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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Mozarts Bild nach hundert Jahren

steht die Schöpfungen der neuen Männer, wie er nie zuvor den Tempel der
Kunst gefüllt hat. Oder sind es etwa nicht mehr die Wände des alten Tem¬
pels? Ist es nur eine freche Nachbildung von bemalten Holzwänden, in die
wir uns verirrt haben? Auch die Züge der Priester erscheinen durchaus ver¬
ändert. Sattes Behagen oder Hunger nach Gold spricht aus ihren Mienen.
Und das Bild der Göttin? Es zeigt noch ihre Züge; aber wir brauchen nur
hinauzutreten, um alsbald die dreiste Fälschung zu erkennen und uns mit Zorn
und Trauer abzuwenden.

Die Geschichte der Musik beginnt in dem christlichen Zeitalter. Das
Altertum kann musikalische Kunstwerke nicht hervorgebracht haben, denn nichts
von solchen ist auf uns gekommen, während uns von allen Kunstzweigen, die
von der vorchristlichen Menschheit gepflegt wurden, die Früchte wenigstens in
Bruchstücken überliefert sind. Zwar ist uns wohl bekannt, daß anch im Alter¬
tum Musik gemacht worden ist. Seine Schriftsteller erzählen uns von den
Gesängen der Krieger, von musikalischen Aufführungen, die ihre Gottesdienste,
ihre Schauspiele, ihre Gastmähler und Tänze begleiteten. Musikalische .Kunst¬
werke werden aber nicht in Erzählungen von Schriftstellern, sondern in Ton¬
zeichen, Noten überliefert. Hätte die Musik der Alten Erzeugnisse von selb¬
ständigem Wert hervorgebracht, so würden sie diese aufgezeichnet haben; nud
diese Aufzeichnungen würden ebenso vollständig oder unvollständig erhalten
worden sein, wie alle übrigen Schöpfungen des antiken Geistes. Aus dem
Maugel an nennenswerten Aufzeichnungen von Toustücken des Altertums also
schließen wir getrost, daß seine Tonstücke einen eigentlichen Kunstwerk nicht
gehabt haben. Und wie sollten wir uns darüber wundern, nachdem wir soeben
gesehen haben, daß die Musik nicht als selbständige Kunst von den Alten aus¬
geübt wurde? Sie kannte" die Musik; aber sie kannten sie nicht als eine selb¬
ständige Kunst, in gleichem Maße wie ihre Schwestern befähigt und berufen,
die Schönheit darzustelle". Sie kannten von ihrer Wirkung uur den elemen¬
taren Bestandteil des Nervenreizes, den Bestandteil also, der in dem Eindruck
des wirklichen Kunstwerkes nicht mehr unterschieden wird, weil die gleichzeitig
leidende und thätige, sinnliche und geistige Aneignung des Tonbildes den Nerven¬
reiz in sich aufgenommen und dadurch überwunden hat. Mit dein Freibriefe
des Kindes, dem das Perlenhalsband der Mutter ein willkommner Schmuck
für seiue Puppen ist, benutzten deshalb die Alten die Musik zur Förderung
nichtmusikalischer Zwecke: als gvttesdienstliches und militärisches Beiwerk, als
gefüllige Zuthat bei festlichen Veranstaltungen, durchgängig also zur Erzeugung
oder Steigerung gewisser Gemütsverfassungen -- eine Absicht, in der die Wehr¬
lose ja auch heute noch so oft mißbraucht wird. Wie wenig solche möglichen
Nebendieuste der Tonkunst mit ihrem Wesen zu thun haben, und wie wenig
sie dieses ihres Wesens würdig sind, hat allen modernen Böotiern zum Trotze
Eduard Hanslick mit feiner Empfindung und klarem Verstände nachgewiesen;


Mozarts Bild nach hundert Jahren

steht die Schöpfungen der neuen Männer, wie er nie zuvor den Tempel der
Kunst gefüllt hat. Oder sind es etwa nicht mehr die Wände des alten Tem¬
pels? Ist es nur eine freche Nachbildung von bemalten Holzwänden, in die
wir uns verirrt haben? Auch die Züge der Priester erscheinen durchaus ver¬
ändert. Sattes Behagen oder Hunger nach Gold spricht aus ihren Mienen.
Und das Bild der Göttin? Es zeigt noch ihre Züge; aber wir brauchen nur
hinauzutreten, um alsbald die dreiste Fälschung zu erkennen und uns mit Zorn
und Trauer abzuwenden.

