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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

komm Erdenwinkel seine Weltverbesserungspläne ausspinnt und den Tieren
der Wüste predigt, sondern die diesen und "freien, sehr freien" Denker, die
"hochstrebendsten Geister der Nation" ihm, "dem leuchtendsten Gestirne am
deutschen Geisteshimmel," freudig Nachfolge leisten und ihm mit der blinden
Begeisterung der Nevphhten als den Weltenretter, den frischen, fröhlichen
Erdengott, den Siegfried im Reiche der Geister, den mächtigen Drachentöter
preisen, der die alten Kulturformen zerbrechen und die Menschheitsgeschichte
im zwanzigsten Jahrhundert auf ihre letzten idealen Höhen führen wird. Die
Herolde seines Namens und seiner Lehre, nicht bloß junge Leute, deren wissen¬
schaftlicher Ehrgeiz mit dem Eiujührigfreiwilligenzeugnis gestillt ist, sondern
auch einige geschulte Köpfe sind schon seit Jahren dabei, in Zeitschriften auch
weitern Kreisen deu Zugang in die nicht leicht verständliche Gedankenwelt
des "Meisters" zu erschließen, und es fehlt nicht an Anzeichen dafür, daß die
Lehren dieses rücksichtslosen Individualismus auf das Denken unsers Volkes
zu wirken beginnen. Nietzsche ist ein Lehrer, der, wenn er sich auch in dem
Anspruch aus unbedingte Ursprünglichkeit seiner Hauptgedanken täuscht, durch
die stahlhnrte Rücksichtslosigkeit seiner Schlüsse, den Hvchflng feiner Phantasie
und die "sieghafte Schönheit" der Sprache in dein alles verschlingen¬
den sozialen Einerlei eine Gemeinde von Kraftnaturen um sich zu sammeln
beginnt. Und ganz zweifellos ist er ein hervorragender Geist mit gründlichem
Tiefblick in die Probleme des Lebens. Auch Glanz des Vortrags kann man
ihm nicht absprechen. Seine Sprache hat beides, kraftvolle Muskulatur und
tändelnde Grazie; er verfügt über das treffende Bild, das schlagende Wort,
den malerischen Ausdruck und versteht es, Stimmung mitzuteilen und Denken
wie Empfinden in Bewegung zu setzen. Nach alledem verdient er es wohl,
daß man ihn liest, studirt, ihm nachgeht, sich ihn aneignet oder -- grund¬
sätzlich ablehnt.

Nietzsche steht, wenn auch sein Geist jetzt völlig gebrochen ist, noch in der
Vollkraft der Jahre; er wurde am 15. Oktober 1844 in dem Pfarrhause von
Röcken (auf dem Schlachtfelde von Llltzen) geboren. Seine Großmutter soll
Beziehungen zu den Goethischen Kreisen gehabt haben; sein Vater hat, wie
Hcmsson mitteilt, sein Amt wegen unheilbarer Geisteskrankheit aufgeben müssen.

Die Heldengestalt des großen Schwedenkönigs Gustav Adolf erfüllte den
Jugendtraum des Knaben. Im Herbst 1858 wurde er mit dem Verfasser
dieser Zeilen in die Untertertia der Fürstenschule zu Pforta aufgenommen.
Dort galt er als einer der begabtesten; spielend erfüllte er die nicht immer
leichten Anforderungen der Lehrer. Für grammatische Quisquilien ging ihm
die Neigung ab; auch in die Geheimnisse des lateinischen Versbaus, der sich
bekanntlich auf deu Fürstenschulen einer besondern Pflege erfreut, drang er
nur mit Unlust ein. Aber in dein Verständnis des Schriftstellers, in der
Nachempfindung der antiken Sprachschönheit, in dem Verständnis der Ge-


Die Philosophie vom Übermenschen

komm Erdenwinkel seine Weltverbesserungspläne ausspinnt und den Tieren
der Wüste predigt, sondern die diesen und „freien, sehr freien" Denker, die
„hochstrebendsten Geister der Nation" ihm, „dem leuchtendsten Gestirne am
deutschen Geisteshimmel," freudig Nachfolge leisten und ihm mit der blinden
Begeisterung der Nevphhten als den Weltenretter, den frischen, fröhlichen
Erdengott, den Siegfried im Reiche der Geister, den mächtigen Drachentöter
preisen, der die alten Kulturformen zerbrechen und die Menschheitsgeschichte
im zwanzigsten Jahrhundert auf ihre letzten idealen Höhen führen wird. Die
Herolde seines Namens und seiner Lehre, nicht bloß junge Leute, deren wissen¬
schaftlicher Ehrgeiz mit dem Eiujührigfreiwilligenzeugnis gestillt ist, sondern
auch einige geschulte Köpfe sind schon seit Jahren dabei, in Zeitschriften auch
weitern Kreisen deu Zugang in die nicht leicht verständliche Gedankenwelt
des „Meisters" zu erschließen, und es fehlt nicht an Anzeichen dafür, daß die
Lehren dieses rücksichtslosen Individualismus auf das Denken unsers Volkes
zu wirken beginnen. Nietzsche ist ein Lehrer, der, wenn er sich auch in dem
Anspruch aus unbedingte Ursprünglichkeit seiner Hauptgedanken täuscht, durch
die stahlhnrte Rücksichtslosigkeit seiner Schlüsse, den Hvchflng feiner Phantasie
und die „sieghafte Schönheit" der Sprache in dein alles verschlingen¬
den sozialen Einerlei eine Gemeinde von Kraftnaturen um sich zu sammeln
beginnt. Und ganz zweifellos ist er ein hervorragender Geist mit gründlichem
Tiefblick in die Probleme des Lebens. Auch Glanz des Vortrags kann man
ihm nicht absprechen. Seine Sprache hat beides, kraftvolle Muskulatur und
tändelnde Grazie; er verfügt über das treffende Bild, das schlagende Wort,
den malerischen Ausdruck und versteht es, Stimmung mitzuteilen und Denken
wie Empfinden in Bewegung zu setzen. Nach alledem verdient er es wohl,
daß man ihn liest, studirt, ihm nachgeht, sich ihn aneignet oder — grund¬
sätzlich ablehnt.

