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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Ein Ivort über unsre Masern Mädchenschulen

Klagen würde wegfallen, wenn die Lehrer der Anffassungsart der Maw
eben, die selbst in jugendlichem Alter schon wesentlich anders ist, Rechnung
trügen. Der Namen gestattet nicht, hier Einzelheiten mitzuteilen, wie sie sich
dem aufmerksamen Beobachter der Mädchen zahlreich ergeben. Auch würde
das zu fachmännischer Erörterungen führen, die hier nicht am Platze wären.

Ans einen wichtigen Umstand aber hinzuweisen liegt mir besonders am
Herzen. Ein Hauptübel in der Organisation unsrer höhern Mädchenschulen ist
darin zu suchen, daß man nach dem Vorbilde der Knabenschulen für die
Mädchen viel zu viel verbindliche Lehrfächer angesetzt hat. Vom Knaben
verlangt man mit Recht, daß er schon früh die Selbstentünßernng lerne,
auch den Fächern Interesse und Arbeit zu widmen, die seiner Neigung wider¬
streben; das Leben wird an seine geistige Leistungsfähigkeit Anforderungen
der verschiedensten Art stellen, zu denen die Schule ihn vorzubilden hat.
Und wenn an einem Schnltage mit dein Glockenschlage wechselnd sechs ganz
verschiedne Gegenstände an seinem Geiste vorüberziehen, so Wollen wir gern
zugestehen, daß bei ihm diese Gelegenheit zu geistiger Zucht und Anpassung die
Nachteile überwiegt, die die Gefahr geistiger Zersplitterung in sich schließt.

Bei Mädchen ist das anders. Das Müdcheu ist seiner gciuzcu geistigen
Anlage uach flatterhafter als der Knabe; es sieht in häufigem Wechsel ein
Vergnügen, und wenn man ihm diese Gelegenheit zum Wechsel bietet, so wirkt
sie in ganz entgegengesetzter Weise als beim Knaben. Bei diesem unterdrückt
sie einen oft vorhandnen Trieb zur Jsolirung, zur Einseitigkeit, während sie
beim Mädchen ein von Natur höheres Abwechslungsbedürfnis befriedigt,
steigert und schließlich bis zur Abspannung überreizt.

Nun hat man aber an den Ghmnasien neben zahlreichen Fächern, die mit
geringerer Stundenzahl besetzt sind, doch wenigstens eins, das eine zentrale
Stellung einnimmt, das Lateinische. An diesem läßt sich wenigstens einiger¬
maßen noch die durch blinde Neformsucht stark in die Brüche gegangne geistige
Konzentration üben, die ein notwendiges Gegengewicht gegen die Vielheit der
Eindrücke bildet.

Auch dieses Hauptfach fehlt den Mädchenschulen ganz. Die am stärksten
vertretnen Fächer Französisch, Englisch und Deutsch halten sich die Wage;
keins ist mit einer Stundenzahl angesetzt, die auch nnr einigermaßen die Ge¬
währ für ähnliche stärkende Einflüsse böte, wie sie das Lateinische zu üben
vermag.

So muß das Interesse des heranwachsenden Mädchens ziemlich gleich¬
mäßig über einer Menge von Dingen schweben, und indem man in seinen
Kopf ein Dutzend Gegenstände mit der bei manchen Lehrern nur zu ge¬
läufigen Voraussetzung des einzelnen, daß sein Fach die Hauptsache sei, hinein¬
zwängt, geschieht es, daß sich eine wirkliche, aus eingehender, gesammelter Be¬
schäftigung erwachsende Teilnahme für einen Gegenstand oft gar nicht bildet.


Grenzboten IV 1892 40
Ein Ivort über unsre Masern Mädchenschulen

Klagen würde wegfallen, wenn die Lehrer der Anffassungsart der Maw
eben, die selbst in jugendlichem Alter schon wesentlich anders ist, Rechnung
trügen. Der Namen gestattet nicht, hier Einzelheiten mitzuteilen, wie sie sich
dem aufmerksamen Beobachter der Mädchen zahlreich ergeben. Auch würde
das zu fachmännischer Erörterungen führen, die hier nicht am Platze wären.

Ans einen wichtigen Umstand aber hinzuweisen liegt mir besonders am
Herzen. Ein Hauptübel in der Organisation unsrer höhern Mädchenschulen ist
darin zu suchen, daß man nach dem Vorbilde der Knabenschulen für die
Mädchen viel zu viel verbindliche Lehrfächer angesetzt hat. Vom Knaben
verlangt man mit Recht, daß er schon früh die Selbstentünßernng lerne,
auch den Fächern Interesse und Arbeit zu widmen, die seiner Neigung wider¬
streben; das Leben wird an seine geistige Leistungsfähigkeit Anforderungen
der verschiedensten Art stellen, zu denen die Schule ihn vorzubilden hat.
Und wenn an einem Schnltage mit dein Glockenschlage wechselnd sechs ganz
verschiedne Gegenstände an seinem Geiste vorüberziehen, so Wollen wir gern
zugestehen, daß bei ihm diese Gelegenheit zu geistiger Zucht und Anpassung die
Nachteile überwiegt, die die Gefahr geistiger Zersplitterung in sich schließt.

