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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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"Den Kindern die Eltern, dem Freunde den Freund, dem Manne die Frau,
der Braut dem Bräutigam u. s. w."). In der ersten Strophe ist "das Liebste"
durchaus an seinem Platze; aber die zweite und dritte sollen für den allge¬
meinen Fall, daß man vom Liebsten scheiden müsse, eben Beispiele anführen:
das zarte Beispiel der Rose und als Parallele dazu aus der Menschenwelt
das Lieb, die Rose des Menschenlebens. Sicherlich kann man das in der
Schule nicht erklären, ebenso wenig wie Goethes Heidenröslein: hier tritt das
Leben ergänzend ein, und Lied und Melodie bekommen erst durch persönliche
Erfahrung für den einzelnen ihre Seele.

Mit Entstellungen und Verkürzungen untergräbt man aber nicht bloß für
den Augenblick jedes Verständnis, sondern sür alle Zukunft, so lange das Ver¬
kehrte im Gedächtnis haftet -- und Kindereindrücke pflegen ziemlich tief und
dauernd zu sein, besonders wenn sie ein tüchtiger Lehrer oder der Gesang ein¬
geprägt hat. Eine hochwohlweise Pädagogik spare also das, was sie für be¬
denklich halten zu müssen glaubt, entweder für obere Stufen auf oder lasse
es ganz und gar weg: ein solches Weniger ist entschieden ein Mehr. Feigen¬
blätter sind stets ein Zeichen von Feigheit und sittlicher Schwäche.

Noch viel willkürlicher als die moderne Pädagogik pflegen hergebrachter-
weisc die Komponisten mit dem Text der Gedichte umzugehn, die sie in Musik
setzen wollen. Nicht allzuhäufig wird man besonders in neuern Musikalien
ein Lied finden, das nicht irgendwo eine höchst eigenhändige Schlimmbesscrung
aufwiese. Meist beschränken sich diese Änderungen auf Kleinigkeiten, z. B. auf
die schmückenden Beiwörter, in deren Wahl der Musiker sich selbst mehr Ge¬
schmack und Urteil zuzutrauen scheint als dein Dichter. Aber nicht selten geht
man auch weiter und tilgt entweder ganze Strophen oder verdirbt einzelne
Stellen in der thörichtsten Weise.

Besonders hat hier Mendelssohn ein übles Beispiel für weitere Kreise
gegeben, indem er z. B. in dem schönen Liede Eichendorffs "Des Jägers Ab¬
schied" die ganze dritte Strophe einfach gestrichen und in der letzten statt:
"Schirm dich Gott, du schöner Wald" das nach dem vorhergehenden Lebe
Wohl recht sinnlose: "Bis das letzte Lied erschallt" gesetzt hat. Wahrscheinlich
hat ihm der eigenartige und tiefe Vergleich des Waldes mit einem Banner
an der dritten Strophe nicht behagt, noch dazu mit einem Banner, das männ¬
lichen Geschlechts ist; denn allzugroße Länge -- sonst ein trefflicher Vorwand
für den musikalischen Notstift -- kann man doch diesem Gedicht bei seinen
vier Strophen nicht vorwerfen. Noch viel schlimmer ist es aber Heine ge¬
gangen mit seinem bekannten Gedicht:


Grenzboten IV 1392 41

„Den Kindern die Eltern, dem Freunde den Freund, dem Manne die Frau,
der Braut dem Bräutigam u. s. w."). In der ersten Strophe ist „das Liebste"
durchaus an seinem Platze; aber die zweite und dritte sollen für den allge¬
meinen Fall, daß man vom Liebsten scheiden müsse, eben Beispiele anführen:
das zarte Beispiel der Rose und als Parallele dazu aus der Menschenwelt
das Lieb, die Rose des Menschenlebens. Sicherlich kann man das in der
Schule nicht erklären, ebenso wenig wie Goethes Heidenröslein: hier tritt das
Leben ergänzend ein, und Lied und Melodie bekommen erst durch persönliche
Erfahrung für den einzelnen ihre Seele.

Mit Entstellungen und Verkürzungen untergräbt man aber nicht bloß für
den Augenblick jedes Verständnis, sondern sür alle Zukunft, so lange das Ver¬
kehrte im Gedächtnis haftet — und Kindereindrücke pflegen ziemlich tief und
dauernd zu sein, besonders wenn sie ein tüchtiger Lehrer oder der Gesang ein¬
geprägt hat. Eine hochwohlweise Pädagogik spare also das, was sie für be¬
denklich halten zu müssen glaubt, entweder für obere Stufen auf oder lasse
es ganz und gar weg: ein solches Weniger ist entschieden ein Mehr. Feigen¬
blätter sind stets ein Zeichen von Feigheit und sittlicher Schwäche.

