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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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die Kriminalstatistik alljährlich das Gegenteil beweisen läßt, daß aber diesen
Beweisen keine Bedeutung beizumessen ist. Wenn ans den Gegenden mit
schlechtester Schulbildung, die meistens zugleich auch die ärmsten und die zwei¬
sprachigen sind, mehr "Strafthaten" gemeldet werden, als ans andern mit
beßrer Schulbildung, so ist erstens zu bedeuten, daß in einer zweisprachigen
Gegend ans Gründen, die auf der Hand liegen, zahlreiche Konflikte mit der
.Staatsgewalt" unvermeidlich sind, ohne daß daraus auf eine besondre Bos¬
heit, Sittenlosigkeit und Verderbnis der Bevölkerung geschlossen zu werden
braucht, und daß zweitens ein einziger betrügerischer Bankerott großen Stils
sowohl in der Niedertracht der Gesinnung wie in Beziehung auf den volks¬
wirtschaftlichen Schaden, den er anrichtet, eintausend bis zehntausend Mund¬
diebstähle, Holz- und Kohlendiebstähle armer Leute, Polizeikontraventioneu von
Droschkenkutschern und andern Fuhrleuten, kriminalistisch behandelte Dumme¬
jungenstreiche und andre dergleichen "Strafthaten" aufwiegt. Denen, die dem
Kinde des Armen aus christlicher Nächstenliebe ein Minimum von Schulbil¬
dung als Almosen gewähren wollen, hält Gronlund entgegen, daß man mit
weit größeren Rechte fordern könne, der Staat solle dem Kinde des Armen
ein tägliches Rostbeef mit Plumpudding gewähren; nnr im Sozialistenstaate,
der jedem Kinde vor allem die leibliche Ernährung sichre, habe der allgemeine
Schulunterricht Sinn. Er hätte hinzufügen können, daß frühere Geschlechter
die höchsten Blüten der Geistes- und Herzensbildung gezeitigt haben ohne die
Vuchstabenkuude unsrer Schulen, und daß diese, wie Holtzendorffs englischer
Landsquire so schön ausführt, recht herzlich wenig bedeutet.

Während so. führt Gronlund weiter aus, die Regierungen selbst die
Massen für die wahre und echte Demokratie des zukünftigen Sozialistenstaats
erziehen, beweisen die Kapitalisten seine Durchführbarkeit durch ihre Trusts,
Ninge und Kartelle, mit deren Hilfe sie je nach Bedarf die Produktion ein¬
schränken oder erweitern, die Preise fallen lasten oder hinaufschrauben. Es
dürfte nicht lange mehr währen, und alle Steinkohlenlager der Vereinigten
Staaten werden vier Gesellschaften, d. h, in Wirklichkeit vier Personen gehören,
und diese vier Personen werden es in ihrer Gewalt haben, zu bestimmen, wie
dick Kohle alljährlich gefördert, wo, wann und wie derer sie verkauft werden
soll. Was sind diese Ringe anders als Zentralisirnng der Produktion und
ihre Leitung vou den wenigen Mittelpunkten aus? Und wenn die Produktion
öentralisirt und organisirt werden kann, um durch den Mangel der Vielen die
wenigen zu bereichern, warum sollte sie nicht auch zentralisirt und organisirt
Werden können, um alle ohne Ausnahme reichlich mit Gütern zu versorgen?
Vernunft und Gewissen fordern es gleichmüßig, daß man von dieser die Masse
schädigenden Organisation im Dienste weniger übergehe zu einer Organisation
un Dienste der Gesamtheit, die niemanden schädigt, d. h. also, daß der Staat
d'e Produktion in die Hand nehme.


die Kriminalstatistik alljährlich das Gegenteil beweisen läßt, daß aber diesen
Beweisen keine Bedeutung beizumessen ist. Wenn ans den Gegenden mit
schlechtester Schulbildung, die meistens zugleich auch die ärmsten und die zwei¬
sprachigen sind, mehr „Strafthaten" gemeldet werden, als ans andern mit
beßrer Schulbildung, so ist erstens zu bedeuten, daß in einer zweisprachigen
Gegend ans Gründen, die auf der Hand liegen, zahlreiche Konflikte mit der
.Staatsgewalt" unvermeidlich sind, ohne daß daraus auf eine besondre Bos¬
heit, Sittenlosigkeit und Verderbnis der Bevölkerung geschlossen zu werden
braucht, und daß zweitens ein einziger betrügerischer Bankerott großen Stils
sowohl in der Niedertracht der Gesinnung wie in Beziehung auf den volks¬
wirtschaftlichen Schaden, den er anrichtet, eintausend bis zehntausend Mund¬
diebstähle, Holz- und Kohlendiebstähle armer Leute, Polizeikontraventioneu von
Droschkenkutschern und andern Fuhrleuten, kriminalistisch behandelte Dumme¬
jungenstreiche und andre dergleichen „Strafthaten" aufwiegt. Denen, die dem
Kinde des Armen aus christlicher Nächstenliebe ein Minimum von Schulbil¬
dung als Almosen gewähren wollen, hält Gronlund entgegen, daß man mit
weit größeren Rechte fordern könne, der Staat solle dem Kinde des Armen
ein tägliches Rostbeef mit Plumpudding gewähren; nnr im Sozialistenstaate,
der jedem Kinde vor allem die leibliche Ernährung sichre, habe der allgemeine
Schulunterricht Sinn. Er hätte hinzufügen können, daß frühere Geschlechter
die höchsten Blüten der Geistes- und Herzensbildung gezeitigt haben ohne die
Vuchstabenkuude unsrer Schulen, und daß diese, wie Holtzendorffs englischer
Landsquire so schön ausführt, recht herzlich wenig bedeutet.