Bei Mädchen ist das anders. Das Müdcheu ist seiner gciuzcu geistigen
Anlage uach flatterhafter als der Knabe; es sieht in häufigem Wechsel ein
Vergnügen, und wenn man ihm diese Gelegenheit zum Wechsel bietet, so wirkt
sie in ganz entgegengesetzter Weise als beim Knaben. Bei diesem unterdrückt
sie einen oft vorhandnen Trieb zur Jsolirung, zur Einseitigkeit, während sie
beim Mädchen ein von Natur höheres Abwechslungsbedürfnis befriedigt,
steigert und schließlich bis zur Abspannung überreizt.

Nun hat man aber an den Ghmnasien neben zahlreichen Fächern, die mit
geringerer Stundenzahl besetzt sind, doch wenigstens eins, das eine zentrale
Stellung einnimmt, das Lateinische. An diesem läßt sich wenigstens einiger¬
maßen noch die durch blinde Neformsucht stark in die Brüche gegangne geistige
Konzentration üben, die ein notwendiges Gegengewicht gegen die Vielheit der
Eindrücke bildet.

Auch dieses Hauptfach fehlt den Mädchenschulen ganz. Die am stärksten
vertretnen Fächer Französisch, Englisch und Deutsch halten sich die Wage;
keins ist mit einer Stundenzahl angesetzt, die auch nnr einigermaßen die Ge¬
währ für ähnliche stärkende Einflüsse böte, wie sie das Lateinische zu üben
vermag.

So muß das Interesse des heranwachsenden Mädchens ziemlich gleich¬
mäßig über einer Menge von Dingen schweben, und indem man in seinen
Kopf ein Dutzend Gegenstände mit der bei manchen Lehrern nur zu ge¬
läufigen Voraussetzung des einzelnen, daß sein Fach die Hauptsache sei, hinein¬
zwängt, geschieht es, daß sich eine wirkliche, aus eingehender, gesammelter Be¬
schäftigung erwachsende Teilnahme für einen Gegenstand oft gar nicht bildet.


Grenzboten IV 1892 40
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[0321] Ein Ivort über unsre Masern Mädchenschulen Klagen würde wegfallen, wenn die Lehrer der Anffassungsart der Maw eben, die selbst in jugendlichem Alter schon wesentlich anders ist, Rechnung trügen. Der Namen gestattet nicht, hier Einzelheiten mitzuteilen, wie sie sich dem aufmerksamen Beobachter der Mädchen zahlreich ergeben. Auch würde das zu fachmännischer Erörterungen führen, die hier nicht am Platze wären. Ans einen wichtigen Umstand aber hinzuweisen liegt mir besonders am Herzen. Ein Hauptübel in der Organisation unsrer höhern Mädchenschulen ist darin zu suchen, daß man nach dem Vorbilde der Knabenschulen für die Mädchen viel zu viel verbindliche Lehrfächer angesetzt hat. Vom Knaben verlangt man mit Recht, daß er schon früh die Selbstentünßernng lerne, auch den Fächern Interesse und Arbeit zu widmen, die seiner Neigung wider¬ streben; das Leben wird an seine geistige Leistungsfähigkeit Anforderungen der verschiedensten Art stellen, zu denen die Schule ihn vorzubilden hat. Und wenn an einem Schnltage mit dein Glockenschlage wechselnd sechs ganz verschiedne Gegenstände an seinem Geiste vorüberziehen, so Wollen wir gern zugestehen, daß bei ihm diese Gelegenheit zu geistiger Zucht und Anpassung die Nachteile überwiegt, die die Gefahr geistiger Zersplitterung in sich schließt. Bei Mädchen ist das anders. Das Müdcheu ist seiner gciuzcu geistigen Anlage uach flatterhafter als der Knabe; es sieht in häufigem Wechsel ein Vergnügen, und wenn man ihm diese Gelegenheit zum Wechsel bietet, so wirkt sie in ganz entgegengesetzter Weise als beim Knaben. Bei diesem unterdrückt sie einen oft vorhandnen Trieb zur Jsolirung, zur Einseitigkeit, während sie beim Mädchen ein von Natur höheres Abwechslungsbedürfnis befriedigt, steigert und schließlich bis zur Abspannung überreizt. Nun hat man aber an den Ghmnasien neben zahlreichen Fächern, die mit geringerer Stundenzahl besetzt sind, doch wenigstens eins, das eine zentrale Stellung einnimmt, das Lateinische. An diesem läßt sich wenigstens einiger¬ maßen noch die durch blinde Neformsucht stark in die Brüche gegangne geistige Konzentration üben, die ein notwendiges Gegengewicht gegen die Vielheit der Eindrücke bildet. Auch dieses Hauptfach fehlt den Mädchenschulen ganz. Die am stärksten vertretnen Fächer Französisch, Englisch und Deutsch halten sich die Wage; keins ist mit einer Stundenzahl angesetzt, die auch nnr einigermaßen die Ge¬ währ für ähnliche stärkende Einflüsse böte, wie sie das Lateinische zu üben vermag. So muß das Interesse des heranwachsenden Mädchens ziemlich gleich¬ mäßig über einer Menge von Dingen schweben, und indem man in seinen Kopf ein Dutzend Gegenstände mit der bei manchen Lehrern nur zu ge¬ läufigen Voraussetzung des einzelnen, daß sein Fach die Hauptsache sei, hinein¬ zwängt, geschieht es, daß sich eine wirkliche, aus eingehender, gesammelter Be¬ schäftigung erwachsende Teilnahme für einen Gegenstand oft gar nicht bildet. Grenzboten IV 1892 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/321>, abgerufen am 25.08.2024.