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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Gin wort über unsre höhern Mädchenschulen

Daher die betrübende Erscheinung, daß bei unsern jungen Mädchen, sobald
das gesellschaftliche Leben mit seinem Flitter an sie herantritt, so leicht alle
höhern geistige" Interessen schwinden und der Oberflächlichkeit Thür und Thor
geöffnet ist. Wie ganz anders, in sich gefestigter steht die erwachsene junge
Engländerin, Schwedin, Norwegerin, selbst Französin da!

Man wirft oft den höhern Mädchenschulen vor, daß sie zur Oberfläch¬
lichkeit erzogen; die "höhere Tochter" bildet den Gegenstand des Spottes
meist aus keinem weitern Grunde, als weil die öffentliche Meinung instinktiv
fühlt, daß es sich hier oft um ein zerstückeltes Wissen handelt, um Brocken,
um Angelerntes. Daher findet man auch so selten bei unsern jungen Mädchen
das wohlthuende Gefühl der Sicherheit, einer gewissen Geschlossenheit, das
aus dem Bewußtsein erwächst, in der Jugend einmal eine ernste Arbeit an
einen würdigen Gegenstand gewendet zu haben. Nulwur, inen multa ist ein
Spruch, der auf keinem Gebiete dringender Anwendung fordert, als auf dem
der Pädagogik, und hier wieder auf dem der Mädchenschulpädagogik.

Das Mittel, diesen Mißstand zu beseitigen und dadurch zugleich mit
einem Schlage die für unsre Töchter in erhöhtem Maße verhängnisvolle Über¬
bürdung zu beseitigen, ist sehr einfach. Man gehe von dem Vorbilde der
höhern Knabenschulen ab und verlasse den Standpunkt, daß ein Mädchen auf
der Schule von allem etwas lernen müsse. Man fasse den Mut, zu gestehen,
daß es für unsre Töchter sehr unschädlich und gleichgiltig ist, ob sie auf dem
Gebiete der sogenannten allgemeinen Bildung -- was für ein Unfug ist schou
mit diesem Worte getrieben worden! -- hie und da eine Lücke haben, wenn
sie statt dessen für irgend ein Wissensgebiet ernsteres Interesse fassen und Be¬
friedigung in der Beschäftigung damit finden. Was liegt daran, ob meine
Tochter einst nicht weiß, was positive und negative Elektrizität oder ein
Bunsensches Element ist, oder über welche Orte der dreinndvierzigste Breiten¬
grad läuft, wenn sie dafür z. B. an der Geschichte Gefallen findet, sich ernstlich
damit beschäftigt in den zahlreichen Stunden, die die häusliche Thätigkeit
übrig läßt und die ihre Genossinnen dem verflachenden Gesellschafts- und
Theaterleben widmen, und wenn sie einst ihre heranwachsenden Sohne auf
dieses Gebiet begleiten kann. Welch andrer Segen erwächst daraus für Haus
und Familie als aus dem Anblick einer Mutter, die an der geistigen Ent¬
wicklung ihrer Kinder nicht teilnehmen kann, weil nichts von dem Vielerlei,
daß sie einmal gewußt hat, tiefere Wurzeln geschlagen hat.

Die Franzosen sind bei der Organisation ihres höhern Mädchenschulwesens
von diesen Gedanken geleitet worden. Ihre erste" Schulmänner, z. B. der geist¬
volle Rektor der Pariser Akademie Octave Grvard, Mitglied der ^eg-äviniv
?i'g,u<M8<z, haben sich mit vollem Bewußtsein von der Wichtigkeit der Sache mit
den l^ovss as ^fünff Woh beschäftigt, und ans ihren Beratungen ist ein in
seiner Art vortrefflicher Lehrplan für die höhern Mädchenschulen hervor-


Gin wort über unsre höhern Mädchenschulen

Daher die betrübende Erscheinung, daß bei unsern jungen Mädchen, sobald
das gesellschaftliche Leben mit seinem Flitter an sie herantritt, so leicht alle
höhern geistige» Interessen schwinden und der Oberflächlichkeit Thür und Thor
geöffnet ist. Wie ganz anders, in sich gefestigter steht die erwachsene junge
Engländerin, Schwedin, Norwegerin, selbst Französin da!

Man wirft oft den höhern Mädchenschulen vor, daß sie zur Oberfläch¬
lichkeit erzogen; die „höhere Tochter" bildet den Gegenstand des Spottes
meist aus keinem weitern Grunde, als weil die öffentliche Meinung instinktiv
fühlt, daß es sich hier oft um ein zerstückeltes Wissen handelt, um Brocken,
um Angelerntes. Daher findet man auch so selten bei unsern jungen Mädchen
das wohlthuende Gefühl der Sicherheit, einer gewissen Geschlossenheit, das
aus dem Bewußtsein erwächst, in der Jugend einmal eine ernste Arbeit an
einen würdigen Gegenstand gewendet zu haben. Nulwur, inen multa ist ein
Spruch, der auf keinem Gebiete dringender Anwendung fordert, als auf dem
der Pädagogik, und hier wieder auf dem der Mädchenschulpädagogik.

