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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild nach hundert Jahren

und dieser Nachweis ist darum nicht weniger unwiderleglich, weil er die
Böotier nicht in Athener umgewandelt hat. Scheint für sie doch auch die
große Entdeckung Lessiiigs verloren zu sein, daß nicht alle Künste dasselbe,
nnmlich alles darstellen solle", sondern daß jede Kunst ihr eignes, dnrch ihre
besonder" Darstellungsmittel vvrgezeichnetcs Gebiet hat, dessen Grenzen sie stets
nur zu ihrem Schaden überschreitet.

In den einfachen Tvnweisen der Hirten, der Landsknechte, der Spielleute,
auf die das Volkslied zurückführt, geschieht der ursprünglichste Ausbruch des
musikalischen Empfindens, ans dem sich die Musik, die wir kennen, entwickelt
hat. Ganz getrennt von dieser tiefgründigen Quelle nehmen wir el" andres
Rinnsal wahr, das wir bis in die frühesten Jahrhunderte der christlichen Kirche
hinauf verfolgen können: den anfangs einstimmigen, dann vielstimmigen Kirchen¬
gesang. Nicht dem individuellen Gemüt, sondern der starken Gesamtempfm-
dnug einer Gemeinschaft Ausdruck gebend, ist er zur Ausprägung und Fort¬
bildung fester musikalischer Forme" seinem Wesen nach gezwungen und befähigt.
So suche" sich seine Wasser ihren Weg schon zwischen Ufern von Granit,
während die Quelle" des Liedes noch im Walde des Volkstums zwischen dessen
Stämmen und Wurzeln bald hier bald dort hervvrsickern. Wir fühlen: eine
Tonkunst wird nnr dann, wird aber auch unmittelbar entstehn, wenn sich die
beiden Wasser zusammenfinden.

In dem .Kirchenliede des sechzehnten Jahrhunderts werden Nur die erste
Vereinigung erblicken dürfen. Aber noch Palcstrinas Musik "e""e" wir streng,
und die Tanzkompositionen seiner Zeitgenossen erscheinen "us steif und ge¬
fühllos. Drei große Name" bezeichnen die nächste Entwicklungsstufe der Ton¬
kunst; mit vollem Bewußtsein fügen wir hinzu: die Vorstufe ihrer Vollendung.
Der Kirchengesnng ist zu Händels Chören ausgereift; dein religiösen Einzel¬
empfinden löst Sebastian Bach die Zunge; die italienische Kastratenoper über¬
windet Gluck mit einer weihevollen Musik, der Begleiterin einer ernsthaften
Handlung.

Erinnern wir uns an dieser Stelle der beiden Elemente alles musika-
lische" Schaffens: Empfindung und Gestaltung, so liegt die Aniiahme nahe,
daß innerhalb jenes gleichzeitige" Dreigestir"s teils die Form und teils die
Empfindung vorgeherrscht habe. Statt dessen sinde" wir die Thatsache, daß
in den Werken aller drei Meister die Form überwiegt, und zwar so aus¬
gesprochen, daß es schwer ist, zu sagen, für welchen von ihnen das am meisten
gilt. Von Gluck, der zuerst seine Musik einer dramatische" Handlung anzu¬
passen strebte, ist es ni"le"este"d, daß i" seiner Anlage der formengewal-
tige Verstand das Gefühl überragt haben in"ß; den" nur einer solchen Be¬
gabung behagt und gelingt es, die Eingebungen der Phantasie eine", gegebnen
Gedankengange unterzuordnen. Den großen Kantor der Leipziger Thomas¬
kirche charalterisirt das Wort, er habe das protestantische Dogma in Musik


Mozarts Bild nach hundert Jahren

und dieser Nachweis ist darum nicht weniger unwiderleglich, weil er die
Böotier nicht in Athener umgewandelt hat. Scheint für sie doch auch die
große Entdeckung Lessiiigs verloren zu sein, daß nicht alle Künste dasselbe,
nnmlich alles darstellen solle», sondern daß jede Kunst ihr eignes, dnrch ihre
besonder» Darstellungsmittel vvrgezeichnetcs Gebiet hat, dessen Grenzen sie stets
nur zu ihrem Schaden überschreitet.

In den einfachen Tvnweisen der Hirten, der Landsknechte, der Spielleute,
auf die das Volkslied zurückführt, geschieht der ursprünglichste Ausbruch des
musikalischen Empfindens, ans dem sich die Musik, die wir kennen, entwickelt
hat. Ganz getrennt von dieser tiefgründigen Quelle nehmen wir el» andres
Rinnsal wahr, das wir bis in die frühesten Jahrhunderte der christlichen Kirche
hinauf verfolgen können: den anfangs einstimmigen, dann vielstimmigen Kirchen¬
gesang. Nicht dem individuellen Gemüt, sondern der starken Gesamtempfm-
dnug einer Gemeinschaft Ausdruck gebend, ist er zur Ausprägung und Fort¬
bildung fester musikalischer Forme» seinem Wesen nach gezwungen und befähigt.
So suche» sich seine Wasser ihren Weg schon zwischen Ufern von Granit,
während die Quelle» des Liedes noch im Walde des Volkstums zwischen dessen
Stämmen und Wurzeln bald hier bald dort hervvrsickern. Wir fühlen: eine
Tonkunst wird nnr dann, wird aber auch unmittelbar entstehn, wenn sich die
beiden Wasser zusammenfinden.