Während so. führt Gronlund weiter aus, die Regierungen selbst die
Massen für die wahre und echte Demokratie des zukünftigen Sozialistenstaats
erziehen, beweisen die Kapitalisten seine Durchführbarkeit durch ihre Trusts,
Ninge und Kartelle, mit deren Hilfe sie je nach Bedarf die Produktion ein¬
schränken oder erweitern, die Preise fallen lasten oder hinaufschrauben. Es
dürfte nicht lange mehr währen, und alle Steinkohlenlager der Vereinigten
Staaten werden vier Gesellschaften, d. h, in Wirklichkeit vier Personen gehören,
und diese vier Personen werden es in ihrer Gewalt haben, zu bestimmen, wie
dick Kohle alljährlich gefördert, wo, wann und wie derer sie verkauft werden
soll. Was sind diese Ringe anders als Zentralisirnng der Produktion und
ihre Leitung vou den wenigen Mittelpunkten aus? Und wenn die Produktion
öentralisirt und organisirt werden kann, um durch den Mangel der Vielen die
wenigen zu bereichern, warum sollte sie nicht auch zentralisirt und organisirt
Werden können, um alle ohne Ausnahme reichlich mit Gütern zu versorgen?
Vernunft und Gewissen fordern es gleichmüßig, daß man von dieser die Masse
schädigenden Organisation im Dienste weniger übergehe zu einer Organisation
un Dienste der Gesamtheit, die niemanden schädigt, d. h. also, daß der Staat
d'e Produktion in die Hand nehme.


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[0027] die Kriminalstatistik alljährlich das Gegenteil beweisen läßt, daß aber diesen Beweisen keine Bedeutung beizumessen ist. Wenn ans den Gegenden mit schlechtester Schulbildung, die meistens zugleich auch die ärmsten und die zwei¬ sprachigen sind, mehr „Strafthaten" gemeldet werden, als ans andern mit beßrer Schulbildung, so ist erstens zu bedeuten, daß in einer zweisprachigen Gegend ans Gründen, die auf der Hand liegen, zahlreiche Konflikte mit der .Staatsgewalt" unvermeidlich sind, ohne daß daraus auf eine besondre Bos¬ heit, Sittenlosigkeit und Verderbnis der Bevölkerung geschlossen zu werden braucht, und daß zweitens ein einziger betrügerischer Bankerott großen Stils sowohl in der Niedertracht der Gesinnung wie in Beziehung auf den volks¬ wirtschaftlichen Schaden, den er anrichtet, eintausend bis zehntausend Mund¬ diebstähle, Holz- und Kohlendiebstähle armer Leute, Polizeikontraventioneu von Droschkenkutschern und andern Fuhrleuten, kriminalistisch behandelte Dumme¬ jungenstreiche und andre dergleichen „Strafthaten" aufwiegt. Denen, die dem Kinde des Armen aus christlicher Nächstenliebe ein Minimum von Schulbil¬ dung als Almosen gewähren wollen, hält Gronlund entgegen, daß man mit weit größeren Rechte fordern könne, der Staat solle dem Kinde des Armen ein tägliches Rostbeef mit Plumpudding gewähren; nnr im Sozialistenstaate, der jedem Kinde vor allem die leibliche Ernährung sichre, habe der allgemeine Schulunterricht Sinn. Er hätte hinzufügen können, daß frühere Geschlechter die höchsten Blüten der Geistes- und Herzensbildung gezeitigt haben ohne die Vuchstabenkuude unsrer Schulen, und daß diese, wie Holtzendorffs englischer Landsquire so schön ausführt, recht herzlich wenig bedeutet. Während so. führt Gronlund weiter aus, die Regierungen selbst die Massen für die wahre und echte Demokratie des zukünftigen Sozialistenstaats erziehen, beweisen die Kapitalisten seine Durchführbarkeit durch ihre Trusts, Ninge und Kartelle, mit deren Hilfe sie je nach Bedarf die Produktion ein¬ schränken oder erweitern, die Preise fallen lasten oder hinaufschrauben. Es dürfte nicht lange mehr währen, und alle Steinkohlenlager der Vereinigten Staaten werden vier Gesellschaften, d. h, in Wirklichkeit vier Personen gehören, und diese vier Personen werden es in ihrer Gewalt haben, zu bestimmen, wie dick Kohle alljährlich gefördert, wo, wann und wie derer sie verkauft werden soll. Was sind diese Ringe anders als Zentralisirnng der Produktion und ihre Leitung vou den wenigen Mittelpunkten aus? Und wenn die Produktion öentralisirt und organisirt werden kann, um durch den Mangel der Vielen die wenigen zu bereichern, warum sollte sie nicht auch zentralisirt und organisirt Werden können, um alle ohne Ausnahme reichlich mit Gütern zu versorgen? Vernunft und Gewissen fordern es gleichmüßig, daß man von dieser die Masse schädigenden Organisation im Dienste weniger übergehe zu einer Organisation un Dienste der Gesamtheit, die niemanden schädigt, d. h. also, daß der Staat d'e Produktion in die Hand nehme.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/27>, abgerufen am 23.07.2024.