Das Mittel, diesen Mißstand zu beseitigen und dadurch zugleich mit
einem Schlage die für unsre Töchter in erhöhtem Maße verhängnisvolle Über¬
bürdung zu beseitigen, ist sehr einfach. Man gehe von dem Vorbilde der
höhern Knabenschulen ab und verlasse den Standpunkt, daß ein Mädchen auf
der Schule von allem etwas lernen müsse. Man fasse den Mut, zu gestehen,
daß es für unsre Töchter sehr unschädlich und gleichgiltig ist, ob sie auf dem
Gebiete der sogenannten allgemeinen Bildung — was für ein Unfug ist schou
mit diesem Worte getrieben worden! — hie und da eine Lücke haben, wenn
sie statt dessen für irgend ein Wissensgebiet ernsteres Interesse fassen und Be¬
friedigung in der Beschäftigung damit finden. Was liegt daran, ob meine
Tochter einst nicht weiß, was positive und negative Elektrizität oder ein
Bunsensches Element ist, oder über welche Orte der dreinndvierzigste Breiten¬
grad läuft, wenn sie dafür z. B. an der Geschichte Gefallen findet, sich ernstlich
damit beschäftigt in den zahlreichen Stunden, die die häusliche Thätigkeit
übrig läßt und die ihre Genossinnen dem verflachenden Gesellschafts- und
Theaterleben widmen, und wenn sie einst ihre heranwachsenden Sohne auf
dieses Gebiet begleiten kann. Welch andrer Segen erwächst daraus für Haus
und Familie als aus dem Anblick einer Mutter, die an der geistigen Ent¬
wicklung ihrer Kinder nicht teilnehmen kann, weil nichts von dem Vielerlei,
daß sie einmal gewußt hat, tiefere Wurzeln geschlagen hat.

Die Franzosen sind bei der Organisation ihres höhern Mädchenschulwesens
von diesen Gedanken geleitet worden. Ihre erste» Schulmänner, z. B. der geist¬
volle Rektor der Pariser Akademie Octave Grvard, Mitglied der ^eg-äviniv
?i'g,u<M8<z, haben sich mit vollem Bewußtsein von der Wichtigkeit der Sache mit
den l^ovss as ^fünff Woh beschäftigt, und ans ihren Beratungen ist ein in
seiner Art vortrefflicher Lehrplan für die höhern Mädchenschulen hervor-


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[0322] Gin wort über unsre höhern Mädchenschulen Daher die betrübende Erscheinung, daß bei unsern jungen Mädchen, sobald das gesellschaftliche Leben mit seinem Flitter an sie herantritt, so leicht alle höhern geistige» Interessen schwinden und der Oberflächlichkeit Thür und Thor geöffnet ist. Wie ganz anders, in sich gefestigter steht die erwachsene junge Engländerin, Schwedin, Norwegerin, selbst Französin da! Man wirft oft den höhern Mädchenschulen vor, daß sie zur Oberfläch¬ lichkeit erzogen; die „höhere Tochter" bildet den Gegenstand des Spottes meist aus keinem weitern Grunde, als weil die öffentliche Meinung instinktiv fühlt, daß es sich hier oft um ein zerstückeltes Wissen handelt, um Brocken, um Angelerntes. Daher findet man auch so selten bei unsern jungen Mädchen das wohlthuende Gefühl der Sicherheit, einer gewissen Geschlossenheit, das aus dem Bewußtsein erwächst, in der Jugend einmal eine ernste Arbeit an einen würdigen Gegenstand gewendet zu haben. Nulwur, inen multa ist ein Spruch, der auf keinem Gebiete dringender Anwendung fordert, als auf dem der Pädagogik, und hier wieder auf dem der Mädchenschulpädagogik. Das Mittel, diesen Mißstand zu beseitigen und dadurch zugleich mit einem Schlage die für unsre Töchter in erhöhtem Maße verhängnisvolle Über¬ bürdung zu beseitigen, ist sehr einfach. Man gehe von dem Vorbilde der höhern Knabenschulen ab und verlasse den Standpunkt, daß ein Mädchen auf der Schule von allem etwas lernen müsse. Man fasse den Mut, zu gestehen, daß es für unsre Töchter sehr unschädlich und gleichgiltig ist, ob sie auf dem Gebiete der sogenannten allgemeinen Bildung — was für ein Unfug ist schou mit diesem Worte getrieben worden! — hie und da eine Lücke haben, wenn sie statt dessen für irgend ein Wissensgebiet ernsteres Interesse fassen und Be¬ friedigung in der Beschäftigung damit finden. Was liegt daran, ob meine Tochter einst nicht weiß, was positive und negative Elektrizität oder ein Bunsensches Element ist, oder über welche Orte der dreinndvierzigste Breiten¬ grad läuft, wenn sie dafür z. B. an der Geschichte Gefallen findet, sich ernstlich damit beschäftigt in den zahlreichen Stunden, die die häusliche Thätigkeit übrig läßt und die ihre Genossinnen dem verflachenden Gesellschafts- und Theaterleben widmen, und wenn sie einst ihre heranwachsenden Sohne auf dieses Gebiet begleiten kann. Welch andrer Segen erwächst daraus für Haus und Familie als aus dem Anblick einer Mutter, die an der geistigen Ent¬ wicklung ihrer Kinder nicht teilnehmen kann, weil nichts von dem Vielerlei, daß sie einmal gewußt hat, tiefere Wurzeln geschlagen hat. Die Franzosen sind bei der Organisation ihres höhern Mädchenschulwesens von diesen Gedanken geleitet worden. Ihre erste» Schulmänner, z. B. der geist¬ volle Rektor der Pariser Akademie Octave Grvard, Mitglied der ^eg-äviniv ?i'g,u<M8<z, haben sich mit vollem Bewußtsein von der Wichtigkeit der Sache mit den l^ovss as ^fünff Woh beschäftigt, und ans ihren Beratungen ist ein in seiner Art vortrefflicher Lehrplan für die höhern Mädchenschulen hervor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/322>, abgerufen am 25.08.2024.