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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Ausfall gegen einen andern Gelehrten, der es gewagt hatte, seine Ansicht über
Molivres Verhältnis zu Shakespeare als Unsinn zu bezeichnen.

Als er das Kolleg verließ, sah ihn Fräulein Schmidt nicht wieder an,
und doch wäre es ihm lieb gewesen, wenn sie es gethan hätte. Er war schon
ein Stück Weges von der Universität fort, als er plötzlich stehen blieb. Es
schien ihm etwas einzufallen, er kehrte wieder um, ging zum Pedell und ließ
sich die Wohnungsliste der Hospitantinnen geben. Dann eilte er schnell
nach Hause.

Nachmittag saß der Professor vor seinem Arbeitstisch und schrieb an
seinen Bruder in Thüringen, auf dessen Gut er die Ferien zu verbringen und
die Jagden mitzumachen Pflegte. Als er fertig war, zog er seinen bessern
Rock an, wobei er zu Franz sagte: Also es bleibt dabei, zu Michaelis gehen
Sie ab. Dann machte er sich auf den Weg, um Fräulein Schmidt aufzu-
suchen. Unterwegs ging er ins Bahnhofsgebäude, machte dort an der Kasse
eine Besorgung und ging dann weiter.

Fräulein Schmidt wohnte in der Gerbergasfe, einer entlegnen und ziemlich
unsaubern Straße, wo sich die Rangen noch ungestört auf dem Pflaster herum¬
balgten, sich mit Straßenschmutz bombardirten oder den Vetrunknen, die aus
den Schnapsläden torkelten, ein lärmendes Geleite gaben. Knorre schimpfte
sich glücklich durch die Kinderschar und trat in das bezeichnete Haus ein. Er
ging durch den roh gepflasterten Thorweg und fragte einen kleinen Jungen,
der mit dein Daumen im Munde dastand, ob hier ein Frünlein Schmidt wohne.
Der Junge machte ein klägliches Gesicht, dann guckte er nach oben und schrie
nach seiner Mutter. Sofort ertönte vom obersten Stockwerk des Hofgebäudcs
eine kreischende Weiberstimme. Der Professor wiederholte seine Frage, und das
Weib schrie herunter, er möchte nur rauskommen, das Fräulein wohne bei
ihrer Nachbarin.

Knorre trat in das Hinterhaus und fing an, die dunkle, schmale Treppe
emporzuklettern. Im Treppenhause herrschte ein unangenehmer Geruch, wie
nach gekochtem Schellfisch und angebrannter Milch, sodaß Knorre gleich auf
dem ersten Treppenabsatz stehen blieb, sich eine Cigarre ansteckte und sich diese
beim Weitersteigen beständig unter die Nase hielt. Als er aber auf der dritten
Treppe über einen Besen stolperte und auf der vierten über einen Scheuer¬
eimer fiel, sodaß das Gefäß krachend die Stufen hinunterpolterte, da war
es mit seiner Geduld vorbei. Er schimpfte und fluchte so heftig, daß alle
Mieter verdutzt die Köpfe durch die Thürspalte steckten und nach dem Stören¬
fried ihrer idyllischen Ruhe ausschauten.

Auch Fräulein Schmidt hatte ihre Thür geöffnet, sodaß die Treppe
etwas erleuchtet wurde. Sie erkannte sofort den Professor und wurde vor
Schreck, Verlegenheit und Freude ganz rot. Knorre trat in ihr Zimmer und
rief ärgerlich: Hier werdeu Sie nicht einen Tag länger bleiben, das ist ja


Ausfall gegen einen andern Gelehrten, der es gewagt hatte, seine Ansicht über
Molivres Verhältnis zu Shakespeare als Unsinn zu bezeichnen.

Als er das Kolleg verließ, sah ihn Fräulein Schmidt nicht wieder an,
und doch wäre es ihm lieb gewesen, wenn sie es gethan hätte. Er war schon
ein Stück Weges von der Universität fort, als er plötzlich stehen blieb. Es
schien ihm etwas einzufallen, er kehrte wieder um, ging zum Pedell und ließ
sich die Wohnungsliste der Hospitantinnen geben. Dann eilte er schnell
nach Hause.

Nachmittag saß der Professor vor seinem Arbeitstisch und schrieb an
seinen Bruder in Thüringen, auf dessen Gut er die Ferien zu verbringen und
die Jagden mitzumachen Pflegte. Als er fertig war, zog er seinen bessern
Rock an, wobei er zu Franz sagte: Also es bleibt dabei, zu Michaelis gehen
Sie ab. Dann machte er sich auf den Weg, um Fräulein Schmidt aufzu-
suchen. Unterwegs ging er ins Bahnhofsgebäude, machte dort an der Kasse
eine Besorgung und ging dann weiter.

Fräulein Schmidt wohnte in der Gerbergasfe, einer entlegnen und ziemlich
unsaubern Straße, wo sich die Rangen noch ungestört auf dem Pflaster herum¬
balgten, sich mit Straßenschmutz bombardirten oder den Vetrunknen, die aus
den Schnapsläden torkelten, ein lärmendes Geleite gaben. Knorre schimpfte
sich glücklich durch die Kinderschar und trat in das bezeichnete Haus ein. Er
ging durch den roh gepflasterten Thorweg und fragte einen kleinen Jungen,
der mit dein Daumen im Munde dastand, ob hier ein Frünlein Schmidt wohne.
Der Junge machte ein klägliches Gesicht, dann guckte er nach oben und schrie
nach seiner Mutter. Sofort ertönte vom obersten Stockwerk des Hofgebäudcs
eine kreischende Weiberstimme. Der Professor wiederholte seine Frage, und das
Weib schrie herunter, er möchte nur rauskommen, das Fräulein wohne bei
ihrer Nachbarin.

Knorre trat in das Hinterhaus und fing an, die dunkle, schmale Treppe
emporzuklettern. Im Treppenhause herrschte ein unangenehmer Geruch, wie
nach gekochtem Schellfisch und angebrannter Milch, sodaß Knorre gleich auf
dem ersten Treppenabsatz stehen blieb, sich eine Cigarre ansteckte und sich diese
beim Weitersteigen beständig unter die Nase hielt. Als er aber auf der dritten
Treppe über einen Besen stolperte und auf der vierten über einen Scheuer¬
eimer fiel, sodaß das Gefäß krachend die Stufen hinunterpolterte, da war
es mit seiner Geduld vorbei. Er schimpfte und fluchte so heftig, daß alle
Mieter verdutzt die Köpfe durch die Thürspalte steckten und nach dem Stören¬
fried ihrer idyllischen Ruhe ausschauten.

Auch Fräulein Schmidt hatte ihre Thür geöffnet, sodaß die Treppe
etwas erleuchtet wurde. Sie erkannte sofort den Professor und wurde vor
Schreck, Verlegenheit und Freude ganz rot. Knorre trat in ihr Zimmer und
rief ärgerlich: Hier werdeu Sie nicht einen Tag länger bleiben, das ist ja


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/192>, abgerufen am 26.06.2024.