Nietzsche steht, wenn auch sein Geist jetzt völlig gebrochen ist, noch in der
Vollkraft der Jahre; er wurde am 15. Oktober 1844 in dem Pfarrhause von
Röcken (auf dem Schlachtfelde von Llltzen) geboren. Seine Großmutter soll
Beziehungen zu den Goethischen Kreisen gehabt haben; sein Vater hat, wie
Hcmsson mitteilt, sein Amt wegen unheilbarer Geisteskrankheit aufgeben müssen.

Die Heldengestalt des großen Schwedenkönigs Gustav Adolf erfüllte den
Jugendtraum des Knaben. Im Herbst 1858 wurde er mit dem Verfasser
dieser Zeilen in die Untertertia der Fürstenschule zu Pforta aufgenommen.
Dort galt er als einer der begabtesten; spielend erfüllte er die nicht immer
leichten Anforderungen der Lehrer. Für grammatische Quisquilien ging ihm
die Neigung ab; auch in die Geheimnisse des lateinischen Versbaus, der sich
bekanntlich auf deu Fürstenschulen einer besondern Pflege erfreut, drang er
nur mit Unlust ein. Aber in dein Verständnis des Schriftstellers, in der
Nachempfindung der antiken Sprachschönheit, in dem Verständnis der Ge-


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[0032] Die Philosophie vom Übermenschen komm Erdenwinkel seine Weltverbesserungspläne ausspinnt und den Tieren der Wüste predigt, sondern die diesen und „freien, sehr freien" Denker, die „hochstrebendsten Geister der Nation" ihm, „dem leuchtendsten Gestirne am deutschen Geisteshimmel," freudig Nachfolge leisten und ihm mit der blinden Begeisterung der Nevphhten als den Weltenretter, den frischen, fröhlichen Erdengott, den Siegfried im Reiche der Geister, den mächtigen Drachentöter preisen, der die alten Kulturformen zerbrechen und die Menschheitsgeschichte im zwanzigsten Jahrhundert auf ihre letzten idealen Höhen führen wird. Die Herolde seines Namens und seiner Lehre, nicht bloß junge Leute, deren wissen¬ schaftlicher Ehrgeiz mit dem Eiujührigfreiwilligenzeugnis gestillt ist, sondern auch einige geschulte Köpfe sind schon seit Jahren dabei, in Zeitschriften auch weitern Kreisen deu Zugang in die nicht leicht verständliche Gedankenwelt des „Meisters" zu erschließen, und es fehlt nicht an Anzeichen dafür, daß die Lehren dieses rücksichtslosen Individualismus auf das Denken unsers Volkes zu wirken beginnen. Nietzsche ist ein Lehrer, der, wenn er sich auch in dem Anspruch aus unbedingte Ursprünglichkeit seiner Hauptgedanken täuscht, durch die stahlhnrte Rücksichtslosigkeit seiner Schlüsse, den Hvchflng feiner Phantasie und die „sieghafte Schönheit" der Sprache in dein alles verschlingen¬ den sozialen Einerlei eine Gemeinde von Kraftnaturen um sich zu sammeln beginnt. Und ganz zweifellos ist er ein hervorragender Geist mit gründlichem Tiefblick in die Probleme des Lebens. Auch Glanz des Vortrags kann man ihm nicht absprechen. Seine Sprache hat beides, kraftvolle Muskulatur und tändelnde Grazie; er verfügt über das treffende Bild, das schlagende Wort, den malerischen Ausdruck und versteht es, Stimmung mitzuteilen und Denken wie Empfinden in Bewegung zu setzen. Nach alledem verdient er es wohl, daß man ihn liest, studirt, ihm nachgeht, sich ihn aneignet oder — grund¬ sätzlich ablehnt. Nietzsche steht, wenn auch sein Geist jetzt völlig gebrochen ist, noch in der Vollkraft der Jahre; er wurde am 15. Oktober 1844 in dem Pfarrhause von Röcken (auf dem Schlachtfelde von Llltzen) geboren. Seine Großmutter soll Beziehungen zu den Goethischen Kreisen gehabt haben; sein Vater hat, wie Hcmsson mitteilt, sein Amt wegen unheilbarer Geisteskrankheit aufgeben müssen. Die Heldengestalt des großen Schwedenkönigs Gustav Adolf erfüllte den Jugendtraum des Knaben. Im Herbst 1858 wurde er mit dem Verfasser dieser Zeilen in die Untertertia der Fürstenschule zu Pforta aufgenommen. Dort galt er als einer der begabtesten; spielend erfüllte er die nicht immer leichten Anforderungen der Lehrer. Für grammatische Quisquilien ging ihm die Neigung ab; auch in die Geheimnisse des lateinischen Versbaus, der sich bekanntlich auf deu Fürstenschulen einer besondern Pflege erfreut, drang er nur mit Unlust ein. Aber in dein Verständnis des Schriftstellers, in der Nachempfindung der antiken Sprachschönheit, in dem Verständnis der Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/32>, abgerufen am 22.12.2024.