In dem .Kirchenliede des sechzehnten Jahrhunderts werden Nur die erste
Vereinigung erblicken dürfen. Aber noch Palcstrinas Musik »e»»e» wir streng,
und die Tanzkompositionen seiner Zeitgenossen erscheinen »us steif und ge¬
fühllos. Drei große Name» bezeichnen die nächste Entwicklungsstufe der Ton¬
kunst; mit vollem Bewußtsein fügen wir hinzu: die Vorstufe ihrer Vollendung.
Der Kirchengesnng ist zu Händels Chören ausgereift; dein religiösen Einzel¬
empfinden löst Sebastian Bach die Zunge; die italienische Kastratenoper über¬
windet Gluck mit einer weihevollen Musik, der Begleiterin einer ernsthaften
Handlung.

Erinnern wir uns an dieser Stelle der beiden Elemente alles musika-
lische» Schaffens: Empfindung und Gestaltung, so liegt die Aniiahme nahe,
daß innerhalb jenes gleichzeitige» Dreigestir»s teils die Form und teils die
Empfindung vorgeherrscht habe. Statt dessen sinde» wir die Thatsache, daß
in den Werken aller drei Meister die Form überwiegt, und zwar so aus¬
gesprochen, daß es schwer ist, zu sagen, für welchen von ihnen das am meisten
gilt. Von Gluck, der zuerst seine Musik einer dramatische» Handlung anzu¬
passen strebte, ist es ni»le»este»d, daß i» seiner Anlage der formengewal-
tige Verstand das Gefühl überragt haben in»ß; den» nur einer solchen Be¬
gabung behagt und gelingt es, die Eingebungen der Phantasie eine», gegebnen
Gedankengange unterzuordnen. Den großen Kantor der Leipziger Thomas¬
kirche charalterisirt das Wort, er habe das protestantische Dogma in Musik


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[0303] Mozarts Bild nach hundert Jahren und dieser Nachweis ist darum nicht weniger unwiderleglich, weil er die Böotier nicht in Athener umgewandelt hat. Scheint für sie doch auch die große Entdeckung Lessiiigs verloren zu sein, daß nicht alle Künste dasselbe, nnmlich alles darstellen solle», sondern daß jede Kunst ihr eignes, dnrch ihre besonder» Darstellungsmittel vvrgezeichnetcs Gebiet hat, dessen Grenzen sie stets nur zu ihrem Schaden überschreitet. In den einfachen Tvnweisen der Hirten, der Landsknechte, der Spielleute, auf die das Volkslied zurückführt, geschieht der ursprünglichste Ausbruch des musikalischen Empfindens, ans dem sich die Musik, die wir kennen, entwickelt hat. Ganz getrennt von dieser tiefgründigen Quelle nehmen wir el» andres Rinnsal wahr, das wir bis in die frühesten Jahrhunderte der christlichen Kirche hinauf verfolgen können: den anfangs einstimmigen, dann vielstimmigen Kirchen¬ gesang. Nicht dem individuellen Gemüt, sondern der starken Gesamtempfm- dnug einer Gemeinschaft Ausdruck gebend, ist er zur Ausprägung und Fort¬ bildung fester musikalischer Forme» seinem Wesen nach gezwungen und befähigt. So suche» sich seine Wasser ihren Weg schon zwischen Ufern von Granit, während die Quelle» des Liedes noch im Walde des Volkstums zwischen dessen Stämmen und Wurzeln bald hier bald dort hervvrsickern. Wir fühlen: eine Tonkunst wird nnr dann, wird aber auch unmittelbar entstehn, wenn sich die beiden Wasser zusammenfinden. In dem .Kirchenliede des sechzehnten Jahrhunderts werden Nur die erste Vereinigung erblicken dürfen. Aber noch Palcstrinas Musik »e»»e» wir streng, und die Tanzkompositionen seiner Zeitgenossen erscheinen »us steif und ge¬ fühllos. Drei große Name» bezeichnen die nächste Entwicklungsstufe der Ton¬ kunst; mit vollem Bewußtsein fügen wir hinzu: die Vorstufe ihrer Vollendung. Der Kirchengesnng ist zu Händels Chören ausgereift; dein religiösen Einzel¬ empfinden löst Sebastian Bach die Zunge; die italienische Kastratenoper über¬ windet Gluck mit einer weihevollen Musik, der Begleiterin einer ernsthaften Handlung. Erinnern wir uns an dieser Stelle der beiden Elemente alles musika- lische» Schaffens: Empfindung und Gestaltung, so liegt die Aniiahme nahe, daß innerhalb jenes gleichzeitige» Dreigestir»s teils die Form und teils die Empfindung vorgeherrscht habe. Statt dessen sinde» wir die Thatsache, daß in den Werken aller drei Meister die Form überwiegt, und zwar so aus¬ gesprochen, daß es schwer ist, zu sagen, für welchen von ihnen das am meisten gilt. Von Gluck, der zuerst seine Musik einer dramatische» Handlung anzu¬ passen strebte, ist es ni»le»este»d, daß i» seiner Anlage der formengewal- tige Verstand das Gefühl überragt haben in»ß; den» nur einer solchen Be¬ gabung behagt und gelingt es, die Eingebungen der Phantasie eine», gegebnen Gedankengange unterzuordnen. Den großen Kantor der Leipziger Thomas¬ kirche charalterisirt das Wort, er habe das protestantische Dogma in Musik

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/303>, abgerufen am 20.09.2024.