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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild nach hundert Jahren

gesetzt. Nun entspringt aber das Dogma nicht der Liebe, sondern dem Glanben,
nicht dem Bedürfnis des Herzens, sondern wiederum dem Verstände und dem
Willen. Mag sich deshalb immerhin in Bach wie in manchem guten Christen
mit der Betonung des Bekenntnisses eine große Wärme der religiösen Empfin¬
dung vertragen haben, so geschieht doch dem Meister der Fuge sicher kein Un¬
recht, wenn mau deu Schwerpunkt seines Schaffens in die Ausbildung der
musikalischen Formen verlegt. Handels Tonweisen endlich rufen in dem Hörer
Empfindungen wach, die am besten dem Eindrucke ragender Säulenhallen ver¬
glichen werden. Um das feste Gefüge der großen und einfachen Linien rankt
sich ein prächtiger Schmuck von Arabesken. Die nahe Verwandtschaft der
Musik mit der Baukunst tritt in den Werken dieses Meisters besonders deut¬
lich in die Erscheinung. Wer aber solchen architektonischen Stil begreift und
bewundert, der wird auch uicht verkennen, daß Händels Stärke in dieser
stilistischen Eigentümlichkeit liegt, in der überlegnen Dispouirnug über die klin¬
genden Massen, aus deuen er seine Werke anstürmt.

Es ist schwer, sich vorzustellen, wohin eine Fortentwicklung der musika¬
lischen Form über diese Männer hinaus hätte führen sollen. Wenn der Gipfel
der Tonkunst nicht schon erreicht war, konnte ihre Weiterbildung nur in einer
andern Richtung liegen: ans der Seite der Empfindung. Die Empfindung
Bachs war vielleicht uicht der Vertiefung, aber der Erweiterung fähig; und
sicherlich hatten Glucks und Händels Kompositionen die ganze Innigkeit und
Fülle des deutschen Gemüts uoch nicht erschlossen Die Werke dieser Männer
sind kunstvoll, prächtig, heroisch; eine erhabne Strenge waltet in ihnen; aber
unverkennbar sind sie einer Kunst entsprossen, die noch als Zunft betrieben
wurde. Der unergründlich tiefe und unvergleichlich frische Quell des Volks-
tums sprudelt uicht in ihnen. Kein Meister durfte sich vermessen, es jenen
dreien noch in irgend einem Stücke zuvorzuthun. Nur ein Kind vermochte
ihnen die Palme zu entwinden.

So betrachten wir Mozart.

Von seinen großen Vorgängern unterscheidet ihn nach unserm Gefühl am
deutlichsten eine größere Freiheit. Nur ein stumpfes Ohr kann das Gemessene
und Gebundne in Bachs und Händels Rhythmen überhören. Von Händel
darf man sagen: der Taktstock des Dirigenten ist in seiner Hand zum Kom-
mandostab des Heerführers geworden; und Meister Bachs Wvhltemperirtes
Klavier ist mir das getreue Abbild des wohltemperirten Mannes. Auch wo
sie lyrisch werden, schreiten beide aus dem festen Umkreise ihres Wesens uicht
heraus. Bei dem einen tritt dann an die Stelle des Marschtakts der zierliche
Schritt des Menuetts; den andern verläßt uoch im Liebesliede nicht die un¬
verwüstliche Ehrbarkeit des deutschen Hausvaters. Wir befinden uns bei
diesen alten Herren in einer überaus ehrwürdigen und liebenswürdigen Gesell¬
schaft. Wir können ihnen immer von neuem mit Bewunderung und mit


Mozarts Bild nach hundert Jahren

gesetzt. Nun entspringt aber das Dogma nicht der Liebe, sondern dem Glanben,
nicht dem Bedürfnis des Herzens, sondern wiederum dem Verstände und dem
Willen. Mag sich deshalb immerhin in Bach wie in manchem guten Christen
mit der Betonung des Bekenntnisses eine große Wärme der religiösen Empfin¬
dung vertragen haben, so geschieht doch dem Meister der Fuge sicher kein Un¬
recht, wenn mau deu Schwerpunkt seines Schaffens in die Ausbildung der
musikalischen Formen verlegt. Handels Tonweisen endlich rufen in dem Hörer
Empfindungen wach, die am besten dem Eindrucke ragender Säulenhallen ver¬
glichen werden. Um das feste Gefüge der großen und einfachen Linien rankt
sich ein prächtiger Schmuck von Arabesken. Die nahe Verwandtschaft der
Musik mit der Baukunst tritt in den Werken dieses Meisters besonders deut¬
lich in die Erscheinung. Wer aber solchen architektonischen Stil begreift und
bewundert, der wird auch uicht verkennen, daß Händels Stärke in dieser
stilistischen Eigentümlichkeit liegt, in der überlegnen Dispouirnug über die klin¬
genden Massen, aus deuen er seine Werke anstürmt.

