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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie vom Übermenschen

Notwendigkeit dar, den einzelnen wieder an die Lebensformen der Gesamtheit
zu knüpfen und ihn unter Beschränkung der wildeu Jnteressenjagd wieder
auf den Boden der Gesellschaft zu stellen.

Aber der Sozialismus, der nun die Pflege dieser Gesellschaftsinteressen
übernahm, verfiel auch seinerseits sosort in Übertreibung. Ihm ist die Ge¬
sellschaft, die Gesamtheit alles, das Individuum nichts. In dem allgemeinen
Nivellirungsprvzeß geht der einzelne unter. Der Mensch als Typus geht
zurück. Der Unterschied zwischen Mensch und Mensch hört auf. Die Denker,
die Helden, die großen Menschheitslehrer und -bittrer sind dahin, wir sind in
die Zeit des Dutzend- und Durchschnittsmenschentums eingetreten. Die Mensch¬
heit stirbt an ihrer Mittelmäßigkeit. Ihr Ideal ist in sein Gegenteil ver¬
kehrt. Ohne Aufschwung und Kraft, geistig und sittlich geschwächt und ab¬
gestumpft, strebt der Herdenmensch nicht nach oben, sondern trottet, von innerer
Leere geschoben, in die Niederungen der Unkultur zurück.

Gegen die Kulturwidrigkeit dieser allgemeinen Gleichheit ist nun neuer¬
dings Friedrich Nietzsche als Erneuerer eines rücksichtslosen Individualismus
aufgetreten und hat sich mit seiner neuen Moral, einer ins maßlose gestei¬
gerten Verherrlichung des "Jchtriebs." dem Ansturm der sozialen Massen ent¬
gegenzustellen versucht. Freilich macht es die Verquickung der neuen Lehren
mit Gedankenreichen, die den überkommnen Formen unsers Lebens, Empfindens
und Urteilens schnurstracks zuwiderlaufen, sehr fraglich, ob dieser Widerstand
eines genialen Kopfes Mitkämpfer um sich sammeln und als Mauerbrecher
gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung Erfolg haben wird. Man mag
jedoch Nietzsches Lehre als "letztes Aufleuchten einer dahinsterbenden Welt¬
anschauung" ansehen oder als ersten Versuch einer Umkehr, als Boten einer
gesellschaftlichen Neuschöpfung, die das Ideal des wahren Menschentums ver¬
wirklicht, jedenfalls ist in dem allgemeinen Nmformungsprozesse der Gegenwart
ein Weltverbesserer wie Nietzsche nicht nur als Philosoph und Sozialethiker,
sondern auch als konsequenter, scharfer Denker und geistvoller Schriftsteller der
Beachtung wert.

An diesem Propheten einer Zukuuftskultur. der sich die Umwertung aller
Werte, die Umformung der Gesellschaft auf neuen sittlichen und Kulturgruud-
lcigen zur Aufgabe gesetzt hat, an diesem Menschheitslehrer, der Gott, Sitt¬
lichkeit, Wahrheit, Gewissen, Pflicht, Sunde, Tugend leugnet und an ihrer
Stelle die Entfesselung des Ichs, d. h. die blutigen und grausamen Raub-
tieriustiuktc der "schweifenden blonden Bestie" als "berechtigte und notwendige
Lebenstriebe" anpreist, die gesteigert werde" mußten, wenn das Lebensgefühl
gesteigert werden soll, an einem Manne, der mit dieser Apotheose der Selbst¬
sucht in den allerschärfsten Gegensatz zu Christentum und Kultur tritt, darf
der, der die Entwickelung unsers heutigen Geisteslebens aufmerksam verfolgt,
U'n so weniger vorübergehn, als Nietzsche nicht etwa in irgend einem ver-


Die Philosophie vom Übermenschen

Notwendigkeit dar, den einzelnen wieder an die Lebensformen der Gesamtheit
zu knüpfen und ihn unter Beschränkung der wildeu Jnteressenjagd wieder
auf den Boden der Gesellschaft zu stellen.

Aber der Sozialismus, der nun die Pflege dieser Gesellschaftsinteressen
übernahm, verfiel auch seinerseits sosort in Übertreibung. Ihm ist die Ge¬
sellschaft, die Gesamtheit alles, das Individuum nichts. In dem allgemeinen
Nivellirungsprvzeß geht der einzelne unter. Der Mensch als Typus geht
zurück. Der Unterschied zwischen Mensch und Mensch hört auf. Die Denker,
die Helden, die großen Menschheitslehrer und -bittrer sind dahin, wir sind in
die Zeit des Dutzend- und Durchschnittsmenschentums eingetreten. Die Mensch¬
heit stirbt an ihrer Mittelmäßigkeit. Ihr Ideal ist in sein Gegenteil ver¬
kehrt. Ohne Aufschwung und Kraft, geistig und sittlich geschwächt und ab¬
gestumpft, strebt der Herdenmensch nicht nach oben, sondern trottet, von innerer
Leere geschoben, in die Niederungen der Unkultur zurück.

