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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

Krankheitsphänomen. Von da an trat er nur noch als erbitterter Vekämpfer
des frühern Freundes und Vertrauten auf.

Seit 1876 brach ein Kopfleiden bei ihm aus, so schmerzhaft und beharr¬
lich, daß er monatelang nicht zu arbeiten vermochte. Wiederholt war er mit
Blindheit bedroht; nur die peinlichste Vorsicht in seiner ganzen Lebenshaltung
rettete ihn davon. Er begann nun ein unstetes Wanderleben, das ihn im
Winter nach Italien und Südfrankreich, im Sommer in die Schweizer Berge
führte. Silz-Maria im Oberengadin war ihm besonders lieb, weil es ihm
Einsamkeit gab. Dort lebte er wie ein moderner Eremit allein mit seinen
Gedanken und der Natur; in Sinnen versunken pflegte er dort, vom Wasser
des Sees umrauscht, auf eiuer grünbewachsenen Landzunge zu liegeu und zu
sinnen. So tief aber war ihm das Octi xrolwiuui vulgu8 ins kranke Blut
gedrungen, das; er sich von dem Lieblingsplatze durch eine -- Bank, die er
einmal bei seiner Wiederkehr auf der geweihten Stelle fand, vertreiben ließ.
Der Ort, der durch seine geheimsten Gedanken und Gesichte geheiligt war,
sollte durch die Trivialitäten gewöhnlicher Sterblichen nicht entweiht werden.

1879 mußte er seine Professur aufgeben. Zuweilen schien es, als ob
die Muße die Kraft der aufsteigenden Krankheit brechen wolle. Um die Mitte
der achtziger Jahre (1885 bis 1888) schien seine Seele von dem furchtbaren
Druck freier zu sein. Aber während er ein Buch nach dein andern in die
Welt sandte und Pläne zu neuen entwarf, die nicht zur Ausführung kamen,
steigerte sich sein Tiefsinn mehr und mehr. Infolge der geistigen Anspannung
brach die furchtbare Krankheit mit erneuter Kraft aus, und völlige Geistes¬
umnachtung brachte den bedauernswerten Mann ins Irrenhaus (in Jena 1839).
Von da ging er nach Jahresfrist in eine Kaltwasserheilanstalt, um unter der
Pflege seiner betagten Mutter für seinen fiebernden Kopf Genesung zu suchen;
aber nach allem, was bekannt geworden ist, ist der mächtige Denkergeist zer¬
stört. Wir stehn nach menschlichen Ermessen vor einem abgeschlossen Leben,
das zu seiner endgiltigen Beurteilung keiner Ergänzung mehr bedarf.

Dem weitern Leserkreise machte sich Nietzsche zuerst bekannt durch eine
geistvolle und beißende Streitschrift gegen David Strauß, der mit seiner letzten
Schrift (Der alte und der neue Glaube) dem dentschen Volke das Bekenntnis
"Wir sind keine Christen mehr" aufzwingen wollte. Der junge Professor zer¬
rieb die Gedankeugünge des einst so gefeierten Meisters mit überlegner und
hochumtiger Dialektik; die Mittelmäßigkeit des Bildungsphilistertums, die
Strauß in dem zweiten, aufbauenden Teile als Ersatz für das Verlorne reli¬
giöse Ideal anpries, war ihm zuwider. Um das, was Strauß zerschlagen
hatte, krümmte er freilich keinen Finger; aber mit dem angepriesenen Heilmittel
eines "gebildeten" Spießbürgertums die Schäden des Volkslebens heilen zu
wollen, den Massen, den Herden das Feld zu überlassen, das, meint er, ist
Feigheit, Schwäche, Verderbnis. Was Deutschland 1870 und 1871 zum Siege


Die Philosophie vom Übermenschen

Krankheitsphänomen. Von da an trat er nur noch als erbitterter Vekämpfer
des frühern Freundes und Vertrauten auf.

Seit 1876 brach ein Kopfleiden bei ihm aus, so schmerzhaft und beharr¬
lich, daß er monatelang nicht zu arbeiten vermochte. Wiederholt war er mit
Blindheit bedroht; nur die peinlichste Vorsicht in seiner ganzen Lebenshaltung
rettete ihn davon. Er begann nun ein unstetes Wanderleben, das ihn im
Winter nach Italien und Südfrankreich, im Sommer in die Schweizer Berge
führte. Silz-Maria im Oberengadin war ihm besonders lieb, weil es ihm
Einsamkeit gab. Dort lebte er wie ein moderner Eremit allein mit seinen
Gedanken und der Natur; in Sinnen versunken pflegte er dort, vom Wasser
des Sees umrauscht, auf eiuer grünbewachsenen Landzunge zu liegeu und zu
sinnen. So tief aber war ihm das Octi xrolwiuui vulgu8 ins kranke Blut
gedrungen, das; er sich von dem Lieblingsplatze durch eine — Bank, die er
einmal bei seiner Wiederkehr auf der geweihten Stelle fand, vertreiben ließ.
Der Ort, der durch seine geheimsten Gedanken und Gesichte geheiligt war,
sollte durch die Trivialitäten gewöhnlicher Sterblichen nicht entweiht werden.