Noch viel willkürlicher als die moderne Pädagogik pflegen hergebrachter-
weisc die Komponisten mit dem Text der Gedichte umzugehn, die sie in Musik
setzen wollen. Nicht allzuhäufig wird man besonders in neuern Musikalien
ein Lied finden, das nicht irgendwo eine höchst eigenhändige Schlimmbesscrung
aufwiese. Meist beschränken sich diese Änderungen auf Kleinigkeiten, z. B. auf
die schmückenden Beiwörter, in deren Wahl der Musiker sich selbst mehr Ge¬
schmack und Urteil zuzutrauen scheint als dein Dichter. Aber nicht selten geht
man auch weiter und tilgt entweder ganze Strophen oder verdirbt einzelne
Stellen in der thörichtsten Weise.

Besonders hat hier Mendelssohn ein übles Beispiel für weitere Kreise
gegeben, indem er z. B. in dem schönen Liede Eichendorffs „Des Jägers Ab¬
schied" die ganze dritte Strophe einfach gestrichen und in der letzten statt:
„Schirm dich Gott, du schöner Wald" das nach dem vorhergehenden Lebe
Wohl recht sinnlose: „Bis das letzte Lied erschallt" gesetzt hat. Wahrscheinlich
hat ihm der eigenartige und tiefe Vergleich des Waldes mit einem Banner
an der dritten Strophe nicht behagt, noch dazu mit einem Banner, das männ¬
lichen Geschlechts ist; denn allzugroße Länge — sonst ein trefflicher Vorwand
für den musikalischen Notstift — kann man doch diesem Gedicht bei seinen
vier Strophen nicht vorwerfen. Noch viel schlimmer ist es aber Heine ge¬
gangen mit seinem bekannten Gedicht:


Grenzboten IV 1392 41
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[0329] „Den Kindern die Eltern, dem Freunde den Freund, dem Manne die Frau, der Braut dem Bräutigam u. s. w."). In der ersten Strophe ist „das Liebste" durchaus an seinem Platze; aber die zweite und dritte sollen für den allge¬ meinen Fall, daß man vom Liebsten scheiden müsse, eben Beispiele anführen: das zarte Beispiel der Rose und als Parallele dazu aus der Menschenwelt das Lieb, die Rose des Menschenlebens. Sicherlich kann man das in der Schule nicht erklären, ebenso wenig wie Goethes Heidenröslein: hier tritt das Leben ergänzend ein, und Lied und Melodie bekommen erst durch persönliche Erfahrung für den einzelnen ihre Seele. Mit Entstellungen und Verkürzungen untergräbt man aber nicht bloß für den Augenblick jedes Verständnis, sondern sür alle Zukunft, so lange das Ver¬ kehrte im Gedächtnis haftet — und Kindereindrücke pflegen ziemlich tief und dauernd zu sein, besonders wenn sie ein tüchtiger Lehrer oder der Gesang ein¬ geprägt hat. Eine hochwohlweise Pädagogik spare also das, was sie für be¬ denklich halten zu müssen glaubt, entweder für obere Stufen auf oder lasse es ganz und gar weg: ein solches Weniger ist entschieden ein Mehr. Feigen¬ blätter sind stets ein Zeichen von Feigheit und sittlicher Schwäche. Noch viel willkürlicher als die moderne Pädagogik pflegen hergebrachter- weisc die Komponisten mit dem Text der Gedichte umzugehn, die sie in Musik setzen wollen. Nicht allzuhäufig wird man besonders in neuern Musikalien ein Lied finden, das nicht irgendwo eine höchst eigenhändige Schlimmbesscrung aufwiese. Meist beschränken sich diese Änderungen auf Kleinigkeiten, z. B. auf die schmückenden Beiwörter, in deren Wahl der Musiker sich selbst mehr Ge¬ schmack und Urteil zuzutrauen scheint als dein Dichter. Aber nicht selten geht man auch weiter und tilgt entweder ganze Strophen oder verdirbt einzelne Stellen in der thörichtsten Weise. Besonders hat hier Mendelssohn ein übles Beispiel für weitere Kreise gegeben, indem er z. B. in dem schönen Liede Eichendorffs „Des Jägers Ab¬ schied" die ganze dritte Strophe einfach gestrichen und in der letzten statt: „Schirm dich Gott, du schöner Wald" das nach dem vorhergehenden Lebe Wohl recht sinnlose: „Bis das letzte Lied erschallt" gesetzt hat. Wahrscheinlich hat ihm der eigenartige und tiefe Vergleich des Waldes mit einem Banner an der dritten Strophe nicht behagt, noch dazu mit einem Banner, das männ¬ lichen Geschlechts ist; denn allzugroße Länge — sonst ein trefflicher Vorwand für den musikalischen Notstift — kann man doch diesem Gedicht bei seinen vier Strophen nicht vorwerfen. Noch viel schlimmer ist es aber Heine ge¬ gangen mit seinem bekannten Gedicht: Grenzboten IV 1392 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/329>, abgerufen am 22.12.2024.