Gegen die Kulturwidrigkeit dieser allgemeinen Gleichheit ist nun neuer¬
dings Friedrich Nietzsche als Erneuerer eines rücksichtslosen Individualismus
aufgetreten und hat sich mit seiner neuen Moral, einer ins maßlose gestei¬
gerten Verherrlichung des „Jchtriebs." dem Ansturm der sozialen Massen ent¬
gegenzustellen versucht. Freilich macht es die Verquickung der neuen Lehren
mit Gedankenreichen, die den überkommnen Formen unsers Lebens, Empfindens
und Urteilens schnurstracks zuwiderlaufen, sehr fraglich, ob dieser Widerstand
eines genialen Kopfes Mitkämpfer um sich sammeln und als Mauerbrecher
gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung Erfolg haben wird. Man mag
jedoch Nietzsches Lehre als „letztes Aufleuchten einer dahinsterbenden Welt¬
anschauung" ansehen oder als ersten Versuch einer Umkehr, als Boten einer
gesellschaftlichen Neuschöpfung, die das Ideal des wahren Menschentums ver¬
wirklicht, jedenfalls ist in dem allgemeinen Nmformungsprozesse der Gegenwart
ein Weltverbesserer wie Nietzsche nicht nur als Philosoph und Sozialethiker,
sondern auch als konsequenter, scharfer Denker und geistvoller Schriftsteller der
Beachtung wert.

An diesem Propheten einer Zukuuftskultur. der sich die Umwertung aller
Werte, die Umformung der Gesellschaft auf neuen sittlichen und Kulturgruud-
lcigen zur Aufgabe gesetzt hat, an diesem Menschheitslehrer, der Gott, Sitt¬
lichkeit, Wahrheit, Gewissen, Pflicht, Sunde, Tugend leugnet und an ihrer
Stelle die Entfesselung des Ichs, d. h. die blutigen und grausamen Raub-
tieriustiuktc der „schweifenden blonden Bestie" als „berechtigte und notwendige
Lebenstriebe" anpreist, die gesteigert werde» mußten, wenn das Lebensgefühl
gesteigert werden soll, an einem Manne, der mit dieser Apotheose der Selbst¬
sucht in den allerschärfsten Gegensatz zu Christentum und Kultur tritt, darf
der, der die Entwickelung unsers heutigen Geisteslebens aufmerksam verfolgt,
U'n so weniger vorübergehn, als Nietzsche nicht etwa in irgend einem ver-


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[0031] Die Philosophie vom Übermenschen Notwendigkeit dar, den einzelnen wieder an die Lebensformen der Gesamtheit zu knüpfen und ihn unter Beschränkung der wildeu Jnteressenjagd wieder auf den Boden der Gesellschaft zu stellen. Aber der Sozialismus, der nun die Pflege dieser Gesellschaftsinteressen übernahm, verfiel auch seinerseits sosort in Übertreibung. Ihm ist die Ge¬ sellschaft, die Gesamtheit alles, das Individuum nichts. In dem allgemeinen Nivellirungsprvzeß geht der einzelne unter. Der Mensch als Typus geht zurück. Der Unterschied zwischen Mensch und Mensch hört auf. Die Denker, die Helden, die großen Menschheitslehrer und -bittrer sind dahin, wir sind in die Zeit des Dutzend- und Durchschnittsmenschentums eingetreten. Die Mensch¬ heit stirbt an ihrer Mittelmäßigkeit. Ihr Ideal ist in sein Gegenteil ver¬ kehrt. Ohne Aufschwung und Kraft, geistig und sittlich geschwächt und ab¬ gestumpft, strebt der Herdenmensch nicht nach oben, sondern trottet, von innerer Leere geschoben, in die Niederungen der Unkultur zurück. Gegen die Kulturwidrigkeit dieser allgemeinen Gleichheit ist nun neuer¬ dings Friedrich Nietzsche als Erneuerer eines rücksichtslosen Individualismus aufgetreten und hat sich mit seiner neuen Moral, einer ins maßlose gestei¬ gerten Verherrlichung des „Jchtriebs." dem Ansturm der sozialen Massen ent¬ gegenzustellen versucht. Freilich macht es die Verquickung der neuen Lehren mit Gedankenreichen, die den überkommnen Formen unsers Lebens, Empfindens und Urteilens schnurstracks zuwiderlaufen, sehr fraglich, ob dieser Widerstand eines genialen Kopfes Mitkämpfer um sich sammeln und als Mauerbrecher gegen die sozialistische Gesellschaftsordnung Erfolg haben wird. Man mag jedoch Nietzsches Lehre als „letztes Aufleuchten einer dahinsterbenden Welt¬ anschauung" ansehen oder als ersten Versuch einer Umkehr, als Boten einer gesellschaftlichen Neuschöpfung, die das Ideal des wahren Menschentums ver¬ wirklicht, jedenfalls ist in dem allgemeinen Nmformungsprozesse der Gegenwart ein Weltverbesserer wie Nietzsche nicht nur als Philosoph und Sozialethiker, sondern auch als konsequenter, scharfer Denker und geistvoller Schriftsteller der Beachtung wert. An diesem Propheten einer Zukuuftskultur. der sich die Umwertung aller Werte, die Umformung der Gesellschaft auf neuen sittlichen und Kulturgruud- lcigen zur Aufgabe gesetzt hat, an diesem Menschheitslehrer, der Gott, Sitt¬ lichkeit, Wahrheit, Gewissen, Pflicht, Sunde, Tugend leugnet und an ihrer Stelle die Entfesselung des Ichs, d. h. die blutigen und grausamen Raub- tieriustiuktc der „schweifenden blonden Bestie" als „berechtigte und notwendige Lebenstriebe" anpreist, die gesteigert werde» mußten, wenn das Lebensgefühl gesteigert werden soll, an einem Manne, der mit dieser Apotheose der Selbst¬ sucht in den allerschärfsten Gegensatz zu Christentum und Kultur tritt, darf der, der die Entwickelung unsers heutigen Geisteslebens aufmerksam verfolgt, U'n so weniger vorübergehn, als Nietzsche nicht etwa in irgend einem ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/31>, abgerufen am 22.12.2024.