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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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nehmer vorenthalten, der demnach ein Räuber sei. Die Anhänger des be¬
stehenden hingegen seien der Ansicht, "daß die Entlohnung*) des Arbeiters
von heute seiner Leistung ungefähr entspreche, daß also die Privateigentums¬
ordnung von heute dem Rechte uicht entgegen sei, und Reformen nur karitativ,
als Akte der Nächstenliebe über das nackte Recht hinaus gedacht werden können."
Wolf Hütte, nachdem er einmal die aristokratische und die demokratische Moral
in die Betrachtung hineingezogen hat, ausdrücklich darauf hinweisen müssen,
daß die erstere heut "vom Manchestertum und von der Feudalität" (in diese beiden
Klassen teilt er die Anhänger der kapitalistischen Wirtschaft ein), die zweite
von den Sozialdemokraten vertreten wird. Zwischen diesen beiden Parteien
der Jnteressirten, deren Meinung klar sei, stehe die vermittelnde Partei der
Uninteressirten, die die Klarheit vermissen lasse. Diese meine, "die gegenwär¬
tige Wirtschaftsordnung führe die Möglichkeit einer Vergewaltigung des Ar¬
beiters durch den Unternehmer mit sich, und diese Vergewaltigung sei heute
bis zu gewissem jeinem gewissen^ Grade eine Thatsache. Inwieweit? Darauf
wird uns eine höchst unsichre Antwort oder gar keine gegeben. Dagegen wird
ausgeführt, jener Vergewaltigung und Vergewaltigungsmöglichkeit müsse ein
Ende gemacht oder wenigstens müßten die Folgen der Vergewaltigung ab¬
gewendet werden, ersteres mehr im Wege privater Organisation der Arbeiter,
letzteres mit Bevorzugung staatlichen Eingreifens in die "natürliche" Gestaltung
der Dinge." Der Kathedersozialismus oder Staatssozialismus, unter welchen
beiden Benennungen die Männer der vermittelnden Richtung zusammengefaßt
zu werden Pflegen, unterscheidet sich also zunächst dadurch vom Sozialismus,
daß er die Beraubung des Arbeiters durch den Unternehmer unter der Herr¬
schaft des kapitalistischen Wirtschaftsshstems nicht für notwendig und unver¬
meidlich, souderu nur für möglich und stellenweise wirklich erklärt. Außerdem
begründet er auch uoch die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer ein
wenig anders als die Sozialisten. Der Arbeiter, so pflegen Professor Brentano
und seine Gesinnungsgenossen auszuführen, habe nichts als seinen Arbeitslohn,
um sein Leben zu fristen. Er befinde sich daher beim Verkauf seiner Arbeits¬
kraft stets in der Lage des Falkner, der um jeden Preis, also auch um einen
Spottpreis losschlagen müsse. Demnach könne ihm geholfen werden, wenn er,
z.B. dnrch gewerkschaftliche Organisation, in den Stand gesetzt werde, eine
Zeitlang auf Arbeitslohn zu verzichte"; denn dann sei er stark genug, den
Lohn zu erzwingen, der dem Werte seiner Leistung entspreche. Die Sozia-



*1 In dieser jetzt so beliebten Zusammensetzung liegt eine unfreiwillige bittere Ironie.
Entlohnen kann nämlich vernünftigerweise nichts andres bedeuten, als einen seines Lohnes
berauben. Vergl. entblättern, entlauben, entleihen, entmannen, entkerne", entseclen, entvöl¬
kern u. s. w. Denen, die das Wort gebildet haben, hat wohl dunkel vorgeschwebt: jemand
seinen Lohn auszahlen und ihn damit entlassen. Das läßt sich aber eben nicht in eine"
D R Begriff zuscuumeuquetschen.
Grenzboten IV 18S2 M

nehmer vorenthalten, der demnach ein Räuber sei. Die Anhänger des be¬
stehenden hingegen seien der Ansicht, „daß die Entlohnung*) des Arbeiters
von heute seiner Leistung ungefähr entspreche, daß also die Privateigentums¬
ordnung von heute dem Rechte uicht entgegen sei, und Reformen nur karitativ,
als Akte der Nächstenliebe über das nackte Recht hinaus gedacht werden können."
Wolf Hütte, nachdem er einmal die aristokratische und die demokratische Moral
in die Betrachtung hineingezogen hat, ausdrücklich darauf hinweisen müssen,
daß die erstere heut „vom Manchestertum und von der Feudalität" (in diese beiden
Klassen teilt er die Anhänger der kapitalistischen Wirtschaft ein), die zweite
von den Sozialdemokraten vertreten wird. Zwischen diesen beiden Parteien
der Jnteressirten, deren Meinung klar sei, stehe die vermittelnde Partei der
Uninteressirten, die die Klarheit vermissen lasse. Diese meine, „die gegenwär¬
tige Wirtschaftsordnung führe die Möglichkeit einer Vergewaltigung des Ar¬
beiters durch den Unternehmer mit sich, und diese Vergewaltigung sei heute
bis zu gewissem jeinem gewissen^ Grade eine Thatsache. Inwieweit? Darauf
wird uns eine höchst unsichre Antwort oder gar keine gegeben. Dagegen wird
ausgeführt, jener Vergewaltigung und Vergewaltigungsmöglichkeit müsse ein
Ende gemacht oder wenigstens müßten die Folgen der Vergewaltigung ab¬
gewendet werden, ersteres mehr im Wege privater Organisation der Arbeiter,
letzteres mit Bevorzugung staatlichen Eingreifens in die »natürliche« Gestaltung
der Dinge." Der Kathedersozialismus oder Staatssozialismus, unter welchen
beiden Benennungen die Männer der vermittelnden Richtung zusammengefaßt
zu werden Pflegen, unterscheidet sich also zunächst dadurch vom Sozialismus,
daß er die Beraubung des Arbeiters durch den Unternehmer unter der Herr¬
schaft des kapitalistischen Wirtschaftsshstems nicht für notwendig und unver¬
meidlich, souderu nur für möglich und stellenweise wirklich erklärt. Außerdem
begründet er auch uoch die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer ein
wenig anders als die Sozialisten. Der Arbeiter, so pflegen Professor Brentano
und seine Gesinnungsgenossen auszuführen, habe nichts als seinen Arbeitslohn,
um sein Leben zu fristen. Er befinde sich daher beim Verkauf seiner Arbeits¬
kraft stets in der Lage des Falkner, der um jeden Preis, also auch um einen
Spottpreis losschlagen müsse. Demnach könne ihm geholfen werden, wenn er,
z.B. dnrch gewerkschaftliche Organisation, in den Stand gesetzt werde, eine
Zeitlang auf Arbeitslohn zu verzichte»; denn dann sei er stark genug, den
Lohn zu erzwingen, der dem Werte seiner Leistung entspreche. Die Sozia-



