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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Verunstaltung deutscher Lieder
Sie tragen zu dir, Geliebte,
Das schmerzerfüllte Wort?
Du hörst es zu jeder Stunde,
Du hörst es an jedem Ort.
Und hast du zum nächtlichen Schlummer
Geschlossen die Augen kaum,
So wird dich mein Wort verfolgen
Bis in den tiefsten Traun".

Mendelssohn hat in der ersten Strophe für Schmerzen: Liebe (und dem¬
entsprechend in der zweiten für schmerzerfüllt: lieberfüllt) geändert und
damit das ganze Lied aus seinen Angeln geworfen. Der schone Grundgedanke,
daß die Schmerzen, die die treulose Geliebte dem Dichter bereitet hat, an ihr
zu Rändern werden sollen, diese modern und romantisch empfundne Nemesis,
die immerhin viel tiefes und großes behält, geht durch Mendelsohns Willkür
gänzlich verloren, und das Lied sinkt zu einem gewöhnlichen Liebesliede herab,
worin alles früher bedeutungsvolle halb sinnlos ist. Die höhere Tochter
freilich wird, namentlich im schwärmerischen Backfischalter, das Lied mit be¬
sondern! Entzücken vortragen, weil es von Liebe handelt und gleich in der
ersten Zeile dieses geschützte Wort so hübsch hervorhebt. Warum auch nicht?
Daß aber tüchtige und gebildete Männer solche Verballhornungen ohne jede
Empfindung zu singen vermögen und selbst dann, wenn sie auf die Eigen¬
mächtigkeit des Komponisten aufmerksam gemacht werden, erst langsam und
schwer den Unfug begreifen und zugestehen, sollte man doch kaum für möglich
halten. In der That mag ja für die Melodie, so wie sie ist, das Wort
"Schmerzen" zu schwer und hart sein; aber die Schuld liegt doch an dem
musikalischen Satz und nicht am Dichter. Wer hat Mendelssohn das Recht
gegeben, aus einem halb schwermütigen Nemesislied ein tändelndes Liebeslied
zu machen? Denn offenbar ist der Komponist beim Komponiren von seiner
Änderung ausgegangen. Der Dichter darf beanspruchen, so verstanden zu
werden, wie er es gemeint hat, und eben so wenig wie jedem Laien ist es
dem Musiker erlaubt, nach persönlichem Gutdünken einzelne Worte oder gar
das Ganze zu ändern. Im Gegenteil, der Komponist, der nach alter Auf¬
fassung durch seine Weisen den Dichter erläutern und verklären soll, hat vor
allem die Pflicht, sich aufs treueste an des Dichters Worte zu halten; sonst
wird er zum falschen Propheten.

Von den neuern Komponisten Beispiele anzuführen, lohnt in mancher
Hinsicht kaum der Mühe. Doch mögen als Beweis dafür, wie die modernen
Salonmusiker mit Dichtertextcu verfahren, wenigstens zwei kleine Proben hier
gegeben werden, da sie sich auf einen der beliebtesten und sangbarsten Lyriker
unsrer Tage, auf Rudolf Baumbach beziehen. Gleich das erste Lied seines
fahrenden Gesellen hat der musious 1g.ur6iZ,wL des Schunkelwalzers und der


Die Verunstaltung deutscher Lieder
Sie tragen zu dir, Geliebte,
Das schmerzerfüllte Wort?
Du hörst es zu jeder Stunde,
Du hörst es an jedem Ort.
Und hast du zum nächtlichen Schlummer
Geschlossen die Augen kaum,
So wird dich mein Wort verfolgen
Bis in den tiefsten Traun«.

Mendelssohn hat in der ersten Strophe für Schmerzen: Liebe (und dem¬
entsprechend in der zweiten für schmerzerfüllt: lieberfüllt) geändert und
damit das ganze Lied aus seinen Angeln geworfen. Der schone Grundgedanke,
daß die Schmerzen, die die treulose Geliebte dem Dichter bereitet hat, an ihr
zu Rändern werden sollen, diese modern und romantisch empfundne Nemesis,
die immerhin viel tiefes und großes behält, geht durch Mendelsohns Willkür
gänzlich verloren, und das Lied sinkt zu einem gewöhnlichen Liebesliede herab,
worin alles früher bedeutungsvolle halb sinnlos ist. Die höhere Tochter
freilich wird, namentlich im schwärmerischen Backfischalter, das Lied mit be¬
sondern! Entzücken vortragen, weil es von Liebe handelt und gleich in der
ersten Zeile dieses geschützte Wort so hübsch hervorhebt. Warum auch nicht?
Daß aber tüchtige und gebildete Männer solche Verballhornungen ohne jede
Empfindung zu singen vermögen und selbst dann, wenn sie auf die Eigen¬
mächtigkeit des Komponisten aufmerksam gemacht werden, erst langsam und
schwer den Unfug begreifen und zugestehen, sollte man doch kaum für möglich
halten. In der That mag ja für die Melodie, so wie sie ist, das Wort
„Schmerzen" zu schwer und hart sein; aber die Schuld liegt doch an dem
musikalischen Satz und nicht am Dichter. Wer hat Mendelssohn das Recht
gegeben, aus einem halb schwermütigen Nemesislied ein tändelndes Liebeslied
zu machen? Denn offenbar ist der Komponist beim Komponiren von seiner
Änderung ausgegangen. Der Dichter darf beanspruchen, so verstanden zu
werden, wie er es gemeint hat, und eben so wenig wie jedem Laien ist es
dem Musiker erlaubt, nach persönlichem Gutdünken einzelne Worte oder gar
das Ganze zu ändern. Im Gegenteil, der Komponist, der nach alter Auf¬
fassung durch seine Weisen den Dichter erläutern und verklären soll, hat vor
allem die Pflicht, sich aufs treueste an des Dichters Worte zu halten; sonst
wird er zum falschen Propheten.