Es ist schwer, sich vorzustellen, wohin eine Fortentwicklung der musika¬
lischen Form über diese Männer hinaus hätte führen sollen. Wenn der Gipfel
der Tonkunst nicht schon erreicht war, konnte ihre Weiterbildung nur in einer
andern Richtung liegen: ans der Seite der Empfindung. Die Empfindung
Bachs war vielleicht uicht der Vertiefung, aber der Erweiterung fähig; und
sicherlich hatten Glucks und Händels Kompositionen die ganze Innigkeit und
Fülle des deutschen Gemüts uoch nicht erschlossen Die Werke dieser Männer
sind kunstvoll, prächtig, heroisch; eine erhabne Strenge waltet in ihnen; aber
unverkennbar sind sie einer Kunst entsprossen, die noch als Zunft betrieben
wurde. Der unergründlich tiefe und unvergleichlich frische Quell des Volks-
tums sprudelt uicht in ihnen. Kein Meister durfte sich vermessen, es jenen
dreien noch in irgend einem Stücke zuvorzuthun. Nur ein Kind vermochte
ihnen die Palme zu entwinden.

So betrachten wir Mozart.

Von seinen großen Vorgängern unterscheidet ihn nach unserm Gefühl am
deutlichsten eine größere Freiheit. Nur ein stumpfes Ohr kann das Gemessene
und Gebundne in Bachs und Händels Rhythmen überhören. Von Händel
darf man sagen: der Taktstock des Dirigenten ist in seiner Hand zum Kom-
mandostab des Heerführers geworden; und Meister Bachs Wvhltemperirtes
Klavier ist mir das getreue Abbild des wohltemperirten Mannes. Auch wo
sie lyrisch werden, schreiten beide aus dem festen Umkreise ihres Wesens uicht
heraus. Bei dem einen tritt dann an die Stelle des Marschtakts der zierliche
Schritt des Menuetts; den andern verläßt uoch im Liebesliede nicht die un¬
verwüstliche Ehrbarkeit des deutschen Hausvaters. Wir befinden uns bei
diesen alten Herren in einer überaus ehrwürdigen und liebenswürdigen Gesell¬
schaft. Wir können ihnen immer von neuem mit Bewunderung und mit


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[0304] Mozarts Bild nach hundert Jahren gesetzt. Nun entspringt aber das Dogma nicht der Liebe, sondern dem Glanben, nicht dem Bedürfnis des Herzens, sondern wiederum dem Verstände und dem Willen. Mag sich deshalb immerhin in Bach wie in manchem guten Christen mit der Betonung des Bekenntnisses eine große Wärme der religiösen Empfin¬ dung vertragen haben, so geschieht doch dem Meister der Fuge sicher kein Un¬ recht, wenn mau deu Schwerpunkt seines Schaffens in die Ausbildung der musikalischen Formen verlegt. Handels Tonweisen endlich rufen in dem Hörer Empfindungen wach, die am besten dem Eindrucke ragender Säulenhallen ver¬ glichen werden. Um das feste Gefüge der großen und einfachen Linien rankt sich ein prächtiger Schmuck von Arabesken. Die nahe Verwandtschaft der Musik mit der Baukunst tritt in den Werken dieses Meisters besonders deut¬ lich in die Erscheinung. Wer aber solchen architektonischen Stil begreift und bewundert, der wird auch uicht verkennen, daß Händels Stärke in dieser stilistischen Eigentümlichkeit liegt, in der überlegnen Dispouirnug über die klin¬ genden Massen, aus deuen er seine Werke anstürmt. Es ist schwer, sich vorzustellen, wohin eine Fortentwicklung der musika¬ lischen Form über diese Männer hinaus hätte führen sollen. Wenn der Gipfel der Tonkunst nicht schon erreicht war, konnte ihre Weiterbildung nur in einer andern Richtung liegen: ans der Seite der Empfindung. Die Empfindung Bachs war vielleicht uicht der Vertiefung, aber der Erweiterung fähig; und sicherlich hatten Glucks und Händels Kompositionen die ganze Innigkeit und Fülle des deutschen Gemüts uoch nicht erschlossen Die Werke dieser Männer sind kunstvoll, prächtig, heroisch; eine erhabne Strenge waltet in ihnen; aber unverkennbar sind sie einer Kunst entsprossen, die noch als Zunft betrieben wurde. Der unergründlich tiefe und unvergleichlich frische Quell des Volks- tums sprudelt uicht in ihnen. Kein Meister durfte sich vermessen, es jenen dreien noch in irgend einem Stücke zuvorzuthun. Nur ein Kind vermochte ihnen die Palme zu entwinden. So betrachten wir Mozart. Von seinen großen Vorgängern unterscheidet ihn nach unserm Gefühl am deutlichsten eine größere Freiheit. Nur ein stumpfes Ohr kann das Gemessene und Gebundne in Bachs und Händels Rhythmen überhören. Von Händel darf man sagen: der Taktstock des Dirigenten ist in seiner Hand zum Kom- mandostab des Heerführers geworden; und Meister Bachs Wvhltemperirtes Klavier ist mir das getreue Abbild des wohltemperirten Mannes. Auch wo sie lyrisch werden, schreiten beide aus dem festen Umkreise ihres Wesens uicht heraus. Bei dem einen tritt dann an die Stelle des Marschtakts der zierliche Schritt des Menuetts; den andern verläßt uoch im Liebesliede nicht die un¬ verwüstliche Ehrbarkeit des deutschen Hausvaters. Wir befinden uns bei diesen alten Herren in einer überaus ehrwürdigen und liebenswürdigen Gesell¬ schaft. Wir können ihnen immer von neuem mit Bewunderung und mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/304>, abgerufen am 28.09.2024.