufsatzes und der Form,


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[0333] Das Journal von Tiefurt zurückkehrt. Das Lied ist nach einem Briefe der Göchhcmsen „aus dem Munde einer sehr alten Frau in Eltern, bei Belvedere, nachgeschrieben worden." Neben den edelsten Gaben der Goethischen Muse steht freilich auch geringeres. Der „Beitrag zur Kalenderkunde" — „Invooavit wir rufen laut" — ist eine nied¬ liche Spielerei, doch haben Goethes Worte an Frau von Stein: „Beikommendes bitte als ein Geheimnis zu verwahren, es ist ein lächerliches Werk, und besser ausgeführt als gedacht" wohl keine Beziehung darauf; man könnte eher davon sagen, es sei besser gedacht als ausgeführt. Auch das „Todeslied eines Ge¬ fangenen" und das „Liebeslied eines amerikanischen Wilden" sind kleine Spie¬ lereien, Übersetzungen ans dem Französischen des Montaigne oder vielmehr Nachdichtungen nach der deutschen Übersetzung des Montaigne von Joh. Dem. Titius, wobei sich Goethe aufs engste an sein Vorbild angeschlossen hat; die Anfangsworte des zweiten Gedichts — Schlange, warte, warte, Schlange — stehen wörtlich so bei Titius. Witzig ist das Epigramm „Entschuldigung," von dem die Göchhausen am 10. November 1783 an Knebel schreibt: „Gestern Abend war Goethe bei mir und kam mit folgendem von mot in meiner Stube nieder: Entschuldigung, Du verklagest das Weib, sie schwanke von einem zum andern; Table sie nicht, sie sucht einen beständigen Mann." Dagegen ist das auf Klopstock gerichtete Epigramm „Er und sein Name," das nun also doch Goethe zugeschrieben werden muß, matt im Inhalt und in der Form; der erste Hexameter — „Bei allen Musen und Grazien sagt an mir, ihr Deutschen!" — ist nicht der einzige darin, der dem Metriker eine harte Nuß zu knacken giebt. Ein Mißgriff, nur durch die Klemme der Zeiten zu verstehen, ist endlich das einzige prosaische Stück, das Goethe geliefert hat: „Der Hausball," geschrieben im engsten Anschluß an eine echte Wiener Posse, deren Goethe selbst bald überdrüssig geworden zu sein scheint, denn mit der ersten Fortsetzung bricht seine Arbeit ab. Ein zweites Prosastück, das „Fragment" über die Natur, ist Goethe wunderlicherweise schon von Knebel zugeschrieben worden. Die darin aus- gesprochnen Gedanken könnten zwar von Goethe ausgegangen sein und sind wahrscheinlich auch von ihm beeinflußt worden, aber die Ausdrucksweise ist alles andre als Goethisch. Trotzdem hat auch noch Burkhardt das Fragment für Goethe in Anspruch genommen. Erst Rudolf Steiner weist in einem An¬ hange zum Tiefurter Journal nach, daß der Aufsatz uach Goethes eignem Zeugnis nicht von ihm herrührt, Frau von Stein nennt den Schweizer Tobler, der im Sommer 1781 in Weimar war, als Verfasser. Und doch möchte auch Steiner noch möglichst viel für Goethe retten, er denkt sogar an ein unmittel¬ bares Diktat Goethes oder einen mehr oder weniger wörtlichen Bericht aus dem Gedächtnis, denn zwischen den Gedanken des Aufsatzes und der Form,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/333>, abgerufen am 28.06.2024.