Von den neuern Komponisten Beispiele anzuführen, lohnt in mancher
Hinsicht kaum der Mühe. Doch mögen als Beweis dafür, wie die modernen
Salonmusiker mit Dichtertextcu verfahren, wenigstens zwei kleine Proben hier
gegeben werden, da sie sich auf einen der beliebtesten und sangbarsten Lyriker
unsrer Tage, auf Rudolf Baumbach beziehen. Gleich das erste Lied seines
fahrenden Gesellen hat der musious 1g.ur6iZ,wL des Schunkelwalzers und der


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[0330] Die Verunstaltung deutscher Lieder Sie tragen zu dir, Geliebte, Das schmerzerfüllte Wort? Du hörst es zu jeder Stunde, Du hörst es an jedem Ort. Und hast du zum nächtlichen Schlummer Geschlossen die Augen kaum, So wird dich mein Wort verfolgen Bis in den tiefsten Traun«. Mendelssohn hat in der ersten Strophe für Schmerzen: Liebe (und dem¬ entsprechend in der zweiten für schmerzerfüllt: lieberfüllt) geändert und damit das ganze Lied aus seinen Angeln geworfen. Der schone Grundgedanke, daß die Schmerzen, die die treulose Geliebte dem Dichter bereitet hat, an ihr zu Rändern werden sollen, diese modern und romantisch empfundne Nemesis, die immerhin viel tiefes und großes behält, geht durch Mendelsohns Willkür gänzlich verloren, und das Lied sinkt zu einem gewöhnlichen Liebesliede herab, worin alles früher bedeutungsvolle halb sinnlos ist. Die höhere Tochter freilich wird, namentlich im schwärmerischen Backfischalter, das Lied mit be¬ sondern! Entzücken vortragen, weil es von Liebe handelt und gleich in der ersten Zeile dieses geschützte Wort so hübsch hervorhebt. Warum auch nicht? Daß aber tüchtige und gebildete Männer solche Verballhornungen ohne jede Empfindung zu singen vermögen und selbst dann, wenn sie auf die Eigen¬ mächtigkeit des Komponisten aufmerksam gemacht werden, erst langsam und schwer den Unfug begreifen und zugestehen, sollte man doch kaum für möglich halten. In der That mag ja für die Melodie, so wie sie ist, das Wort „Schmerzen" zu schwer und hart sein; aber die Schuld liegt doch an dem musikalischen Satz und nicht am Dichter. Wer hat Mendelssohn das Recht gegeben, aus einem halb schwermütigen Nemesislied ein tändelndes Liebeslied zu machen? Denn offenbar ist der Komponist beim Komponiren von seiner Änderung ausgegangen. Der Dichter darf beanspruchen, so verstanden zu werden, wie er es gemeint hat, und eben so wenig wie jedem Laien ist es dem Musiker erlaubt, nach persönlichem Gutdünken einzelne Worte oder gar das Ganze zu ändern. Im Gegenteil, der Komponist, der nach alter Auf¬ fassung durch seine Weisen den Dichter erläutern und verklären soll, hat vor allem die Pflicht, sich aufs treueste an des Dichters Worte zu halten; sonst wird er zum falschen Propheten. Von den neuern Komponisten Beispiele anzuführen, lohnt in mancher Hinsicht kaum der Mühe. Doch mögen als Beweis dafür, wie die modernen Salonmusiker mit Dichtertextcu verfahren, wenigstens zwei kleine Proben hier gegeben werden, da sie sich auf einen der beliebtesten und sangbarsten Lyriker unsrer Tage, auf Rudolf Baumbach beziehen. Gleich das erste Lied seines fahrenden Gesellen hat der musious 1g.ur6iZ,wL des Schunkelwalzers und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/330>, abgerufen am 25.08.2024.