*1 In dieser jetzt so beliebten Zusammensetzung liegt eine unfreiwillige bittere Ironie.
Entlohnen kann nämlich vernünftigerweise nichts andres bedeuten, als einen seines Lohnes
berauben. Vergl. entblättern, entlauben, entleihen, entmannen, entkerne», entseclen, entvöl¬
kern u. s. w. Denen, die das Wort gebildet haben, hat wohl dunkel vorgeschwebt: jemand
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[0313] nehmer vorenthalten, der demnach ein Räuber sei. Die Anhänger des be¬ stehenden hingegen seien der Ansicht, „daß die Entlohnung*) des Arbeiters von heute seiner Leistung ungefähr entspreche, daß also die Privateigentums¬ ordnung von heute dem Rechte uicht entgegen sei, und Reformen nur karitativ, als Akte der Nächstenliebe über das nackte Recht hinaus gedacht werden können." Wolf Hütte, nachdem er einmal die aristokratische und die demokratische Moral in die Betrachtung hineingezogen hat, ausdrücklich darauf hinweisen müssen, daß die erstere heut „vom Manchestertum und von der Feudalität" (in diese beiden Klassen teilt er die Anhänger der kapitalistischen Wirtschaft ein), die zweite von den Sozialdemokraten vertreten wird. Zwischen diesen beiden Parteien der Jnteressirten, deren Meinung klar sei, stehe die vermittelnde Partei der Uninteressirten, die die Klarheit vermissen lasse. Diese meine, „die gegenwär¬ tige Wirtschaftsordnung führe die Möglichkeit einer Vergewaltigung des Ar¬ beiters durch den Unternehmer mit sich, und diese Vergewaltigung sei heute bis zu gewissem jeinem gewissen^ Grade eine Thatsache. Inwieweit? Darauf wird uns eine höchst unsichre Antwort oder gar keine gegeben. Dagegen wird ausgeführt, jener Vergewaltigung und Vergewaltigungsmöglichkeit müsse ein Ende gemacht oder wenigstens müßten die Folgen der Vergewaltigung ab¬ gewendet werden, ersteres mehr im Wege privater Organisation der Arbeiter, letzteres mit Bevorzugung staatlichen Eingreifens in die »natürliche« Gestaltung der Dinge." Der Kathedersozialismus oder Staatssozialismus, unter welchen beiden Benennungen die Männer der vermittelnden Richtung zusammengefaßt zu werden Pflegen, unterscheidet sich also zunächst dadurch vom Sozialismus, daß er die Beraubung des Arbeiters durch den Unternehmer unter der Herr¬ schaft des kapitalistischen Wirtschaftsshstems nicht für notwendig und unver¬ meidlich, souderu nur für möglich und stellenweise wirklich erklärt. Außerdem begründet er auch uoch die Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer ein wenig anders als die Sozialisten. Der Arbeiter, so pflegen Professor Brentano und seine Gesinnungsgenossen auszuführen, habe nichts als seinen Arbeitslohn, um sein Leben zu fristen. Er befinde sich daher beim Verkauf seiner Arbeits¬ kraft stets in der Lage des Falkner, der um jeden Preis, also auch um einen Spottpreis losschlagen müsse. Demnach könne ihm geholfen werden, wenn er, z.B. dnrch gewerkschaftliche Organisation, in den Stand gesetzt werde, eine Zeitlang auf Arbeitslohn zu verzichte»; denn dann sei er stark genug, den Lohn zu erzwingen, der dem Werte seiner Leistung entspreche. Die Sozia- *1 In dieser jetzt so beliebten Zusammensetzung liegt eine unfreiwillige bittere Ironie. Entlohnen kann nämlich vernünftigerweise nichts andres bedeuten, als einen seines Lohnes berauben. Vergl. entblättern, entlauben, entleihen, entmannen, entkerne», entseclen, entvöl¬ kern u. s. w. Denen, die das Wort gebildet haben, hat wohl dunkel vorgeschwebt: jemand seinen Lohn auszahlen und ihn damit entlassen. Das läßt sich aber eben nicht in eine» D R Begriff zuscuumeuquetschen. Grenzboten IV 18S2 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/313>, abgerufen am 23.07.2024.