Die Geschichte der Musik beginnt in dem christlichen Zeitalter. Das
Altertum kann musikalische Kunstwerke nicht hervorgebracht haben, denn nichts
von solchen ist auf uns gekommen, während uns von allen Kunstzweigen, die
von der vorchristlichen Menschheit gepflegt wurden, die Früchte wenigstens in
Bruchstücken überliefert sind. Zwar ist uns wohl bekannt, daß anch im Alter¬
tum Musik gemacht worden ist. Seine Schriftsteller erzählen uns von den
Gesängen der Krieger, von musikalischen Aufführungen, die ihre Gottesdienste,
ihre Schauspiele, ihre Gastmähler und Tänze begleiteten. Musikalische .Kunst¬
werke werden aber nicht in Erzählungen von Schriftstellern, sondern in Ton¬
zeichen, Noten überliefert. Hätte die Musik der Alten Erzeugnisse von selb¬
ständigem Wert hervorgebracht, so würden sie diese aufgezeichnet haben; nud
diese Aufzeichnungen würden ebenso vollständig oder unvollständig erhalten
worden sein, wie alle übrigen Schöpfungen des antiken Geistes. Aus dem
Maugel an nennenswerten Aufzeichnungen von Toustücken des Altertums also
schließen wir getrost, daß seine Tonstücke einen eigentlichen Kunstwerk nicht
gehabt haben. Und wie sollten wir uns darüber wundern, nachdem wir soeben
gesehen haben, daß die Musik nicht als selbständige Kunst von den Alten aus¬
geübt wurde? Sie kannte» die Musik; aber sie kannten sie nicht als eine selb¬
ständige Kunst, in gleichem Maße wie ihre Schwestern befähigt und berufen,
die Schönheit darzustelle». Sie kannten von ihrer Wirkung uur den elemen¬
taren Bestandteil des Nervenreizes, den Bestandteil also, der in dem Eindruck
des wirklichen Kunstwerkes nicht mehr unterschieden wird, weil die gleichzeitig
leidende und thätige, sinnliche und geistige Aneignung des Tonbildes den Nerven¬
reiz in sich aufgenommen und dadurch überwunden hat. Mit dein Freibriefe
des Kindes, dem das Perlenhalsband der Mutter ein willkommner Schmuck
für seiue Puppen ist, benutzten deshalb die Alten die Musik zur Förderung
nichtmusikalischer Zwecke: als gvttesdienstliches und militärisches Beiwerk, als
gefüllige Zuthat bei festlichen Veranstaltungen, durchgängig also zur Erzeugung
oder Steigerung gewisser Gemütsverfassungen — eine Absicht, in der die Wehr¬
lose ja auch heute noch so oft mißbraucht wird. Wie wenig solche möglichen
Nebendieuste der Tonkunst mit ihrem Wesen zu thun haben, und wie wenig
sie dieses ihres Wesens würdig sind, hat allen modernen Böotiern zum Trotze
Eduard Hanslick mit feiner Empfindung und klarem Verstände nachgewiesen;


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[0302] Mozarts Bild nach hundert Jahren steht die Schöpfungen der neuen Männer, wie er nie zuvor den Tempel der Kunst gefüllt hat. Oder sind es etwa nicht mehr die Wände des alten Tem¬ pels? Ist es nur eine freche Nachbildung von bemalten Holzwänden, in die wir uns verirrt haben? Auch die Züge der Priester erscheinen durchaus ver¬ ändert. Sattes Behagen oder Hunger nach Gold spricht aus ihren Mienen. Und das Bild der Göttin? Es zeigt noch ihre Züge; aber wir brauchen nur hinauzutreten, um alsbald die dreiste Fälschung zu erkennen und uns mit Zorn und Trauer abzuwenden. Die Geschichte der Musik beginnt in dem christlichen Zeitalter. Das Altertum kann musikalische Kunstwerke nicht hervorgebracht haben, denn nichts von solchen ist auf uns gekommen, während uns von allen Kunstzweigen, die von der vorchristlichen Menschheit gepflegt wurden, die Früchte wenigstens in Bruchstücken überliefert sind. Zwar ist uns wohl bekannt, daß anch im Alter¬ tum Musik gemacht worden ist. Seine Schriftsteller erzählen uns von den Gesängen der Krieger, von musikalischen Aufführungen, die ihre Gottesdienste, ihre Schauspiele, ihre Gastmähler und Tänze begleiteten. Musikalische .Kunst¬ werke werden aber nicht in Erzählungen von Schriftstellern, sondern in Ton¬ zeichen, Noten überliefert. Hätte die Musik der Alten Erzeugnisse von selb¬ ständigem Wert hervorgebracht, so würden sie diese aufgezeichnet haben; nud diese Aufzeichnungen würden ebenso vollständig oder unvollständig erhalten worden sein, wie alle übrigen Schöpfungen des antiken Geistes. Aus dem Maugel an nennenswerten Aufzeichnungen von Toustücken des Altertums also schließen wir getrost, daß seine Tonstücke einen eigentlichen Kunstwerk nicht gehabt haben. Und wie sollten wir uns darüber wundern, nachdem wir soeben gesehen haben, daß die Musik nicht als selbständige Kunst von den Alten aus¬ geübt wurde? Sie kannte» die Musik; aber sie kannten sie nicht als eine selb¬ ständige Kunst, in gleichem Maße wie ihre Schwestern befähigt und berufen, die Schönheit darzustelle». Sie kannten von ihrer Wirkung uur den elemen¬ taren Bestandteil des Nervenreizes, den Bestandteil also, der in dem Eindruck des wirklichen Kunstwerkes nicht mehr unterschieden wird, weil die gleichzeitig leidende und thätige, sinnliche und geistige Aneignung des Tonbildes den Nerven¬ reiz in sich aufgenommen und dadurch überwunden hat. Mit dein Freibriefe des Kindes, dem das Perlenhalsband der Mutter ein willkommner Schmuck für seiue Puppen ist, benutzten deshalb die Alten die Musik zur Förderung nichtmusikalischer Zwecke: als gvttesdienstliches und militärisches Beiwerk, als gefüllige Zuthat bei festlichen Veranstaltungen, durchgängig also zur Erzeugung oder Steigerung gewisser Gemütsverfassungen — eine Absicht, in der die Wehr¬ lose ja auch heute noch so oft mißbraucht wird. Wie wenig solche möglichen Nebendieuste der Tonkunst mit ihrem Wesen zu thun haben, und wie wenig sie dieses ihres Wesens würdig sind, hat allen modernen Böotiern zum Trotze Eduard Hanslick mit feiner Empfindung und klarem Verstände nachgewiesen;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/302>, abgerufen am 28.09.2024.