1879 mußte er seine Professur aufgeben. Zuweilen schien es, als ob
die Muße die Kraft der aufsteigenden Krankheit brechen wolle. Um die Mitte
der achtziger Jahre (1885 bis 1888) schien seine Seele von dem furchtbaren
Druck freier zu sein. Aber während er ein Buch nach dein andern in die
Welt sandte und Pläne zu neuen entwarf, die nicht zur Ausführung kamen,
steigerte sich sein Tiefsinn mehr und mehr. Infolge der geistigen Anspannung
brach die furchtbare Krankheit mit erneuter Kraft aus, und völlige Geistes¬
umnachtung brachte den bedauernswerten Mann ins Irrenhaus (in Jena 1839).
Von da ging er nach Jahresfrist in eine Kaltwasserheilanstalt, um unter der
Pflege seiner betagten Mutter für seinen fiebernden Kopf Genesung zu suchen;
aber nach allem, was bekannt geworden ist, ist der mächtige Denkergeist zer¬
stört. Wir stehn nach menschlichen Ermessen vor einem abgeschlossen Leben,
das zu seiner endgiltigen Beurteilung keiner Ergänzung mehr bedarf.

Dem weitern Leserkreise machte sich Nietzsche zuerst bekannt durch eine
geistvolle und beißende Streitschrift gegen David Strauß, der mit seiner letzten
Schrift (Der alte und der neue Glaube) dem dentschen Volke das Bekenntnis
„Wir sind keine Christen mehr" aufzwingen wollte. Der junge Professor zer¬
rieb die Gedankeugünge des einst so gefeierten Meisters mit überlegner und
hochumtiger Dialektik; die Mittelmäßigkeit des Bildungsphilistertums, die
Strauß in dem zweiten, aufbauenden Teile als Ersatz für das Verlorne reli¬
giöse Ideal anpries, war ihm zuwider. Um das, was Strauß zerschlagen
hatte, krümmte er freilich keinen Finger; aber mit dem angepriesenen Heilmittel
eines „gebildeten" Spießbürgertums die Schäden des Volkslebens heilen zu
wollen, den Massen, den Herden das Feld zu überlassen, das, meint er, ist
Feigheit, Schwäche, Verderbnis. Was Deutschland 1870 und 1871 zum Siege


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[0034] Die Philosophie vom Übermenschen Krankheitsphänomen. Von da an trat er nur noch als erbitterter Vekämpfer des frühern Freundes und Vertrauten auf. Seit 1876 brach ein Kopfleiden bei ihm aus, so schmerzhaft und beharr¬ lich, daß er monatelang nicht zu arbeiten vermochte. Wiederholt war er mit Blindheit bedroht; nur die peinlichste Vorsicht in seiner ganzen Lebenshaltung rettete ihn davon. Er begann nun ein unstetes Wanderleben, das ihn im Winter nach Italien und Südfrankreich, im Sommer in die Schweizer Berge führte. Silz-Maria im Oberengadin war ihm besonders lieb, weil es ihm Einsamkeit gab. Dort lebte er wie ein moderner Eremit allein mit seinen Gedanken und der Natur; in Sinnen versunken pflegte er dort, vom Wasser des Sees umrauscht, auf eiuer grünbewachsenen Landzunge zu liegeu und zu sinnen. So tief aber war ihm das Octi xrolwiuui vulgu8 ins kranke Blut gedrungen, das; er sich von dem Lieblingsplatze durch eine — Bank, die er einmal bei seiner Wiederkehr auf der geweihten Stelle fand, vertreiben ließ. Der Ort, der durch seine geheimsten Gedanken und Gesichte geheiligt war, sollte durch die Trivialitäten gewöhnlicher Sterblichen nicht entweiht werden. 1879 mußte er seine Professur aufgeben. Zuweilen schien es, als ob die Muße die Kraft der aufsteigenden Krankheit brechen wolle. Um die Mitte der achtziger Jahre (1885 bis 1888) schien seine Seele von dem furchtbaren Druck freier zu sein. Aber während er ein Buch nach dein andern in die Welt sandte und Pläne zu neuen entwarf, die nicht zur Ausführung kamen, steigerte sich sein Tiefsinn mehr und mehr. Infolge der geistigen Anspannung brach die furchtbare Krankheit mit erneuter Kraft aus, und völlige Geistes¬ umnachtung brachte den bedauernswerten Mann ins Irrenhaus (in Jena 1839). Von da ging er nach Jahresfrist in eine Kaltwasserheilanstalt, um unter der Pflege seiner betagten Mutter für seinen fiebernden Kopf Genesung zu suchen; aber nach allem, was bekannt geworden ist, ist der mächtige Denkergeist zer¬ stört. Wir stehn nach menschlichen Ermessen vor einem abgeschlossen Leben, das zu seiner endgiltigen Beurteilung keiner Ergänzung mehr bedarf. Dem weitern Leserkreise machte sich Nietzsche zuerst bekannt durch eine geistvolle und beißende Streitschrift gegen David Strauß, der mit seiner letzten Schrift (Der alte und der neue Glaube) dem dentschen Volke das Bekenntnis „Wir sind keine Christen mehr" aufzwingen wollte. Der junge Professor zer¬ rieb die Gedankeugünge des einst so gefeierten Meisters mit überlegner und hochumtiger Dialektik; die Mittelmäßigkeit des Bildungsphilistertums, die Strauß in dem zweiten, aufbauenden Teile als Ersatz für das Verlorne reli¬ giöse Ideal anpries, war ihm zuwider. Um das, was Strauß zerschlagen hatte, krümmte er freilich keinen Finger; aber mit dem angepriesenen Heilmittel eines „gebildeten" Spießbürgertums die Schäden des Volkslebens heilen zu wollen, den Massen, den Herden das Feld zu überlassen, das, meint er, ist Feigheit, Schwäche, Verderbnis. Was Deutschland 1870 und 1871 zum Siege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/34>, abgerufen am 23.07.2024.